Der Klinikarzt 2016; 45(11): 503
DOI: 10.1055/s-0042-118691
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Fluch der Information

Only bad news is good news. (Alte Journalistenregel)
Günther J Wiedemann
Ravensburg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
29. November 2016 (online)

Im Oktober 2013 erschienen im British Medical Journal zwei Beiträge, in denen der Nutzen einer Statintherapie für Patienten mit geringem kardiovaskulärem Risiko angezweifelt wurde. Im Sinne einer Risk-Benefit-Analyse ging es darum, ob bei Patienten mit geringem oder intermediärem Risiko die unerwünschten Wirkungen der Statine stärker ins Gewicht fielen als ihre positiven Effekte. Die Debatte wurde in den britischen Publikumsmedien (und später auch in vielen anderen Ländern) aufgenommen, im Juni 2014 erreichte die Berichterstattung in allen Medien ihr Maximum. Doch welche Auswirkungen hat so etwas auf die betroffenen Patienten? Dieser Frage gingen in einem Gemeinschaftsprojekt verschiedene Arbeitsgruppen aus Großbritannien und den Niederlanden nach [1], darunter auch Wissenschaftler aus einer Londoner Einrichtung mit dem schönen Namen „Department of Non-Communicable Diseases Epidemiology“. Krankheiten, die nicht kommunizierbar sind? Dass es so etwas gibt, würde wohl kein Journalist unterschreiben, auch wenn so mancher Arzt das insgeheim denken mag.

Was also geschah nach der Verbreitung der Information über den fraglichen Nutzen der Statine? Gut jeder zehnte Patient, der Lipidsenker nahm, setzte sie ab – und das galt sowohl für die Einnahme zur Primär- als auch zur Sekundärprävention. Auch in anderen Ländern wurden ähnliche Effekte beobachtet. In Dänemark holten sich Patienten nach Beginn einer Statintherapie seltener eine Zweitverordnung, wenn die Medien kritisch berichteten, in Australien setzten nach einer kontroversen TV-Debatte sogar fast 29 % der Patienten ihre Medikamente ab.

Ist das nun gut oder schlecht? Gut ist mit Sicherheit, dass Patienten nicht verschwiegen wird, dass in einigen Bereichen der Medizin kontrovers über Sinn und Unsinn diagnostischer (man denke an das PSA-Screening) oder therapeutischer Maßnahmen diskutiert wird. Patienten haben ja manchmal zu Recht den Eindruck, dass ihre Ärzte die Segnungen einer Therapie stärker betonen als mögliche adverse Effekte [2]. Auch die Berichterstattung in den Medien neigt dazu, in diesem Fall sind im Gegensatz zur gängigen Journalistenregel offenbar nur „good news“ wirklich „good news“, Nachzulesen ist so etwas auf der empfehlenswerten Website www.healthnewsreview.org, die sich der Auswertung der Laienberichterstattung zu medizinischen Themen widmet.

Es gibt also zwei Probleme mit der Presse: in erster Linie eine verfrühte oder inadäquat positive Berichterstattung, beispielsweise über neue Krebstherapien. Oder übertriebene Warnungen vor negativen Effekten von medizinischen Interventionen. In der Zeitschrift „einblick“, herausgegeben vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, wurde kürzlich unter der Überschrift „Gute Nachrichten – lieber nicht?“ die Problematik thematisiert, dass bei Bekanntgabe positiver Forschungsergebnisse, in diesem Fall in Bezug auf die neuen Immuntherapien bei Krebs, immer die Gefahr besteht, dass unrealistische Hoffnungen bei Betroffenen geweckt werden. Denn selten ist die Laienpresse exakt genug, um klarzumachen, für welche Patientengruppen bestimmte Ergebnisse überhaupt anwendbar sind. Hier schließt sich der Kreis: Dass kritische Berichte über Statine Patienten in der Primärprävention hellhörig werden lassen, ist nicht unbedingt schlecht. Dass dann aber auch die Patienten in der Sekundärprävention ihr Statin absetzen, kann niemand wollen.

Hier kommt der Arzt ins Spiel. Im Medienzeitalter ist es eine genuin ärztliche Aufgabe, die (oft berechtigten) Bedenken und Hoffnungen, die von der Publikumspresse geschürt werden, zurechtzurücken und auf die individuelle Situation der Patienten herunterzubrechen. Das sind wir unseren Patienten schuldig.

 
  • Literatur

  • 1 Matthews A, Herrett E, Gasparrini A. Impact of statin related media coverage on use of statins: interrupted time series analysis with UK primary care data. BMJ 2016; 353: i3283 open access
  • 2 Fowler Jr FJ, Gerstein BS, Barry MJ. How patient centered are medical decisions? Results of a national survey. JAMA Intern Med 2013; 173: 1215-1221