Zusammenfassung
Aufgrund der deutlich verbesserten Industriemilchprodukte war man in den 1960er/frühen
70er Jahren in der BRD weitgehend davon überzeugt, dass Muttermilch selbst für das
Gedeihen von Frühgeborenen nicht mehr notwendig war. Heute steht die Überlegenheit
der Muttermilch wieder außer Frage und Fortschritte in der Neonatologie haben eine
wachsende Zielgruppe geschaffen, für die menschliche Milch deutliche Vorteile hat,
besonders hinsichtlich eines verbesserten Outcomes. Aktuell lässt sich ein Comeback
der Frauenmilchbanken (FMB) beobachten. Weltweit gibt es ca. 500, 15 in Deutschland.
Bis in die 1960er Jahren war Muttermilch in der deutschen Pädiatrie das bevorzugte
Mittel gegen die Säuglingssterblichkeit. Um den Bedarf an Frauenmilch zu decken, propagierten
Ärzte im Kaiserreich und der Weimarer Republik das Stillen und nutzten in den Kliniken
Ammen. Erste Frauenmilchsammelstellen (FMS) entstanden; in der NS-Zeit gab es Dutzende.
Die DDR hielt an FMS fest, in der BRD wurden sie in den 70er Jahren geschlossen. Die
Geschichte der FMB wurde nicht nur durch wissenschaftliche Erkenntnisse geprägt, sondern
auch durch Kultur, Politik und Wirtschaft. Im Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit
vermischten sich im Kaiserreich und der Weimarer Republik soziale, nationale und eugenische
Überlegungen. In der NS-Zeit wurde Frauenmilch gezielt zur Stärkung der „erbgesunden“
Teile der „deutschen Volksgemeinschaft“ eingesetzt. Massive Werbung der Babynahrungsindustrie
in der BRD und öffentliche Debatten über Umweltgifte und HIV/AIDS verstärkten Zweifel
an den Vorteilen der natürlichen Ernährung. Die Planwirtschaft, das staatlich gelenkte
Gesundheitssystem und die zensierten Medien trugen maßgeblich dazu bei, dass die DDR
an FMS festhielt.
Abstract
In the 1960s/early 70s there was a widespread conviction in West Germany that mother’s
milk was no longer essential even for premature infants given the availability of
improved industrial milk products. But today the superiority of human milk is again
undisputed, and progress in neonatology has created a growing target group of extremely
premature infants who show clear benefits from being fed with human milk, particularly
regarding improved outcomes. Currently there is a revival of donor milk banks (FMB).
Globally there are around 500, 15 in Germany. Until the 1960s, mother’s milk was the
preferred means of German pediatricians to counter infant mortality. During the German
Empire and the Weimar Republic doctors widely recommended nursing and engaged wet
nurses to meet the demand for human milk and the first donor milk banks were set up;
during the Nazi regime there were dozens. The GDR continued using donor milk, while
FRG milk banks were shut down in the 70s. The history of milk banks has been shaped
not only by science, but also by culture, politics and economics. In the German Empire
and the Weimar Republic, social, national and eugenic considerations became intertwined
in the struggle against infant mortality. In Nazi Germany human milk was used to strengthen
the “German Volksgemeinschaft” (“community of the German people”), particularly individuals
who were considered as “erbgesund” (“hereditarily healthy”). Massive advertising of
the baby food industry in the West and public debate about pollutants and HIV/AIDS
increased doubts about the advantages of natural feeding. In East Germany the planned
economy, state health system and censored media significantly contributed to the survival
of milk banks.
Schlüsselwörter
Frühgeborene - Mortalität - Neonatologie - Ernährung - Frauenmilchbank - Medizingeschichte
Key words
premature birth - mortality - neonatology - breast feeding - human milk bank - history
of medicine