Die Wirbelsäule 2017; 1(01): 1-3
DOI: 10.1055/s-0042-123289
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Wirbelsäule

Michael Winking
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Publication Date:
15 March 2017 (online)

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

im vergangenen Jahr hatten Sie als Mitglieder dem Vorstand der DWG den Auftrag gegeben eine Mitgliederzeitschrift zu entwickeln. Dieses haben wir nun umgesetzt. „Die Wirbelsäule“ wird das offizielle deutschsprachige Organ der DWG werden. Das primäre Ziel der Zeitschrift ist die Fortbildung. Seine Beiträge werden neueste wissenschaftliche Erkenntnisse behandeln. Es soll Artikel geben, die der Auffrischung von Kenntnissen in der Behandlung von Krankheitsbildern dienen, aber auch Meldungen über gesundheitspolitische Entscheidungen und Neuerungen in unserem beruflichen Alltag. Ergänzend werden Gesellschaftsmitteilungen in den Heften Raum gegeben werden. Diese Schwerpunkte sind auf die Ausgaben 2, 3 und 4 der Zeitschrift verteilt. Die erste Ausgabe, welche zu Beginn des Jahres erscheinen wird, befasst sich mit einem Rückblick auf den vergangenen Jahreskongress. Es werden ausgewählte Beiträge und Highlights der Tagung in Artikeln zusammengefasst. Damit kann jeder den Inhalt für sich selbst noch einmal aufarbeiten. Auch bietet diese Ausgabe all denjenigen, die zur Tagung verhindert waren, die Möglichkeit eine Zusammenfassung des Programms zu erhalten.

Rede des Präsidenten der DWG zur Eröffnung des 11. Deutschen Wirbelsäulenkongresses:

Sehr geehrter Herr Präsident der Österreichischen Wirbelsäulengesellschaft,

Sehr geehrter Herr Präsident der Schweizer Wirbelsäulengesellschaft,

Sehr geehrte Ehrengäste,

Meine Damen und Herren!

Ich freue mich sehr, Sie zur Eröffnungsveranstaltung des Deutschen Wirbelsäulenkongresses in Hannover begrüßen zu dürfen.

Ein weiser Mensch hat einmal gesagt, die Dynamik einer Gesellschaft erkennt man an der Zahl der Gedenktafeln und Museen, die neu eröffnet werden. Was bedeutet je mehr man davon hat, desto stärker ist eine Gesellschaft in die Vergangenheit orientiert.

Es ist immer einfacher in die Vergangenheit zu blicken, da Geschehenes bereits eine unveränderbare Tatsache ist. Hieraus fällt es einem natürlich leicht, eine Beurteilung und den dazugehörigen Verbesserungsvorschlag zu machen. Vielleicht ist das auch ein Grund warum Pathologen oft die besseren Therapievorschläge haben, nur manchmal eben zu spät.

Niemand weiß wie die Zukunft im Allgemeinen oder in der Wirbelsäulentherapie im Speziellen aussehen wird.

Der Mathematiker und Meteorologe Edward Lorenz hat in seinem Wettermodell 1963 gezeigt, dass kleinste Ursachen bereits größte Wirkungen haben können. Diesen Effekt bezeichnete man als Schmetterlingseffekt, bei welchem bereits ein Flügelschlag Auswirkungen auf das Gesamtsystem Wetter haben kann. Diese Schmetterlinge gibt es natürlich auch bei der Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen. Nicht nur im medizinischen Sinne, sondern auch im gesundheitspolitischen Sinne.

Da meinen wir durch unsere Wirbelsäulenoperationen den Patienten etwas Gutes zu tun, bestätigen uns das auch noch gegenseitig durch Studien und plötzlich lässt eine Krankenversicherung medial einen Schmetterling frei und unser stabil geglaubtes Behandlungskonstrukt wird kräftig durcheinanderschüttelt. Wir stehen da und staunen.

Aber derartige Ereignisse betreffen nicht nur Wirbelsäulenbehandlungen. Auch ein Segler, der von plötzlich wechselnden Winden überrascht wird, der Assistent, der unerwartet einen Bereitschaftsdienst übernehmen muss und nicht einmal eine Zahnbürste dabei hat oder auch Frau Clinton, die nach der Wahl in den USA zurück nach Arkansas muss, haben mit diesen Schmetterlingen zu tun.

Wenn also die Zukunft so unvorhersehbar ist, wäre es dann nicht doch besser, noch mehr Museen zu bauen? Wir Menschen haben ja meist den Wunsch, dass alles so bleiben soll wie es ist; für einen persönlich aber besser werden soll. Dieser Widerspruch steht im Zusammenhang mit dem Wissen um all die unerwarteten Schmetterlinge, aber auch dem Wissen was für einen selbst gut ist. Für den Wirbelsäulenchirurgen das Wegfallen des Krankenhauscontrollings und die Freigabe der Implantatbeschränkungen, ja die unbegrenzte Finanzierung seiner Tätigkeiten. Für den konservativ tätigen Orthopäden die adäquate Vergütung der Behandlungen bei reduzierten Patientenzahlen. Für den Patienten der Jungbrunnen mit der Beseitigung aller Beschwerden. Global kann diese Strategie in einem System der Abhängigkeiten natürlich nicht funktionieren. Denn was der Chirurg an Ressourcen verbraucht, steht dem konservativ Tätigen nicht mehr zur Verfügung und natürlich auch umgekehrt. Somit wird unser Leben immer mehr zu einem Kompromiss mit wechselseitigen Rücksichtnahmen. Das bedeutet, dass es nicht unbedingt für den einzelnen oder die Gesamtheit besser wird, anders wird es auf alle Fälle.

Diese Unsicherheit sollte uns dennoch nicht an der Gegenwart oder Vergangenheit festhalten lassen. Mit Museen werden wir nämlich die Zukunft verpassen oder dann erleben, wenn sie bereits Vergangenheit ist. Was ich damit meine ist: Vermeiden wir trotz Schmetterlingseffekt den Fatalismus. Wer den Zug auf den Schienen erwartet, wird auf ihn treffen.

Wir müssen aktiv werden. Wir müssen gestalten. Nutzen wir unser Wissen, um zu handeln, bevor das Problem entsteht. Blicken wir nach vorne, so wie es die Deutsche Wirbelsäulengesellschaft seit vielen Jahren tut. Unsere Fortbildungsprogramme haben enormen Zulauf. Das operative Basiszertifikat ist zum Qualitätsmaßstab geworden und wird heute in Kliniken bei Einstellungen mit abgefragt. Im kommenden Jahr wird dieses Programm erweitert werden um die konservative Fortbildung. Wir bemühen uns, die wirbelsäulenchirurgischen Einrichtungen zukunftsfest zu machen, in dem wir über die Zentrenzertifizierung infrastrukturelle und Qualitätskriterien formulieren und überprüfen. Glauben Sie mir, in einigen Jahren wird auch diese Maßnahme bei offiziellen Bewertungen berücksichtigt werden.

Qualität sollte das Label der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft in der Zukunft werden. Hierzu sollte nicht nur die Fortbildung durch unsere exzellenten Kursmodule gehören. Mit unseren Fortbildungsmaßnahmen bemühen wir uns nämlich nur um einen Teilaspekt von Qualität. Der Qualitätsbegriff, den z.B. die gesetzlichen Krankenkassen formulieren, ist ein völlig anderer. Weshalb wir oft aneinander vorbei reden. Wir müssen in allen Bereichen der Qualitätsdefinitionen aktiv sein, um dann die Maßstäbe für die Zukunft mitformulieren.

In diesem Zusammenhang müssen wir auch Wert legen auf gute theoretische und klinische Wissenschaft, was ja die ureigene Aufgabe einer wissenschaftlichen Gesellschaft ist.

Lasst uns federführend werden bei der Erarbeitung von Leitlinien. Nur dadurch werden wir in Zukunft nachweisen können, dass unsere Therapien Relevanz haben und das Innovation einen Nutzen für die Patienten und Gesellschaft haben.

Wir müssen wieder lernen, unseren Patienten zuzuhören und anerkennen, dass unsere Behandlungen kein Selbstzweck sind. Dass gut korrigierte Fehlstellungen an der Wirbelsäule nicht gleichbedeutend sind mit guten klinischen Ergebnissen. Und, dass eine erfolgreiche Therapie mehr als nur einen guten Chirurgen erfordert. Denken und handeln wir interdisziplinär und sehen die Wirbelsäule als das gemeinsame Feld unseres Engagements. Interdisziplinarität ist eine Stärke der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft. Wer die Zukunft mitgestalten will, muss bereits in der Gegenwart Perspektiven entwickeln.

Lösen wir uns von dem täglichen „klein – klein“, von den Fesseln der Routine. Denken wir Quer, nicht als Folge einer gefühlten Ausweglosigkeit, sondern um innovativ zu sein. Wir alle haben die Fähigkeit dazu, nutzen wir sie.

Wirbelsäule 4.0 als Titel für diesen Kongress will ein Anstoß dazu sein. Es sollen nicht nur Ergebnisse von Studien präsentiert werden. Wir wollen uns mit der Zukunft auf allen Feldern beschäftigen und über unseren Tellerrand hinausblicken. Thematisch wird die Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen natürlich im Vordergrund stehen. Aber es wird auch Referate geben, die sich mit Technologien beschäftigen, die noch keine Anwendung im klinischen Alltag haben. Sie werden ebenso etwas über zukünftige Ausbildung und Kommunikation aber auch das Gesundheitssystem der Zukunft hören. Mein Ziel war es, den einen oder anderen Anstoß zu geben, die Gegenwart zu überdenken und Alternativen für die Zukunft zu finden.

In diesem Sinne möchte ich den 11. Deutschen Wirbelsäulenkongress eröffnen. Ich wünsche allen Teilnehmern eine erfolgreiche Tagung mit intensiven Diskussionen und den ein oder anderen Anstoß für seine weitere Tätigkeit. Der Kongress und die Deutsche Wirbelsäulengesellschaft leben durch ihre Teilnehmer. Beteiligen Sie sich aktiv, damit wir diese Dynamik auch in der Zukunft erhalten.

Lassen Sie mich in diesem Sinne mit einem Satz von Gottfried Wilhelm Leibniz schließen, der eng mit Hannover verbunden ist: „Das Übergewicht der Neigungen entschuldigt den Menschen nicht, dass er nicht Herr seiner selbst ist; er soll seine Kraft gebrauchen lernen, die in der Vernunft besteht.“

Ihr
Michael Winking