Fortschr Neurol Psychiatr 2002; 70(11): 569
DOI: 10.1055/s-2002-35175
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Neurasthenie als ewiger Wiedergänger

The Neurasthenia as Eternal RevenantU.  H.  Peters1
  • 1Klinik und Poliklinik für Neurologie und Psychiatrie der Universität zu Köln
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Oktober 2002 (online)

Da hatte man geglaubt, die Neurasthenie sei für ewig begraben, vom naturwissenschaftlichen Fortschritt zugedeckt, von verfeinerten psychodynamischen Theorien bis zur Unkenntlichkeit zerdeutet, eine Fußnote nur noch in historischen Werken. Und nun ist sie wieder da, gleich in mehrfacher Gestalt, wie M. L. Schäfer in einer breit angelegten Literaturstudie in diesem Heft aufdeckt. Die Dame Neurasthenia hat ihre Gestalt dem Zeitgeist angepasst und heißt nun Chronic fatigue (CFS), Fibromyalgia (FM) und Multiple chemical sensivities (MCS). Die Ausdrücke dürfen auch ins Deutsche übersetzt werden, wirken dann aber nicht mehr wissenschaftlich. Sogar Neurasthenia darf man wieder sagen, ohne als unmodern zu gelten. Auch die alten Ursachenvorstellungen sind wieder da: Es gibt ganz bestimmte organische Ursachen, nur hat man diese noch nicht gefunden, in den Labors wird schon emsig gesucht.

Diese Tatsachen allein sind schon Grund genug für Diskussionen und Reflexionen. Aber es gibt mehr. So fällt es den Nervenärzten aller Schattierungen und Spezialgebiete schwer anzuerkennen, dass die Prägungen der Geschichte, Aberglaube und Zeitgeist ihre wissenschaftlichen Vorstellungen immer wieder in vorgeformte Bahnen lenken. Apropos Geschichte: die Frühgeschichte der Neurasthenie beginnt nach Schäfer schon bei Galen unter dem Namen Hypochondrie mit der Schwarze-Galle-Theorie. Apropos Aberglaube: Der Volksglaube vom ewigen Wiedergänger besagt auch, dass dieser einen besonders bösartigen Charakter hat und man ihn zerstückeln muss, ihm Kopf und/oder Glieder abschlagen wie im Jahre 896 bei Papst Formosus. Man darf auch an den Zauberlehrling denken. Einen Zauberbesen kann man nicht zerschlagen, die Einzelteile werden so lebendig wie das Ganze. Apropos Zeitgeist: Unser Zeitgeist glaubt, dass unsere Nahrungs- und Heilmittel multiple chemische Gifte enthalten, obwohl sie noch nie in der Geschichte so sauber waren wie heute. Unser Zeitgeist glaubt auch, dass es Überforderung und Überarbeitung sind, das moderne Arbeitsleben, welche den Menschen für den Rest des Lebens ständig müde und erschöpft werden lassen. Dabei wurde noch nie so wenig gearbeitet wie in unserer Zeit.

Offenbar hat keiner bisher versucht, die Kosten nachzurechnen, die der Gesellschaft auf vielfältige Weise durch die alte und die neue Neurasthenie entstehen. So lange nur wohlhabende Leute von ihrem eigenen Geld bei dem Neurologen Silas Weir-Mitchell monate- und jahrelange Ruhekuren durchführten, mochte es noch angehen. Sie hätten das Geld sonst wahrscheinlich noch unsinniger ausgegeben. Wenn aber in einer modernen Sozialgesellschaft die Arbeitenden die Mittel (Krankenkassen- und Versicherungsbeiträge, Rentenversicherungsbeiträge, Steuern usw.) für die Ruhenden aufbringen müssen, ist das eine andere Sache. Was kosten „Krankschreibungen” (nomen es omen) über sehr lange Zeit? Was kosten „psychosomatische Kuren in schönen Gegenden” (Volksmund)? Was kosten Frührenten und Vorruhe (Politikerwortschatz)? Kann die Gesellschaft von den Neurologen, Psychiatern, medizinischen Psychotherapeuten und Psychosomatikern erwarten, dass sie sich dem Zeitgeist entgegenstemmen und auch den Neu-Neurasthenikern die Maske vom Gesicht reißen? Obwohl doch, psychoanalytisch gesprochen, die Abwehr in die vorderste Linie verlegt worden ist und schon der Gedanke an eine nichtorganische Ursache als Beleidigung empfunden wird? Was also können diese Ärzte tun? - Ob die Nervenärzte Mittel und Methoden gegen Neurasthenien haben oder nicht, keiner außer ihnen kann etwas tun. Ob die Gesellschaft ein Recht hat, es von ihnen zu erwarten oder nicht, sie tut es. Wir müssen darüber diskutieren.

Prof. Dr. Uwe Henrik Peters

Klinik und Poliklinik für Neurologie und Psychiatrie der Universität zu Köln

Joseph-Stelzmann-Str. 9

50931 Köln

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