Dtsch Med Wochenschr 2017; 142(03): 227-228
DOI: 10.1055/s-0043-103124
Mitteilungen der DGIM
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Transplantations-Richtlinien – Wie hat sich der Richtlinienprozess für die Allokation von Spenderorganen seit dem Transplantationsskandal entwickelt?

Christian P. Strassburg
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Publikationsdatum:
10. Februar 2017 (online)

Nicht nur durch die mediale Begleitung der sogenannten Transplantationsskandale ist die Praxis der Organtransplantation mit großen Herausforderungen konfrontiert.

Dazu zählen:

  1. Das Abwägen und Abbilden von Bedürftigkeit und Erfolgsaussicht des betroffenen Patienten.

  2. Die wahrgenommene Gerechtigkeit und Transparenz der einer Organverteilung zugrundeliegenden Prinzipien.

  3. Das Abbilden eines Spektrums von pathophysiologisch unterschiedlichen nosologischen Entitäten durch nachvollziehbare Allokationsregeln.

  4. Der Mangel an Spenderorganen, der die Transplantationsmedizin de facto zu einer rationierten Therapieoption mit inhärenten unvermeidlichen Ungerechtigkeiten macht.

Aufgrund der Komplexität der beispielsweise zur Lebertransplantation führenden Erkrankungen ist ein breites Spektrum von Richtlinien erforderlich, denn ein umfassendes und universelles Leistungskriterium für alle Krankheitsentitäten würde der Lebertransplantation und den Bedürfnissen der betroffenen Patienten nicht gerecht. Da es sich hierbei nicht um Leitlinien sondern um Richtlinien handelt und seit 2013 Zuwiderhandlungen unter Strafe gestellt sind, kommt diesem neuen und transparenteren Prozess eine hohe Bedeutung für die Arbeit der interdisziplinären Transplantationskonferenzen der Zentren zu [1].

Der Vorstand der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG) lehnt Manipulationen und Richtlinienverstöße in der Transplantationsmedizin ausdrücklich ab. Diese sind nicht mit dem Transplantationskodex vereinbar [2].

Der Richtlinien Revisionsprozess hat sich seit 2012 infolge des Transplantationsskandals grundlegend verändert. Mit Inkrafttreten des Status für die Ständige Kommission Organtransplantation (StäKO) der BÄK sind die dafür vorgesehenen Abläufe 2015 präzisiert und transparent dargelegt worden [3]. In enger Abstimmung mit Fachvertretern werden Vorschläge für Richtlinienrevisionen erarbeitet. Dies geschieht in der Organkommission „Leber / Darm“ anlässlich der DTG-Jahrestagung und in weiteren Treffen außerhalb der Jahrestagung. Diese werden in der Arbeitsgruppe „Richtlinienrevisionen Leber“ der StäKO unter Beteiligung von Vertretern von Eurotransplant (ET), der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), der Patienten, Mitgliedern der Kommission „Leber / Darm“ der DTG und Juristen diskutiert und formuliert. Darüber hinaus wird eine detaillierte wissenschaftliche Begründung erstellt. Ein Entwurf wird danach in der StäKO in erster Lesung vorgestellt und unter Beteiligung aller Interessensgruppen sowie Vertretern des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) diskutiert. Bei erfolgreicher Abstimmung erfolgt dann eine Veröffentlichung des Entwurfs auf der BÄK-Homepage mit der Möglichkeit der Kommentierung durch die Öffentlichkeit (http://www.bundesaerztekammer.de/richtlinien/richtlinien/transplantationsmedizin/stellungnahmeverfahren). Die Kommentare werden in der Richtlinienarbeitsgruppe diskutiert und ihre Annahme oder Ablehnung begründet. Die revidierte (und kommentierte) Fassung wird in zweiter Lesung erneut vorgestellt und diskutiert und bei Verabschiedung dem BMG zur Genehmigung vorgelegt (Genehmigungsvorbehalt). In besonderen Fällen erfolgt zusätzlich eine Vorlage beim Bundesjustizministerium, zum Beispiel in der Arbeitsgruppe Verfassungsrecht. Mit der Veröffentlichung im Deutschen Ärzteblatt erlangt diese schließlich verbindliche Gültigkeit.

Die erste Richtlinie, die dieses Verfahren durchlaufen hat und 2015 beschlossen wurde, ist der Text zur alkoholischen Leberzirrhose. Konkret wurde die Diagnostik des schädlichen Alkoholgebrauchs und der Alkoholabhängigkeit präzisiert und ein interdisziplinäres Vorgehen unter Beteiligung von psychomedizinischen Disziplinen einschließlich der Erstellung von Behandlungsplänen festgelegt. Ein neues Auditverfahren bezüglich der Karenzzeit wurde für kontroverse Fälle eingerichtet. Insgesamt sind die Aspekte der längerfristigen interdisziplinären Betreuung, der Prävention, der präziseren Diagnostik, der Patientenbegleitung durch Diagnostik und der Möglichkeit des beratenden Audits gestärkt worden. Nach Prüfung durch das BMG und das Bundesjustizministerium ist diese Revision 2015 in Kraft getreten.

Am 27.2.2016 traten drei neue Richtlinienänderungen in Kraft, die ab dem 17.5.2016 gültig und damit für die Lebertransplantation verbindlich sind. Diese Revisionen der Richtlinien nach §16 TPG sind das Ergebnis ausführlicher Diskussionen und Konsentierungen nach der ebenfalls am 26.2.2016 veröffentlichten Verfahrensordnung der ständigen Kommission Organtransplantation (VerfO-StäKO).

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Ein breites Spektrum von Richtlinien regelt die Transplantation von Organen.
Bildnachweis: PhotoDisc

Die Revisionen betreffen den Umgang mit einer Vitamin-K-Antagonisten (VKA)-Therapie und die Berechnung des Model End Stage Liver Disease (MELD)-Wertes, die notwendige Diagnostik für die matchMELD-Standardkriterien (Standard Exceptions, SE) bei der primären Hyperoxalurie Typ 1 (PH1) sowie eine Präzisierung der SE-Kriterien für das hepatozelluläre Karzinom (HCC) und beinhalten im Einzelnen folgende Aspekte:

  1. Eine VKA-Therapie (Coumadin®, Phenprocoumon) verändert die in die Berechnung des MELD-Wertes eingehende INR und erhöht damit potentiell rechnerisch die darauf gründende Allokationspriorität. Künftig kann ein INR-Wert nur dann verwendet werden, wenn innerhalb von zwei Wochen vor der Bestimmung keine Vitamin-K-Antagonisten eingesetzt wurden; dabei ist der letzte Wert vor VKA-Therapie zu verwenden oder die Bestimmung zwei Wochen nach Absetzen der Therapie durchzuführen. Die Änderung ist unter Punkt III.6.2.2.1 „Berechneter MELD-Score (labMELD)“ nachzulesen.

  2. Die PH1 ist eine SE-Indikation für die Lebertransplantation. Bislang erforderte die dafür notwendige Diagnostik eine Leberbiopsie zur Determinierung einer Alanin-Glyoxylat-Aminotransferase (AGT)-Defizienz. Inzwischen existieren genetische Nachweisverfahren, die diese Diagnose auch im Erbgut aus einer Blutprobe ermöglichen. Zu beachten ist dabei, dass sowohl homozygote Träger von AGT-Mutationen als auch (compound) heterozygote Träger erkranken können. Künftig ist daher zur Diagnostik vor Beantragung eines SE-Status eine genetische Diagnostik (homozygot und heterozygot) zulässig. Eine Leberbiopsie kann erfolgen, ist aber nicht obligat.

  3. Eine der größten Indikationsgruppen für die Lebertransplantation bildet das HCC. Im Vergleich zur S3-Leitlinie HCC der DGVS sowie basierend auf Erfahrungen und Rückfragen im Zuge der Audits an deutschen Lebertransplantationszentren ergab sich Präzisierungsbedarf bei der Abfassung der SE HCC, die die Diagnostik, Dokumentation, technische Voraussetzungen der Bildgebung, Bewertung der Befunde und Ausnahmeregelungen betreffen.

Am 29.10.2016 ist eine weitere Revision nach Publikation im Deutschen Ärzteblatt in Kraft getreten, die den Umgang mit dem Leberunterstützungsverfahren „MARS“ oder „Prometheus“ regelt, deren Anwendung einen Einfluss auf die dem MELD zugrundeliegenden Parametern Bilirubin und Kreatinin haben und potenziell zu einer Unterschätzung der Dringlichkeit für eine Transplantation führen [4]. Geändert wurde, dass die vor der Unterstützungstherapie gemessenen MELD-Parameter bis zum Abschluss dieser Therapie Gültigkeit für die Allokation haben. Dies ist unter Punkt III.6.2.2.1 der Richtlinie und in der Begründung der Revision nachzulesen.

Weitere Revisionen in Arbeit betreffen die biliäre Atresie, das Hepatoblastom, ABO-inkompatible Lebertransplantationen bei Kindern sowie die Kriterien einer Transplantation bei neuroendokrinen Tumoren. Allen verabschiedeten Revisionen sind in der Publikation ausführliche Begründungen mit Literatur nachgestellt, auf deren Lektüre hingewiesen wird.