Z Sex Forsch 2016; 29(03): 250-254
DOI: 10.1055/s-0042-114439
Tagungsbericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sick of hiding!

Bericht von der 2. Jahrestagung des European Network for Psychosocial Studies in Intersex (EuroPSI)
Ute Lampalzer
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Katinka Schweizer
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
26 September 2016 (online)

Am 27. und 28. November 2015 fand in Wien die zweite Jahrestagung des noch jungen europäischen Netzwerkes EuroPSI statt. EuroPSI steht für European Network for Psychosocial Studies in Intersex/dsd (diverse sex development). Es wurde von den Intersex-Forscher_innen und Psycholog_innen Franco D’Alberton (Bologna), Lih-Mei Liao (London), Hertha Richter-Appelt (Hamburg), Katrina Roen (Oslo) und Margret Simmonds (UK Androgen Insensitivity Support Group, AISSG) ins Leben gerufen. Der Website dieses Netzwerkes von professionell Tätigen im psychosozialen Intersex-Feld (www.europsi.org) sind Hintergrund und Ziele der 2013 in Hamburg initiierten jährlichen Tagungen zu entnehmen. Im Zentrum stehen das Wohlergehen von Menschen mit verschiedenen Formen von Intersexualität und das Eintreten für psychosoziale Beratung vor der Entscheidung über irreversible, normalisierende medizinische Eingriffe: „Effective psychosocial support should be in place before families and individuals are confronted with normalising interventions“. Entsprechend ist ein Anliegen der Jahrestagungen, Austausch, Gespräch und Reflexion zu fördern. Neben der Arbeitsgruppe „Public Engagement“, die das jährliche Treffen organisiert, gibt es derzeit drei weitere Arbeitsgruppen mit den Schwerpunkten Forschung, Klinische Versorgung und Weiterbildung:

  • Research innovation: Focusing on doing, promoting and using psychosoical research relating to intersex/dsd (Weiterentwicklung in der Forschung: Umsetzung, Förderung und Anwendung psychosozialer Forschung im Bereich Intergeschlechtlichkeit),

  • Clinical excellence: Contributing to the development and promotion of psychosocially-informed clinical approaches (Klinische Kompetenz: Entwicklung und Förderung von psychosozial geprägten klinischen Ansätzen),

  • Professional education: Contributing to the translation of psychosocial understandings about intersex/dsd for inclusion in health professionals‘ training (Fachliche Aus- und Weiterbildung: Vermittlung psychosozialer Verstehensweisen bei Intergeschlechtlichkeit in der Aus- und Weiterbildung zu Gesundheitsberufen).

Auf die erste EuroPSI-Tagung in London im September 2014 folgte nun ein kontinentaleuropäisches Treffen im Allgemeinen Krankenhaus (AKH) Wien. Die Gastgeberinnen Brigitte Hackenberg und Jenny Kernreiter hatten die Tagung zusammen mit der EuroPSI-Steuerungsgruppe und Tove Lundberg aus der Arbeitsgruppe „Public Engagement“ geplant.

Im Sinne einer Pre-conference tagten am Nachmittag bereits drei Arbeitsgruppen. Den Eröffnungsvortrag aus der Perspektive einer Psychosomatikerin für Kinder und Jugendliche hielt Brigitte Hackenberg in Vertretung für Leonhard Thun Hohenstein zum Thema „What can we learn from changing perspectives? Looking at intersex from a transgender perspective“. Transgender und Intersex würden beide einen multimodalen, multidisziplinären und multiaxialen diagnostischen Prozess erfordern. Wichtig sei dabei eine Hauptansprechperson als Koordinator_in, die_der gemeinsam mit dem Kind, der Familie und den beteiligten Spezialist_innen nötige und unnötige Interventionen plane und bespreche. Auch der nächste Vortrag der Philosophin Cynthia Kraus von der Universität Lausanne knüpfte an die Trans*-Inter*-Gegenüberstellung an, hob aber vor allem auf Unterschiede ab. Kraus stellte die Frage: „Gender Dysphoria with and without a DSD: A psychiatric diagnosis for what and for whom?“. Sie kritisierte die Neuerung des DSM-5, wonach Intersexualität, hier als „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ (disorders of sex development, DSD) bezeichnet, nun als Spezifizierung im Rahmen der Diagnose einer Geschlechtsdysphorie anzuführen sei. Im DSM-IV hatte das Vorliegen einer Intersex-Form noch als Ausschlusskriterium für die Diagnose einer sog. Geschlechtsidentitätsstörung gegolten. Kraus argumentierte, dass das neue Kriterium dazu geführt habe, dass Intergeschlechtlichkeit nun integraler Bestandteil einer psychiatrischen Diagnose sei – mit dem damit in Kauf genommenen Risiko der Stigmatisierung. Sie führte aus, dass zudem gemäß der Definition des DSM-5 nicht nachvollziehbar sei, auf welches Referenzgeschlecht sich eine Geschlechtsdysphorie bzw. Geschlechtsinkongruenz beim Vorliegen von Intersexualität überhaupt beziehen solle – ob auf körperliche Gegebenheiten oder auf das nach der Geburt zugewiesene soziale Geschlecht. Für bedenklich hielt Kraus eine Überschneidung in der klinischen Versorgung von Intergeschlechtlichkeit und Transgender-Anliegen, da beide Gruppen sich doch sehr in ihren Positionen unterschieden, insbesondere hinsichtlich des Zugangs, Timings und Wunsches nach medizinischen „geschlechtsangleichenden“ Eingriffen.

Am Samstagvormittag gaben Tove Lundberg und Katinka Schweizer einen Jahresbericht über die zurückliegenden Aktivitäten der EuroPSI Steuerungsgruppe. Der weitere Tagungsablauf sah drei Symposien zu den Themenfeldern Elternerfahrungen, klinische Arbeit und Beratungsangebote und Forschungsperspektiven vor, sowie einen endokrinologischen Vortrag und ein Interview mit Alex Jürgen, dem_der österreichischen Künstler_in und Intersex-Aktivist_in. Stefan Riedl von der Universität Wien berichtete in seinem Vortrag „Medical aspects and psychosocial challenges in paediatric endocrinological care“ von Erfahrungen und Konfliktsituationen aus seiner Spezialambulanz. Erfreulicherweise ließ das Tagungsklima eine kontroverse fachliche Diskussion zu, in der Fragen konkretisiert und ausformuliert und Dilemmata beim Namen genannt werden konnten und nicht verleugnet wurden. Im Hinblick auf die Frage nach der Notwendigkeit von Gonadektomien, d. h. der Entfernung von Keimdrüsen, bei verschiedenen Intersexformen, wurde die Frage gestellt, wie sehr hier insbesondere bei bestimmten kulturellen Hintergründen der Befürwortung durch die Eltern nachgekommen werden solle oder nicht. Auch wurde hinterfragt, ab wann ein Entartungsrisiko als hoch eingestuft werde – vor allem vor dem Hintergrund, dass dem Entartungsrisiko die Risiken der bisher nur unzureichend erforschten langfristigen Hormontherapie gegenüberzustellen seien. Vertieft wurde die sehr konkrete Kontroverse um soziale und medizinische Geschlechtszuweisungen beim sog. Adrenogenitalen Syndrom (AGS) und den sog. Androgenbiosynthesestörungen wie dem 17β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase-Mangel. Der Diskussionsbedarf war enorm, viele Fragen blieben offen.

Im Symposium „Approaches to parental experiences“ schilderte zunächst Julia M. Kriegler auf sehr persönliche Weise ihre Erfahrungen als Mutter eines intergeschlechtlichen Kindes. Nach und nach habe sie insbesondere mit Hilfe ihres Kindes gemerkt, dass Geheimhaltung kein gangbarer Weg sein könne. Das offene Sprechen über Intergeschlechtlichkeit habe nach anfänglicher Unsicherheit und fehlender Vorbereitung schließlich zu vielfachen positiven Erfahrungen geführt, sei es mit Nachbar_innen, Lehrer_innen und anderen Kindern. Kriegler mahnte insgesamt eine offene Haltung an und empfahl den psychosozialen Expert_innen, Eltern solle man mit auf den Weg geben, dass sie Zeit brauchen würden, um ihr Kind kennenzulernen. Dann aber werde es ihnen von selbst zeigen, wer es ist. Die beiden Wissenschaftlerinnen Limor M. Danon von der Hebräischen Universität Jerusalem und Anike Krämer von der Ruhr-Universität Bochum stellten anschließend ihre Studie zu elterlichen Strategien im Umgang mit den intergeschlechtlichen Körpern ihrer Kinder vor („Between concealing and revealing intersexed bodies“). Ziel des noch laufenden sozialwissenschaftlichen Projekts sei die Untersuchung der Sprache, in der Eltern und ihre Kinder über den intergeschlechtlichen Körper sprechen, der Art und Weise, wie kindliches Verhalten geschlechtlich gedeutet werde und der Frage, inwieweit Verheimlichung bzw. Offenheit jeweils auch vom sozialen Umfeld beeinflusst werden.

Das zweite Symposium „Clinical work and Counselling services“ eröffnete die Psychologin Prue Fisher aus Auckland/Neuseeland. Sie sprach im Kontext der primären Gesundheitsversorgung über ihre Arbeit mit verschiedenen Gruppen von Frauen im Umgang mit der eigenen Sexualität. Unter anderem berichtete sie von ihren Erfahrungen aus der Beratung intergeschlechtlicher Frauen mit relativ kurzer Vagina, die den Wunsch nach penetrativem Geschlechtsverkehr haben, jedoch Maßnahmen im Vorfeld wie das Dehnen der Vagina mithilfe von Dilatoren ablehnten. Hier habe sich bewährt, die Frauen dabei zu begleiten, ihre Wünsche genauer zu verstehen, vergangenen Erfahrungen von sexueller Lust und Intimität nachzugehen, ggf. alternative Wege des Lustempfindens zu entdecken und damit vielfältige Zugänge zu subjektivem Wohlbefinden zu erforschen, die auf die individuellen Körper zugeschnitten seien, auch wenn dies nicht mit heteronormativen Vorstellungen einhergehe. Nachfolgend berichtete die Psychologin Maria I. Colombini aus Mailand von den Erfahrungen ihres Teams mit der Einrichtung von Balint-Gruppen zur Unterstützung von Eltern von Kindern mit Intergeschlechtlichkeit. In Anlehnung an das ursprünglich für ärztliche Arbeitsgruppen entwickelte Balint-Gruppen-Modell sei jede Sitzung so aufgebaut, dass ein Elternteil ein Anliegen präsentiere, das dann den Ausgangspunkt für die anschließende Diskussion liefere. Edukative Elemente würden gezielt ausgeklammert. Im Mittelpunkt stehe das offene Teilen von Erfahrungen ohne Bewertungen. Ein Hauptthema der Gruppen seien immer wieder die Ängste und Befürchtungen der Eltern bezüglich der Kommunikation mit ihrem Kind über dessen „medizinische Geschichte“. Colombini berichtete, dass die meisten Eltern angaben, diese ihren Kindern zu verheimlichen. Manchmal werde teilweise, aber nur sehr selten werde offen über die medizinischen Erfahrungen mit den Kindern gesprochen. Der gegenseitige Austausch und die emotionale Unterstützung in der Gruppe hätten dazu beitragen können, dass die Eltern gestärkt würden, auch gegenüber ihren Kindern eine stärkende, positive und Mut machende Position einzunehmen.

Der vorletzte Programmpunkt der Tagung war für die Vorstellung aktueller Forschungsprojekte vorgesehen. Ute Lampalzer aus Hamburg stellte erste Ergebnisse einer vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebenen Studie zum Beratungs- und Unterstützungsbedarf bei Intergeschlechtlichkeit in Deutschland vor. Inzwischen liegt die Dokumentation der Befragungsergebnisse vor, die den Mangel an vorhandenen Angeboten und den großen Bedarf an gesellschaftlicher Aufklärung, fachlicher Weiterbildung für involvierte Berufsgruppen, einer Verbesserung der Strukturen und Vernetzung und die nötige Förderung von Selbsthilfe und politischen Maßnahmen aufzeigen. Anschließend stellte Jenny Kernreiter, Doktorandin an der Medizinischen Universität Wien, ihr Forschungsvorhaben vor: Sie plane, Eltern von Kindern mit Intergeschlechtlichkeit und Kinder mit Intergeschlechtlichkeit zu befragen, um die Bedeutung des jeweiligen subjektiven Verständnisses von Diagnose und Behandlung in der Kommunikation zwischen den Beteiligten zu untersuchen, und herauszufinden, wie ein solches Verständnis hergestellt oder verfehlt werden kann, und welche Folgen dies für das psychische Wohlbefinden habe. Arianne Dessens aus Rotterdam wies auf die im Rahmen des Europäischen Forschungsverbundes DSDnet durchgeführte Befragung zu Forschungsbedarfen und –perspektiven bei Intersexualität hin. Peter Hegarty und David Griffiths von der Universität Surrey in Guilford/UK berichteten über ein kürzlich bewilligtes umfangreiches Forschungsprojekt zur jüngeren und gegenwärtigen Geschichte im Umgang mit Intersexualität in Medizin und Gesellschaft in Großbritannien. Zugleich sprachen sie als zukünftige Gastgeber die Einladung zur nächsten Jahrestagung von EuroPSI aus, die im Rahmen eines größeren Symposiums zum Thema „After the Recognition of Intersex Human Rights“ vom 23. bis 24. September 2016 in Surrey/UK stattfinden wird.

Der Abschluss der Tagung gab noch einmal Raum für das Gespräch und Zuhören. Er sollte, ganz im Sinne des Gründungsanliegens von EuroPSI, im Zeichen des Respekts vor dem Erfahrungswissen von Expert_innen in eigener Sache stehen. Ein via Skype geführtes und trotzdem lebhaftes Gespräch fand zwischen Alex Jürgen und Katinka Schweizer statt. Alex Jürgen, u. a. Protagonist_in des Films „Tintenfischalarm“, war eingeladen worden, um von seinen_ihren Erfahrungen als Künstler_in, Autor_in, Patient_in und Intersex-Aktivist_in in Österreich zu erzählen. Erneut ging es um das Thema Offenheit vs. Verheimlichung. Auch Alex Jürgen berichtete, dass er_sie sich kein Leben ohne Offenheit mehr vorstellen könne. „I am sick of hiding!“ – lautete die griffige Begründung, die auch auf die krank machende Wirkung des Sich-Versteckens verweist. Auf die Frage nach einer angemessenen Terminologie für körpergeschlechtliche Variationen führte Alex Jürgen aus, dass er_sie als Selbstbezeichnung das durchaus auch diskriminierend verwendete Wort „Zwitter“ verwende – unter anderem auch deshalb, um die Konnotation von Sexualität und „Bettgeschichten“ zu vermeiden. Jürgens Aussage, dass es unmöglich sei, ein Wort zu finden, mit dem jede Inter*-Person glücklich sei, machte noch einmal die Schwierigkeit deutlich, eine geeignete Sprache zu finden. Selbstakzeptanz hob Alex Jürgen als eine relativ neue und sehr wichtige eigene Erfahrung hervor. Am schwierigsten für ihn_sie sei es allerdings immer wieder, den eigenen Körper zu akzeptieren – und nie zu wissen, wie dieser ohne Operationen sein würde bzw. einmal gewesen sein mag. Allen Intersex-Kindern solle man Selbstvertrauen mit auf den Weg geben – im Sinne von „ich kann mehr als männlich und weiblich sein“. Eltern solle man versichern, dass ihr Kind vollkommen gesund sei, beispielsweise mit einfachen Sätzen wie „es ist ein spezielles Kind, aber machen Sie sich keine Sorgen“. Auch appellierte er_sie daran, der Familie jedwede psychosoziale Unterstützung zukommen zu lassen. Denn in einer binären Welt sei Intergeschlechtlichkeit ein psychosozialer Risikofaktor: Im gesellschaftlichen Raum (z. B. öffentliche Toiletten), in den Lehrplänen von Mediziner_innen, in rechtlichen Angelegenheiten wie Heirat usw. sei Inter* nicht vorgesehen. Mehr zufällig aus dem Gesprächsverlauf heraus, und gleichzeitig sehr geeignet als Appell an einen offenen Umgang mit körperlicher und geschlechtlicher Vielfalt, formulierte Alex Jürgen schließlich: „I think everybody has his_her own sex“.

Insgesamt war die Tagung von lebendigem Austausch und offenen Begegnungen geprägt. Sie trägt dazu bei, dass EuroPSI als internationales und transdisziplinäres Netzwerk psychosozialer Forscher_innen und Versorger_innen – so wie das Themenfeld Intersex an sich – zunehmend sichtbarer wird.