Dtsch Med Wochenschr 2017; 142(01): 66-68
DOI: 10.1055/s-0042-122182
Leserbriefe
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Polio-Impfung: Erwiderung zur Stellungnahme aus dem Robert Koch-Institut

Polio Vaccination – in Return to the Comment from the Robert Koch-Institut
Hans E. Müller
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Publication Date:
05 January 2017 (online)

Sabine Dietrich, Gerhard Falkenhorst und Ole Wichmann aus dem Robert Koch-Institut haben in DMW Nr. 19, S. 1407 – 1408 eine Stellungnahme zu meinen Ausführungen „Polio-Impfung, eine Standortbestimmung“ verfasst [1] [2]. Neben korrekten Feststellungen stehen unrichtige Behauptungen. Folgende Punkte bedürfen der Klarstellung:

Punkt 1

(S. 1407, 27. Z. v. u. li)

Risiko einer Impfpolio | Die Forderung, zur Impfung gegen Polio statt des seit 1998 empfohlenen inaktivierten Impfstoffs (IPV) wieder den oralen Lebendimpfstoff (OPV) zu verwenden, ist fachlich nicht nachvollziehbar. Unbestritten hat OPV zur deutlichen Reduktion der globalen Polio-Krankheitslast bzw. zur Elimination der Erkrankung auf mehreren Kontinenten maßgeblich beigetragen. Es ist jedoch bekannt, dass die in OPV enthaltenen abgeschwächten Impfviren sehr selten bei Geimpften und Kontaktpersonen eine Polio-Erkrankung mit Lähmungen hervorrufen können (vaccine-associated paralytic poliomyelitis, VAPP)".

Klarstellung Die Impfempfehlung von IPV statt OPV war schon 1998 aus fachlichen Gründen umstritten (Dr. Riedl-Seifert u. v. a.). Denn die aufwendigere IPV besitzt als parenterale Impfung gegenüber der Schluckimpfung eine wesentlich geringere Akzeptanz. Sie hat deshalb die Bevölkerungsimmunität reduziert und die Impfkosten erhöht, sodass heute nicht unbeträchtliche Teile der Bevölkerung ungeschützt sind. Denn allein die OPV erlaubt eine dauerhaft ausreichende Durchimpfung, und die weltweit ca. 99 %ige Eliminierung der Polio war ausschließlich und nicht nur maßgeblich mit der OPV möglich. Das OPV-bedingte Risiko einer VAPP ist jedoch nicht oder nicht wesentlich größer als das eines Guillain-Barré-Syndroms, das bei den empfohlenen jährlichen Influenza-Impfungen ohne weiteres in Kauf genommen wird [3].


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Punkt 2

(S. 1407, 5. Z. v. u. li)

Globale Polio-Eradikation | Im Mai 2013 hat die Weltgesundheitsversammlung den „Polio Eradication and Endgame Strategic Plan“ verabschiedet (3). Demnach soll in der nun erreichten Endphase der globalen Polio-Eradikation OPV aufgrund des Risikos für VAPP (vaccine-associated paralytic poliomyelitis) und cVDPV (circulating vaccine-derived poliovirus) stufenweise zurückgezogen und bis 2019/20 weltweit durch IPV ersetzt werden.“

Klarstellung Bereits 1988 hatte die WHO beschlossen, die Polioviren bis zum Jahr 2000 auszurotten, und das ist ihr nicht gelungen. Als sie 2013 ihre derzeitige globale Polio-Eradikation beschloss, bestand eine Situation, die sich seit den 2000er-Jahren nicht wesentlich geändert hatte und bis 2016 fortbesteht. Nach wie vor existieren die Polio-Endemiegebiete in und um Afghanistan sowie in und um Nigeria, seit 2013 mit Metastasen in Syrien-Irak-Israel und Äthiopien-Somalia-Kenia [4] [5] [6] [7]. Wie sollte der WHO in den nächsten 2 – 3 Jahren gelingen, was sie in Jahrzehnten nicht geschafft hat? Und wenn das globale Ziel der Polio-Ausrottung wider Erwarten tatsächlich erreicht würde, dann müsste trotzdem weltweit immer noch Jahrzehnte lang mit IPV weitergeimpft werden [8]. Das alles unter der Voraussetzung, dass die WHO-Aussagen jetzt verlässlicher sind, und daran bestehen Zweifel.


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Punkt 3

(S. 1407, 28. Z. v. u. re)

Höhere Sterblichkeit? | Weiterhin behauptet Müller, dass mit IPV geimpfte Kinder eine höhere Gesamtsterblichkeit (unabhängig von Polio) hätten als mit OPV geimpfte Kinder. Dabei stützt er sich unter anderem auf einen Artikel von Peter Aaby et al. (5), interpretiert ihn jedoch falsch.“

Klarstellung Ich interpretiere keineswegs den Artikel von Peter Aaby et al., sondern zitiere ihn lediglich, weil er einige Aussagen in der Publikation von Eleanor N. Fish und ihren 14 Koautoren aus 8 Ländern stützt. Ob die Interpretation dieser 15 Autoren nun falsch oder doch nicht falsch ist, darüber lässt sich streiten. Meine Aussagen und Zahlen stammen jedenfalls aus dieser Publikation von Eleanor N. Fish und ihren 14 Koautoren [9], aber nicht von Peter Aaby et al. Und hier steht: “On average, about 75 cases of vaccine-associated paralytic poliomyelitis are reported each year worldwide, and WHO has suggested that OPV be gradually replaced by inactivated polio vaccine (IPV) to reduce the number of such cases3. Results from a randomised trial4 in 2015 suggest that OPV might have beneficial non-specific effects that reduce all-cause mortality by 17 %, possibly to a greater extent in boys than in girls, whereas previous evidence suggests that IPV increases all-cause mortality by 10 %5. Consequently, the proposed change from OPV to IPV might lead to increased all-cause mortality through loss of the beneficial non-specific effects of the inactivated vaccine4, 5. Replacement of OPV with IPV could translate to approximately 4000 deaths for each case of vaccine-associated paralytic poliomyelitis prevented, and might cause more than 300 000 additional deaths each year.” Diese Sätze animierten mich, das Problem auch in Deutschland vorzustellen. Hier gilt die WHO als unfehlbar. Dafür werden Peter Strachans Hygiene-Hypothese [10] sowie die ergänzende Theorie von den „lost old friends“ [11] ebenso angezweifelt wie die o. g. Aussagen.


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Punkt 4

(S. 1408, 4. Z. v. o. li)

Die Behauptung, ca. 300 000 Todesfälle seien durch die IPV-Impfung selbst bedingt, ist daher nicht haltbar.“

Klarstellung Auch diese Zahl stammt nicht von mir, sondern ich zitiere sie (siehe Punkt 3).


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Punkt 5

(S. 1408, 8. Z.v.o.li)

WHO-Emfehlung zur Polio-Überwachung | Als sich Deutschland 1997 der WHO-Initiative zur Polioeradikation anschloss, ... hat man sich für die von der WHO empfohlene Überwachung der akuten schlaffen Paresen (AFP-Surveillance) entschieden. ... Enterovirus-Surveillance | Da die AFP-Surveillance in Deutschland nur lückenhaft durchgeführt wurde und daher die Kriterien der WHO für die Qualität der AFP-Surveillance nicht erreicht werden konnten, wurde zusätzlich die Enterovirus-Surveillance (EVSurv) ... etabliert“.

Klarstellung Wenn die von der WHO empfohlene AFP-Surveillance selbst in Deutschland nur insuffizient funktioniert hat und um die EVSurv ergänzt werden musste, dann kann man getrost davon ausgehen, dass sie in den allermeisten anderen Ländern nicht besser und eher schlechter funktioniert. Daraus folgt, dass wohl die allermeisten WHO-Aussagen im Rahmen ihres Polio-Eradikationsprogrammes zweifelhaft sein dürften und somit das ganze Projekt. Es wird deshalb nicht nur von mir infrage gestellt.


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Punkt 6

(S. 1408, 11. Z. v. u. li)

Gute Qualität der Überwachung | Die Nationale Kommission zur Polioeradikation in Deutschland hat in ihrem diesjährigen Bericht an die WHO erneut dargelegt, dass durch die EVSurv eine Zirkulation von Polioviren mit hinreichender Sensitivität entdeckt werden kann. Auch die WHO stuft die Qualität der Polioüberwachung in Deutschland als gut ein. In Abhängigkeit von der epidemiologischen Situation können jedoch lokale, temporär begrenzte Abwasser-Untersuchungen eine sinnvolle Ergänzung zur etablierten EVSurv sein. Um den sicheren Poliovirus-Nachweis aus Abwasserproben gewährleisten zu können, laufen am Nationalen Referenzzentrum für Poliomyelitis und Enteroviren am RKI bereits erste Versuche...“.

Klarstellung Sicher ist die deutsche Polioüberwachung für WHO-Verhältnisse recht gut. Doch ebenso sicher ist das Bessere der Feind des Guten, in diesem Fall die von mir angeregte Abwasserkontrolle, zu der nun erste Versuche anlaufen. – Nur durch diese Abwasserkontrolle erkannte man 2013 in Israel, dass das Wildpoliovirus Typ 1 (WPV-1) wieder eingeführt worden war und unbemerkt trotz korrekter IPV-Immunisierung zirkulierte [6] [7]. Das veranlasste die israelische Regierung, sich über die IPV-Empfehlung der WHO hinwegzusetzen und wieder mit OPV zu impfen [12]. Dagegen steckt das RKI lieber den Kopf in den Sand und behauptet, es würde gar keine Einschleppung von Polio durch Asylanten geben.


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Punkt 7

(S. 1408, 7. Z. v. o. re)

Keine Einschleppung von Polio durch Asylsuchende – Weitgehende Immunität | Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gibt für 2013 bis 2015 die Zahl der Asylanträge von Personen aus Polio-Risikogebieten (Afghanistan, Pakistan, Syrien, Irak) mit ca. 810 000 an (die aktuellen Zahlen bis August 2016 liegen nach Angaben von Bundesinnenminister de Maizière bei über 1,1 Millionen) ... Während des Polio-Ausbruchs in Syrien im Jahr 2013/2014 wurde in Deutschland ein Stuhlscreening bei aus Syrien eintreffenden Asylsuchenden durchgeführt. Dabei wurde unter 629 getesteten Personen kein einziger Poliowildvirus-Ausscheider identifiziert (10). ... Eine in Deutschland durchgeführte Seroprävalenzstudie unter Asylsuchenden aus Poliorisikogebieten zeigte, dass diese Personengruppe – ähnlich wie die deutsche Bevölkerung – zu über 90 % über eine Immunität gegen alle drei Poliovirustypen verfügt (11, 12)."

Klarstellung Wenn über 90 % der Zuwanderer gegen Polio immun sind, dann sind etwas weniger als 10 % nicht immun und potenzielle Polioträger, immerhin ca. 100 000 Menschen. Selbst wenn 629 Syrer 2013 keine Polio eingeschleppt haben, so ist die Behauptung trotzdem sehr mutig, dass aus keinem der immer noch vielen Endemiegebiete (siehe Punkt 2) keine Einschleppung von Polio erfolgt. Doch tatsächlich wissen wir es nicht, und Bundesregierung sowie RKI wollen es auch gar nicht wissen, um keine schlafenden Hunde zu wecken, allerdings um den Preis möglicher, aber vermeidbarer paralytischer Poliofälle.


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Punkt 8

(S.1408, 10. Z. v. u. re)

Mit Poliovirus infizierte Personen können üblicherweise bis zu 8 Wochen Polioviren mit dem Stuhl ausscheiden (13) – nicht jedoch 2 Jahre, wie Müller angibt.“

Klarstellung Sicher scheiden die meisten, aber keineswegs alle infizierten Menschen ihre Polioviren ebenso wie auch Salmonellen nur bis zu 8 Wochen lang mit dem Stuhl aus. Doch leider hält sich eine Minderheit nicht an diese Regel und scheidet sie bis zu 2 Jahre lang aus. Darüber hinaus gibt es sogar Dauerausscheider.


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  • Literatur

  • 1 Diedrich S. Falkenhorst G. Wichmann O. Polio-Impfung. Eine Stellungnahme. Dtsch med Wschr 2016; 141: 1407-1408
  • 2 Müller HE. Polio-Impfung. Eine Standortbestimmung. Dtsch med Wschr 2016; 141: 1404-1406
  • 3 Nachamkin I. Shadomy SV. Moran AP. et al. Anti-ganglioside antibody induction by swine (A/NJ/1976/H1N1) and other influenza vaccines: insights into vaccine-associated Guillain-Barré-syndrome. J Infect Dis 2008; 198: 226-233
  • 4 Roberts L. New polio cases in Nigeria spur massive response. Science 2016; 353: 738
  • 5 Rutter PD. Donaldson L. Mandatory polio vaccination for travellers: protecting global public health. Lancet 2014; 383: 1695-1696
  • 6 Roberts L. Israel's silent polio epidemic breaks all the rules. Science 2013; 342: 679-680
  • 7 Anis E. Kopel E. Singer SR. et al. Insidious reintroduction of wild poliovirus into Israel, 2013. Euro Surveill 2013; 18: pii=20586
  • 8 Shaghaghi M. Shahmahmoodi S. Abolhassani H. Vaccine-derived polioviruses and children with primary immunodeficiency, Iran, 1995–2014. Emerg Infect Dis 2016; 22: 1712-1719
  • 9 Fish EN. Flanagan KL. Furman D. et al. Changing oral vaccine to inactivated polio vaccine might increase mortality. Lancet 2016; 387: 1054-1055
  • 10 Strachan DP. Allergy, hay fever, hygiene, and household size. Brit Med J 1989; 299: 1259-1260
  • 11 Rook GAW. 99th Dahlem conference on infection, inflammation and chronic inflammatory disorders: darwinian medicine and the “hygiene” or “old friends” hypothesis. Clin Exp Immunol 2010; 160: 70-79
  • 12 Lycke E. Magnius LO. Norder H. Should we use oral polio vaccine in Europe?. Lancet 2014; 383: 1037-1038
  • 13 Yamguchi T. Takizawa F. Fischer U. et al. Along the axis between type 1 and type 2 immunity: priciples conserved in evolution from fish to mammals. Biology 2015; 4: 814-859
  • 14 Radon K. Nowak D. Vogelberg C. et al. Berufsberatung allergiekranker Jugendlicher. Dtsch Ärztebl 2016; 113: 519-524
  • 15 Müller HE. Steht die Hygiene vor einem Paradigmenwechsel?. Dtsch med Wschr 2002; 127: 38-41