PiD - Psychotherapie im Dialog 2018; 19(01): 15
DOI: 10.1055/s-0043-123289
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Regulieren statt Strukturieren?

Maria Borcsa
,
Michael Broda
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Publication Date:
13 March 2018 (online)

In einer gängigen Online-Suchmaschine fanden wir im Januar 2018 lediglich 128 000 Ergebnisse für die Stichworte „Kognitionen, Psychotherapie“, jedoch 589 000 Ergebnisse für „Emotionen, Psychotherapie“. Zum Vergleich: Die Schlagwörter „cognitions, psychothérapie“ ergaben 549 000 Treffer, „émotions, psychothérapie“ 569 000 Einträge, „cognitions, psychotherapy“ 27 600 000 Resultate und „emotions, psychotherapy“ 39 600 000 Resultate (weitere Sprachen bitte selbst zu prüfen).

Zugrundegelegt, dass Suchmaschinen als erweiterte Werbekampagnen betrachtet werden können, scheint im Vergleich zum Aspekt der Kognitionen ein großer deutschsprachiger Markt zu Emotionen in der Psychotherapie zu herrschen. Oder machen sich „die Deutschen“ inklusive ihrer sprachlichen Verwandten viel mehr Gedanken über – oder sollten wir besser sagen: Sorgen um – ihre Gefühle?

Ohne Klischees einer German Angst bedienen zu wollen (und gibt man die weniger differenzierenden Begriffe „Gedanken“ bzw. „Gefühle“ und „Psychotherapie“ ein, so nähern sich die deutschsprachigen Suchergebnisse in der Anzahl dem internationalen Vergleich wieder an), ist insgesamt ein Trend beobachtbar – und nicht nur in der Psychotherapieszene. Gekoppelt mit einer Massenkommunikation, die im Zuge ihrer Privatisierung früh feststellte, wie aufmerksamkeitsfördernd Affekte sein können [1] wissen politische Parteien ohne Scheu und Scham heute wieder besser, wie sie sich Stimmungen [2] zunutze machen (siehe dazu auch das Interview mit Luc Ciompi in diesem Heft).

Auch psychotherapeutische Verfahren unterliegen Trends und Moden, in denen das zuvor weniger Beachtete nunmehr mächtiger in den Mittelpunkt rückt und umgekehrt. Die stärkere Biologisierung unseres Faches in den letzten Jahren verweist auf die menschliche Abhängigkeit von basalen Prozessen der Emotionen (verkörpert zumeist in der Amygdala) und der Möglichkeit ihrer willentlichen Steuerung durch präfrontale Hirnstrukturen. Doch sollte man Folgendes nicht verwechseln: Diese Kenntnisse stehen in keinem kausalen Zusammenhang dazu, dass heute offenbar stärker emotional reguliert werden muss (wenn dem so sein sollte), denn kognitiv umstrukturiert. Die Bedingungen, die sowohl unsere Kognitionen als auch unsere Emotionen von Kindesbeinen an beeinflussen, sind und bleiben soziale.

Liebe Leserinnen und Leser, machen Sie sich mit uns auf eine Reise in die Welt der Emotionen. Als fundamentale Bestimmung unseres Daseins finden Sie Auseinandersetzungen vielfältiger therapeutischer Schulen zum Thema im vorliegenden Heft. Zu diesem übergreifenden Gegenstand sollen sie natürlich auch Anregungen zum Weiterlesen und -denken sein – wie immer über den eigenen schulenspezifischen Tellerrand hinaus.

Maria Borcsa & Michael Broda

 
  • Literatur

  • 1 Bente G, Fromm B. Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkungen. Opladen: Leske und Budrich; 1997
  • 2 Bude H. Das Gefühl der Welt: Über die Macht von Stimmungen. München: Hanser; 2016