manuelletherapie 2017; 21(04): 148-149
DOI: 10.1055/s-0043-116688
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

WCPT 2017 – Der Weltkongress der Physiotherapie zu Gast in Kapstadt

Arne Vielitz
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Publication Date:
14 September 2017 (online)

Unter dem Motto „Where the world of physical therapy meets“ fand der diesjährige Weltkongress der World Confederation of Physical Therapy (WCPT) in Südafrika statt. Über 2000 Physiotherapeuten aus der ganzen Welt kamen für 3 Tage im Herzen von Kapstadt zusammen. Während dieser Zeit gab es mehr als genug Möglichkeiten, sich zu allen die Physiotherapie betreffenden Felder Vorträge in verschiedenen Settings anzuhören ([ Abb. 1 ]).

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Abb. 1 Eröffnungsfeier WCPT 2017. (Foto: A. Vielitz)

Für mich war es wieder einmal faszinierend, so viele unterschiedliche Physios aus verschiedenen Ländern an einem Ort zu sehen, die alle das gleiche Ziel verfolgen: Neues Wissen gewinnen, sich austauschen sowie miteinander diskutieren, und all das, um Patienten besser behandeln zu können und den Berufstand im jeweiligen Land, aber auch weltweit voranzubringen.

In so einem Ambiente geht es aber natürlich nicht nur darum, von morgens bis abends den Vorträgen zu lauschen und in den Pausen die unzähligen Poster anzuschauen, die ebenfalls geballt eine unfassbare Menge an neuem Wissen vermittelten. Genauso nutzte vermutlich fast jeder Besucher die Gelegenheit, ein bisschen von der wunderschönen Landschaft rund um das Kap zu erkunden ([ Abb. 2 ]) und die pulsierende Stadt mit ihren teils erschütternden Gegensätzen von Arm und Reich kennenzulernen.

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Abb. 2 Blick auf Kapstadt. (Foto: A. Vielitz)

Die Vorträge spiegelten ebenfalls diese Unterschiede wider, die zumindest mir nicht immer ganz präsent sind. Die einen arbeiten in modernen Therapieeinrichtungen und andere auf dem Land in den ärmsten Regionen der Welt. So steht in einem Land wie Südafrika, in dem eines der größten Probleme HIV ist, die Versorgung von Patienten mit Rückenschmerzen natürlich nicht ganz oben auf der Agenda. In der für mich am beeindruckendsten und bewegendsten Session ging es um die Therapie von durch Flucht und Folter traumatisierten Patienten. Die Arbeit mit Flüchtlingen ist vielleicht nicht alltäglich für uns, aber sicher behandelt fast jeder ab und an nach Deutschland geflohene Patienten. Diese Menschen haben dann oftmals schwere körperliche, aber eben auch psychische Traumata erlitten und entwickeln nicht selten chronische Schmerze mit großen Einschränkungen auf verschiedenen Ebenen (Aktivität und Partizipation). Dies stellt eine große Belastung für die einzelne Person, aber auch deren Familie dar. Eine Möglichkeit, wie wir diesen Patienten helfen können, ist die Basic Body Awareness Therapie (Infos auf Deutsch z. B. unter www.bodyawareness.ch). Diese Therapieform ist in Skandinavien bei der Behandlung von Flüchtlingen State of the Art. Gerade derartige Sessions machen für mich Kongresse lohnenswert, da sie die Möglichkeit bieten, über meinen Therapie-Tellerrand hinauszuschauen.

Aber auch im Teller gab es ein paar interessante Dinge zu entdecken, wie z. B. den Musculoskeletal Health Questionnaire (MSK-HQ). Diesen Fragebogen entwickelten Forscher der Keele University, die auch das STarT Back Tool zur Stratifizierung von Patienten mit Rückenschmerzen entwickelten. Wie beim STartT Back Tool geht es auch beim MSK-HQ darum, in einer für den täglichen Praxisalltag realistischen Zeit (ca. 2 Minuten) anhand eines Fragebogens zu erkennen, ob Patienten ein geringes, mittleres oder hohes Risiko zur Chronifizierung haben. Das Ziel ist, sie dann anhand des Ergebnisses gezielt mit den Informationen und der Therapie zu versorgen, die sie benötigen und so gleichzeitig Ressourcen zu sparen – für die drei Gruppen gibt es jeweils Therapieempfehlungen. Das STarT Back Tool wird seit einigen Jahren in England erfolgreich sowohl von Physiotherapeuten als auch von Hausärzten eingesetzt (deutsche Version auf der Internetseite der Keele Universität: www.keele.ac.uk). Beim MSK-HQ handelt es sich ebenfalls um ein nachgewiesen valides Tool, um Patienten mit LWS-, HWS-, Schulter- und Knieschmerzen oder Schmerz in vielen Bereichen gleichermaßen schnell in die oben beschriebene Gruppen einzuteilen und somit optimal zu versorgen.

Sehr interessant war auch das Fokus-Symposium Rotator Cuff Tendinopathy. Hier ging es zunächst um die Rolle der zentralen Sensibilisierung bei Schulterschmerzen. Nicht anders als in anderen Körperregionen sind Schulterschmerzen häufig nicht einfach nur ein peripheres Problem. Wie bei der LWS finden sich z. T. bei 50 % der untersuchten Probanden ohne Symptome (!) Auffälligkeiten in der Bildgebung – nur auf die Struktur zu schauen, ist also wenig sinnvoll! Gerade bei länger anhaltenden Schmerzzuständen sollte daher immer an eine zentrale Sensibilisierung gedacht und in der Therapie die Edukation bezüglich der Schmerzentstehung und -verarbeitung eingebaut werden. Dass unser Gehirn sich schnell anpassen und ungünstige Muster der Reiz-/Schmerzverarbeitung entwickeln kann, aber schlechte Anpassungen sich wieder rückgängig machen lassen, wurde hier wie im Fokus-Symposium Pain Subjective Experience diskutiert ([ Abb. 3 ]).

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Abb. 3 Fokus-Symposium Pain Subjective Experience. (Foto: A. Vielitz)

Einer der Vortragenden postulierte, dass der Begriff Impingement nur selten angebracht sei, da eine Kompression zwar möglich, aber eher selten vorhanden ist. Aus diesem Grund ist eine Akromioplastik oft nicht sinnvoll. Der Bereich in dem die Strukturen tatsächlich komprimiert werden können, liegt zwischen 70° und 90°. Eine passendere Bezeichnung wäre daher Subacromial Pain Syndrome (SPS).

Ein wichtiger Punkt bei der Schmerzentstehung ist sehr wahrscheinlich eine Überlastung. Hier kommt es (wie bei der Achillessehne) zu einer Neovaskularisation mit Einsprießen freier Nervenendigungen. Dieses Phänomen ist häufig in der Supraspinatussehne nachweisbar. Anders als bei der Epikondylopathie sind jedoch hier auch nach längeren Zeiträumen teilweise noch Entzündungen vorhanden. Die Supraspinatussehne wird in diesem Fall eher dünner und reißt eventuell sogar. Die von Alfredson [1] entwickelte, für die Achillessehne äußerst wirkungsvolle Therapie ist also nicht einfach auf alle Sehnen übertragbar. Nicht nur hier lohnt es sich über Therapieansätze nachzudenken und diese kritisch zu hinterfragen. Auch das Knie ist für manch eine Überraschung gut. Anhand einer 4-D-CT-Untersuchung bei 30 gesunden 45–80-Jährigen konnte gezeigt werden, dass bei einer tiefen Knieflexion der Femur eine posteriore Bewegung auf der Tibia vollzieht. Daher scheint es – anders als oft gelehrt – nicht sinnvoll zu sein, die Tibia nach dorsal zu mobilisieren, um die endgradige Flexion zu erweitern, sondern von posterior nach anterior. Zusammen mit einer Innenrotation und einer leichten Traktion ist dies demnach eine vielversprechende Technik.

Dieser Weltkongress war für mich – wie nationale Kongresse auch – wieder einmal eine wunderbare Gelegenheit, neuen Input zu bekommen, manche bekannten Fakten zu untermauern, andere zu hinterfragen und sich mit tollen Menschen auszutauschen.

In 2019 ist der WCPT Weltkongress übrigens zu Gast in Genf.