Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(49): 1403-1409
DOI: 10.1055/s-2002-18877
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Immunschwäche

Immune deficiencyJ. Steinmann, D. Kabelitz
  • Institut für Immunologie, Universitätsklinikum Kiel
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Publication Date:
06 December 2001 (online)

Infektionskrankheiten sind das Ergebnis einer Interaktion zwischen Mikroorganismus und Patient. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit hängt damit einerseits von der Art, der Anzahl und der Eintrittspforte der beteiligten Mikroorganismen, anderseits von der Fähigkeit des Patienten zur unspezifischen und spezifischen Infektabwehr ab.

Nicht nur bei Heilpraktikern ist Immunschwäche eine beliebte Diagnose. Die therapeutischen Möglichkeiten, von Akupunktur über Phytotherapeutika und Spurenelemente bis zu den Vitaminen (A bis E) sind schnell zur Hand und sowohl preiswert als auch beliebt. Im Folgenden Artikel geht es dagegen nicht um Befindlichkeitsstörungen, sondern um signifikante Funktionsdefizite des Immunsystems, und es sollen konkrete Hinweise zur Diagnostik und Behandlung dieser Patienten gegeben werden.

Das Leitsymptom der Immunschwäche ist die Infektanfälligkeit. Viele Infektionskrankheiten begründen schon deshalb nie den Verdacht einer Immunschwäche, weil nach einer ausreichenden Erstexposition die meisten Menschen erkranken.

Beispiel: Masern. Wer nicht durch Impfung, Vorerkrankung oder passiv (z. B. »Nestschutz«, d. h. mütterliche, plazentar übertragene Immunglobuline) geschützt ist, wird nach Exposition an Masern erkranken. Die Masernerkrankung eines Nichtimmunen weist also nicht auf eine Immunschwäche hin, sondern ist die normale Auseinandersetzung mit dem Virus.

Gegenbeispiel: Pneumocystis-carinii-Pneumonie. Pneumocystis-carinii-Infektionen finden ständig statt und bleiben normalerweise symptomlos. Eine von diesem Keim ausgelöste Pneumonie ist immer dringend verdächtig auf eine Immunschwäche. In Europa und Nordamerika war die Pneumocystis-carinii-Pneumonie früher (ohne Prophylaxe) bei etwa der Hälfte aller HIV-Patienten die Erstmanifestation von AIDS.

Die meisten Infektionskrankheiten liegen zwischen diesen beiden Extremen. Damit erfordern sie ein kritisches Abwägen, ob die Erkrankung als Hinweis auf eine Immunschwäche gewertet werden kann oder nicht.

Definition: Immunschwäche ist eine angeborene oder erworbene relative Infektanfälligkeit. Relativ heißt hierbei, im Verhältnis zu einer sorgfältig gewählten Referenzgruppe. Bei 80- jährigen Kettenrauchern ist eine Pneumokokken-Pneumonie selbst nach wiederholtem Auftreten anders zu beurteilen (nämlich nicht als Hinweis auf eine Immunschwäche) als bei Kindern oder jungen Erwachsenen. Dagegen sind sechs bis acht (komplikationslose) Erkältungen im Jahr bei Kleinkindern normal. Neben dem Alter und der Immunisierungs-Anamese gibt es zahlreiche weitere Parameter, die die Wahrscheinlichkeit von Infektionskrankheiten beeinflussen. Die immer wieder zitierte Ernährung wird sicher oft überschätzt, spielt aber zumindest beim Eiweißmangel (z. B. bei Anorexia nervosa) eine gut dokumentierte Rolle. Weit häufiger sind in den Industrieländern Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus oder Emphysem für eine nicht immunologisch bedingte Infektanfälligkeit verantwortlich. Eine erhebliche Rolle spielen Vorerkrankungen der Atemwege, aber auch der ableitenden Harnwege. Die Schwangerschaft beeinflusst die Infektabwehr sowohl nichtimmunologisch als auch über das Immunsystem. Oft wird vernachlässigt, dass die arbeitsteilige Gesellschaft eine sehr unterschiedliche Exposition gegenüber weit verbreiteten Krankheitserregern zur Folge hat. Wir müssen erwarten, dass Lehrerinnen oder Supermarkt-Kassiererinnen wegen der hohen Expositionswahrscheinlichkeit häufiger erkältet sind als zum Beispiel Programmiererinnen.

Abb. 1 Interstitielle Pneumonie: Pneumocystis-carinii-Infektion bei zellulärer Immunschwäche (zur Verfügung gestellt von Dr. G. Sötje, Städtisches Krankenhaus Kiel).

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Korrespondenz

Prof. Dr. med. Jörg Steinmann

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