Erfahrungsheilkunde 2017; 66(01): 1
DOI: 10.1055/s-0042-123657
Editorial
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

„Auch Gesundheit kann anstecken“

(Jüdisches Sprichwort)
Peter W. Gündling
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Publication Date:
12 April 2017 (online)

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Liebe Kolleginnen und Kollegen,

liebe Leserinnen, liebe Leser,

es ist schon manchmal zum Haare raufen: Kaum aus dem Winterurlaub zurück, bevölkern Scharen hustender und niesender Patienten Flur und Wartezimmer und berichten, dass sie seit 2 Wochen krank sind und die Beschwerden gar nicht weg gehen wollen. „Natürlich waren Sie wieder einmal nicht da, als ich krank wurde. Und da bin ich zu Ihrer Vertretung gegangen. Die sagte, ich hätte eine Bronchitis und hat mir gleich ein Antibiotikum aufgeschrieben. Und weil es mir so schlecht ging, habe ich es auch genommen.“ (Anmerkung: Nicht irgendein Antibiotikum, sondern Amoxicillin mit Clavulansäure, plus Mometason-Spray für die Nase plus Ibuprofen 600.)

Bereits 2008 schrieben Glaeske und Mitarbeiter im GEK-Arzneimittel-Report: „Obwohl 9 von 10 Atemwegsinfekten durch Viren ausgelöst werden, werden in über 80 % der Fälle Antibiotika verordnet.“ Das hat sich in den letzten Jahren Gott sei Dank etwas gebessert. Aber gut ist es noch lange nicht. Die renommierte Zeitschrift JAMA veröffentlichte im letzten Jahr eine US-amerikanische Studie, die die Dokumentation von 184 032 ambulanten Konsultationen beschrieb. Dabei waren 12,6 % mit einer Antibiotikaverschreibung assoziiert, was einer Rate von 506 Antibiotikaverschreibungen pro 1000 Personen und Jahr entspricht. Laut Aussagen der Prüfer waren über alle Diagnosen und Altersklassen gesehen davon nur 353 indiziert. Somit waren 30 % aller Antibiotikaverschreibungen inadäquat. Mit 50 % fand sich der größte Anteil an unangemessenen Antibiotikaverschreibungen, unabhängig vom Alter, im Bereich der akuten respiratorischen Erkrankungen. In der Altersgruppe der 20- bis 64-Jährigen erfolgte hier sogar bei 70 % eine unnötige Antibiotikatherapie. Das bedeutet etwa 34 Millionen unnötiger Antibiotikaverschreibungen pro Jahr allein für diese Indikation in den USA.

Dass dieses Vorgehen Resistenzentwicklungen Tür und Tor öffnet, ist offensichtlich. Besonders eklatant ist dies bei Makroliden: So steigt die Resistenzrate bei Azithromycin innerhalb von nur 4 Tagen, bei Clarithromycin innerhalb von 8 Tagen auf über 80 %! – Die Folgen davon sind mittlerweile nicht nur in unseren Krankenhäusern zu spüren.

Doch damit nicht genug: Trotz aller Mikrobiomforschung der letzten Jahre scheint es sich noch immer nicht herumgesprochen zu haben, dass unser Darm unser wichtigstes Immunorgan ist und die dort befindlichen Bakterien einen wesentlichen Einfluss auf die Funktion dieses Systems haben. Und dass eben diese Bakterien durch die Gabe von – vor allem Breitspektrum- – Antibiotika nachhaltig gestört werden, muss wohl nicht betont werden. Doch anstatt begleitend oder im Anschluss an ein Antibiotikum ein Probiotikum zu verordnen, gibt es wenige Tage nach dem ersten Präparat ein zweites, noch breiter wirkendes.

Neben der Angst, eine bakterielle Infektion zu übersehen, scheint mir in vielen Fällen die Unkenntnis von Alternativen eine Ursache zu sein, die zu diesem Fehlverhalten führt. Vielleicht geben Sie – liebe Leserinnen und Leser – einfach einmal diese Zeitschrift diesbezüglich weniger erfahrenen Kolleginnen und Kollegenen weiter. Vielleicht gelingt es, den einen oder anderen durch unsere Methoden zu überzeugen. Ich wünsche Ihnen wieder viel Freude und neue Erkenntnis bei der Lektüre.

Herzlichst Ihr

Peter W. Gündling