Suchttherapie 2003; 4(2): 65-71
DOI: 10.1055/s-2003-39564
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sucht als Abwehrorganisation. Perspektiven einer operationalisierten psychodynamischen Diagnostik der Sucht

Addiction as a Defensive Organisation. An Attempt at Operationalysing the Psychodynamic Diagnostics of AddictionDieter Nitzgen1
  • 1Rehabilitationsklinik Birkenbuck der LVA Baden-Württemberg
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Publication Date:
28 May 2003 (online)

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit stellt die Frage nach der Möglichkeit eines psychodynamisch stringenten Suchtbegriffs. Im Mittelpunkt steht dabei der Vorschlag von R. Voigtel, Sucht psychodynamisch als „Überlassung an ein unbelebtes Objekt” zu bestimmen. Dieser Vorschlag wird kritisch diskutiert und mithilfe der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) auf seine mögliche „Operationalisierbarkeit” hin überprüft, wobei die Verwendung der OPD in der Suchtdiagnostik erläutert wird. Zusammenfassend wird die süchtige Psychodynamik abschließend als Ausdruck einer komplexen „Abwehrorganisation” charakterisiert und nicht nur als Resultat eines einzelnen, suchtspezifischen „Mechanismus”.

Abstract

The present paper focusses on the possibility of a psychodynamic conception of addiction. Starting from R. Voigtel's suggestion to define addiction psychodynamically as a ‘surrender to an inanimate object’, this assumption is being critically examined with special reference to its possible ‘operationalisation’. To do so, the instrument of the ‘Operationalised Psychodynamic Diagnostics’ (OPD) is being employed and its use in the diagnostic process of addiction elucidated. Finally, the dynamics and structure of the addictive process are characterised as the outcome of a complex ‘defensive organisation’, which diagnosis is greatly facilitated by using the OPD.

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1 Das damit verbundene Paradoxon hat S. Geismar-Wieviorka [20] in ihrer Rekonstruktion des süchtigen Denkens formuliert, wenn sie einen Wunsch nach „Superunabhängigkeit” bei Süchtigen feststellt: „Sie glauben an die absolute Unabhängigkeit, und da sie diese nicht erreichen können, ziehen sie eine völlig abhängige Lebensweise vor.”

2 Zu den Begriffen „kategorial” und „dimensional” vgl. Kernberg [24], vor allem S. 57 ff. und 61.

3 Dem entspricht auch die These Khantzians [34] von der „Wahl” des Suchtmittels als Form einer auch pharmakologisch sinnvollen „Selbstmedikation” (1985).

4 Diese Definition könnte Anlass zu Missverständnissen geben, insofern die OPD [40] den Begriff „Modus der Konfliktverarbeitung” i.S. eines habituell vorherrschenden, passiven und/oder aktiven „Modus” der Konfliktverarbeitung definiert, also als „eine grundsätzliche Bipolarität zwischen Passivität und Aktivität, zwischen Selbst- und Objektbezogenheit” (S. 125). Dieser bipolare Modus der Konfliktverarbeitung ist weder theoretisch noch empirisch „suchtspezifisch”; er liegt auf einer anderen theoretischen „Ebene”. Empirisch ergab sich beispielsweise in unserer Untersuchung [41] alkoholabhängiger Patienten keine eindeutige Prävalenz einer vorwiegend aktiven und/oder passiven Konfliktverarbeitung (mit Ausnahme des Versorgungs-/Autarkiekonflikts, bei dem die passive Verarbeitung eindeutig überwog; vgl. S. 243).

5 Insofern diese für die vorliegenden Fragestellungen nicht in dem Maße relevant ist wie die Konflikt- und Strukturachsen.

6 Wobei es in diesem Zusammenhang erwähnenswert ist, dass gerade die kleinianischen Autoren (Joseph, Meltzer, Rosenfeld u. Steiner) immer wieder die enge Beziehung zwischen „pathologischer (Abwehr-)Organisation” und Sucht betont haben.

7 Und eben nicht nur die neurobiologischen. Allein aus diesem Grund erscheint die von Tretter [54] unlängst beklagte „Substitution psychologischer Begriffe durch neurobiologische Begriffe” (S. 73) in der suchttherapeutischen Praxis aus psychodynamischer Sicht grundsätzlich problematisch.

8 Ich danke Herrn Prof. Dr. J. Küchenhoff für seine wohlwollend-kritische Durchsicht meiner Arbeit vor allem im Hinblick auf die OPD; seine Anmerkungen haben wesentlich zur Präzisierung des Textes beigetragen.

M.A. D. Nitzgen

Rehabilitationsklinik Birkenbuck der LVA Baden-Württemberg, Bereichsleiter Aufnahme und Diagnostik

79429 Malsburg-Marzell

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