Dtsch Med Wochenschr 2017; 142(19): 1405
DOI: 10.1055/s-0042-109212
Editorial
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Arterielle Hypertonie – Neues zu Diagnostik und Therapie

New aspects in hypertension and antihypertensive therapy
Martin Middeke
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Publication Date:
22 September 2017 (online)

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Prof. Dr. med. Martin Middeke

Das Mantra „primäre = essenzielle Hypertonie = Ursache unbekannt“ steht tatsächlich noch in Lehrbüchern und wird auch noch von Experten rezitiert. Hat die hypertensiologische Forschung in den letzten Jahrzehnten denn tatsächlich nichts zur Klärung beitragen können? Im Gegenteil: Die optimale Blutdruckmessung mit den modernsten Methoden zur korrekten Klassifizierung der Hypertonieform und zur individuellen Charakterisierung der Blutdrucksituation des einzelnen Patienten sind die wichtigsten Voraussetzungen für die Ursachenfindung und auch für jede therapeutische Entscheidung.

Die isolierte systolische Hypertonie (ISH) ist mit > 75 % die häufigste Hypertonieform bei über 70-Jährigen. Sie ist Folge der mit dem Alter zunehmenden arteriellen Gefäßsteifigkeit, die zur erhöhten Reflektion der Druckwelle und damit zur Augmentation des systolischen Blutdruckes führt. Dagegen ist die juvenile ISH meist bedingt durch eine starke Amplifikation der Druckwelle von der Brustaorta zum Messpunkt in der Brachialarterie. Betroffen sind insbesondere große, schlanke sportliche Jugendliche und junge Erwachsene. Die Amplifikation ist Ausdruck einer besonderen Gefäßelastizität und/oder eines erhöhten Schlagvolumens bei niedrigem zentralem aortalem Blutdruck (s. S. 1430). Die Prognose ist gut und eine blutdrucksenkende Therapie nicht erforderlich! Eine Differenzierung zwischen gutartiger Amplifikation und unguter Augmentation gelingt mit der modernen Pulswellenanalyse. Diese Methode ist der größte Fortschritt seit der Einführung der ambulanten Langzeitmessung (ABDM) zur Charakterisierung der Tag-Nacht-Rhythmik in der optimalen Charakterisierung der Hochdruckform und der Risikostratifizierung (s. S. 1461). Mit der ABDM kann eine Praxishypertonie ausgeschlossen werden und eine maskierte Hypertonie aufgedeckt werden. Letztere ist die klassische Form der Stress induzierten Hypertonie im mittleren Lebensalter mit erhöhten Werten im Arbeitsalltag aber normalen Blutdruck in der Praxis.

Die Behandlungsqualität konnte in Deutschland im letzten Jahrzehnt zwar deutlich verbessert werden und ist im internationalen Vergleich inzwischen relativ gut, aber immer noch nicht ausreichend mit „viel Luft nach oben“, um z. B. die Schlaganfallhäufigkeit weiter zu senken. Nach wie vor sind sowohl Unter- als auch Überversorgung zu beobachten:

  • Einerseits sind ca. 50 % der Patienten mit hohem Blutdruck bei uns nicht ausreichend behandelt,

  • andererseits werden Patienten mit hypertensiver Krise sehr häufig unnötigerweise stationär behandelt.

Die hypertensive Krise ist eine der häufigsten stationären Einweisungsdiagnosen. Die Differenzierung zwischen Krise und Notfall ist unzureichend und produziert unnötige Kosten, ohne eine nachhaltige Verbesserung der Behandlungssituation der Betroffenen zu erreichen. Der Dossier-Beitrag ab S. 1437 zeigt dieses Dilemma auf und gibt praktische Hilfestellung im Umgang mit den betroffenen Patienten.

Der angestrebte Zielblutdruck hängt von Alter, Begleiterkrankungen und dem kardiovaskulären Gesamtrisiko ab. Daher gibt es kein einheitliches Therapieziel für alle Patienten. Dieses muss stets individuell definiert werden wie in anderen Bereichen auch. Die Publikation der etwas „eigenwilligen“ SPRINT-Studie hat die Diskussion um den Zielblutdruck unter antihypertensiver Behandlung sehr belebt. Eine gelungene Exegese der aktuellen Studien zu dem Thema – einschließlich der Bestätigung der J-Kurve – finden Sie im Beitrag ab S. 1420.

Eine aktuelle Stellungnahme der Deutschen Hochdruckliga/Deutsche Hypertoniegesellschaft zum Zielblutdruck finden Sie ebenfalls in diesem Heft.