Allgemeine Homöopathische Zeitung 2016; 261(06): 21-22
DOI: 10.1055/s-0042-118204
Spektrum
Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart

Pro und Kontra einer „natürlichen Systematik“ der Materia medica

Jürgen Hansel
,
Stefan Reis
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Publication Date:
22 December 2016 (online)

Zusammenhänge zwischen verschiedenen Arzneimitteln der homöopathischen Materia medica können in mehreren Aspekten gesehen werden:

  • die Betrachtung der Wirkungsähnlichkeit,

  • die Indikationsbereiche (angefangen mit der Einteilung in antipsorische und apsorische Mittel, die Hahnemann vorgenommen hat),

  • die „natürliche Verwandtschaft“ der Ausgangsstoffe.

Weitere Ähnlichkeiten unter den Mitteln wurden schon zu Gruppenbildungen herangezogen (z.B. Dorcsis kalt/warm oder rot/blass) oder sind denkbar.

Gerhard Bleul: Macht es Sinn, Arzneimittel aus einer botanischen Familie oder einer zoologischen Gruppe oder einem besonderen Lebensraum gemeinsam zu studieren?

Antwort Pro, Jürgen Hansel: Das Ähnlichkeitsprinzip als Grundpfeiler der homöopathischen Praxis legt es nahe, sich auch mit natürlichen Ähnlichkeiten von Arzneistoffen zu befassen. Das Studium chemischer, botanischer oder zoologischer Verwandtschaften hat gezeigt, dass Gruppen wie die Halogene, die Solanazeen oder die Schlangengifte auch ähnliche Arzneimittelsymptome aufweisen, aus denen sich gemeinsame Themen bilden lassen.

Antwort Kontra, Stefan Reis: Hier kommt es meines Erachtens darauf an, welchen Zweck ein Arzneistudium erfüllen soll. Wenn eine Fallanalyse (z.B. eine Repertorisation) mehrere Arzneien als mögliche Simile vorschlägt, sind diese zu studieren, völlig unabhängig von einer etwaigen Verwandtschaft, die über die offenbare (nämlich symptomatische) hinausgeht. Beim „allgemeinen“ MM-Studium dagegen ist es natürlich eine mögliche Strategie, andere, wie beispielsweise in der Fragestellung erwähnte Verwandtschaftsbeziehungenfür ein vergleichendes Studium heranzuziehen.

Was sind die Gefahren einer solchen Einteilung?

Antwort Pro, Jürgen Hansel: Die Arbeit mit natürlichen Verwandtschaften kann dazu verführen, den direkten Vergleich von Patientensysmptomen und Prüfsymptomen einer Arznei über das Repertorium und die Materia medica zu vernachlässigen.

Antwort Kontra, Stefan Reis: So lange man nicht einer Arznei Indikationen, Wirkungen oder Symptome unterstellt, weil beispielsweise botanisch verwandte Stoffe diese aufweisen, sehe ich darin keine Gefahr. Aber, ehrlich gesagt, auch wenig Sinn.

Sind andere Arten einer Systematik der Materia medica sinnvoll?

Antwort Pro, Jürgen Hansel: Jede Systematik, die – wie die Beispiele im Vorspann zu den Fragen – auf dem Ähnlichkeitsprinzip beruht, kann sinnvoll sein.

Antwort Kontra, Stefan Reis: Die Frage ist meines Erachtens, ob eine Systematik der Materia medica überhaupt vonnöten ist? Meines Erachtens würde jede denkbare Systematik stets nur einen Teilaspekt der Mittel bzw. der jeweiligen Mittelgruppe abdecken, während andere Aspekte wiederum eine andere Systematik erfordern würden.

Kann im praktischen Fall der mangelhaften Wirkung eines anscheinend gut gewählten Mittels eine irgendwie geartete Verwandtschaftsbeziehung die Wahl der Folgearznei fördern? Wenn ja, welche Art von Beziehung kann es sein, welche sollte es nicht sein?

Antwort Pro, Jürgen Hansel: Wenn eine Arznei gut wirkt, die Wirkung aber nicht dauerhaft und nicht reproduzierbar ist oder nicht tief genug geht, ist nach meiner Erfahrung eine ähnliche Arznei, häufig aus der gleichen natürlichen Gruppe, angezeigt.

Antwort Kontra, Stefan Reis: Auf gar keinen Fall, es sei denn, dass man unter „Verwandtschaft“ dasselbe versteht wie seinerzeit Clemens von Bönninghausen (der diesen Begriff ja auch in die Homöopathie eingeführt hat) – nämlich eine rein symptomatische. Das bedeutet dann aber auch, dass man anstelle des zunächst falsch gewählten Mittels dasjenige wählt, das diesem am ähnlichsten ist. Da sind dann aber vorab geführte Überlegungen zu möglicherweise oder „auf dem Papier“ ähnlichen oder Vergleichsmitteln obsolet. Es sollte ausschließlich die patientenseitige Symptomatik sein, die Arzneien als mehr oder weniger ähnlich erscheinen lassen.

Kann eine „natürliche Systematik“, also eine Anlehnung der Materia-medica-Systematik an chemische oder biologische Systeme zum Auffinden neuer, noch wenig oder nicht bekannter Arzneimittel führen?

Antwort Pro, Jürgen Hansel: Diese Erfahrung habe ich in der Tat vor allem bei der Arbeit mit dem Periodensystem nach Scholten und mit Sankarans Systematik von Pflanzenfamilien und Miasmen gemacht.

Antwort Kontra, Stefan Reis: Es kommt darauf an, was unter „Auffinden“ zu verstehen ist. Wenn es darum geht, die Materia medica durch bislang unbekannte Arzneimittel zu erweitern, kann eine chemische oder biologische Verwandtschaft selbstverständlich Anregungen liefern. Diese neuen Arzneimittel müssten dann aber einer Arzneimittelprüfung unterzogen werden. Meint man mit „Auffinden“ dagegen die Arzneiwahl im Krankheitsfall, halte ich dieses Vorgehen für spekulativ, zumal sich andere Strategien der Similefindung bewährt haben.

Kann man die Wirkung homöopathischer Arzneimittel, die nicht geprüft oder noch gar nicht bekannt sind, anhand gewisser Verwandtschaftsbeziehungen voraussagen?

Antwort Pro, Jürgen Hansel: Die in der letzten Antwort genannten „Koordinatensysteme“ von Mineralien und Pflanzen haben eine solche Voraussage für eine Reihe von Arzneien ermöglicht. Entscheidend ist, dass solche Voraussagen in der Praxis verifiziert oder falsifiziert werden. Der wiederholte Erfolg in der Praxis entscheidet darüber, ob solch eine ungeprüfte, unbekannte Arznei in die Materia medica aufgenommen werden kann.

Antwort Kontra, Stefan Reis: Das mag in groben Zügen möglich sein, vor allem in Hinblick auf toxische Symptome. Das sieht man beispielsweise an der Krampfneigung bei Ignatia und Nux vomica, die man auf den Strychningehalt der beiden Pflanzen zurückführen kann. Man kann aber gerade an diesem Beispiel auch sehr gut erkennen, wie viel völlig unvorhersehbare und sich zum Teil sogar widersprechende Eigensymptome ein jedes dieser botanisch eng verwandten Arzneimittel erzeugt. Ähnlich hat sich auch Clemens von Bönninghausen bereits 1835 zu den Unterschieden zwischen Ran-b. und Ran-s., Viol-o. und Viol-t. und anderen Angehörigen gleicher Familien geäußert (s. sein Vorwort zu: „Systematisch-Alphabetisches Repertorium der nicht-antipsorischen Arzneien“, S. XV).

Warum nutzen Sie eine Systematik der MM bzw. warum lehnen Sie sie ab?

Antwort Pro, Jürgen Hansel: Die Anwendung einer solchen Systematik ist eine zusätzliche methodische Option, gerade wenn die klassische homöopathische Methodik nicht zum Erfolg führt. Andererseits erhöht es die Verordnungssicherheit, wenn klassische und moderne Instrumente und Methoden zum gleichen Ergebnis führen.

Antwort Kontra, Stefan Reis: Ich denke, dass das aus den obigen Antworten hervorgeht.

Die Fragen stellte Gerhard Bleul . Geantwortet haben