Suchttherapie 2003; 4(2): 83-88
DOI: 10.1055/s-2003-39565
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Suchtbehandlung und Suchtforschung: Paradigmen zwischen Alltag und Vision

Addiction Treatment and Research: Paradigms between Routine and VisionsAlfred Springer1
  • 1Ludwig-Boltzmann-Institut für Suchtforschung - LBI
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Publication Date:
28 May 2003 (online)

Einleitung

Als mir die ehrenvolle Aufgabe gestellt wurde, mich an jenem Symposium zu beteiligen, das tangential das Lebenswerk Ambros Uchtenhagens würdigen sollte, schwankte ich zunächst, welchen Inhalt ich zu diesem Zweck aufgreifen sollte. Schließlich blieb ich an dem Begriff „Vision” hängen. Ich möchte den Aspekt der Spannung zwischen Realität und Vision, der im Titel des Symposiums aufgezeigt wird, aufgreifen und den Stellenwert des Utopischen für unseren Arbeitsbereich zur Diskussion stellen.

Begriffliche Reflexion

Seit Menschengedenken befassen sich Menschen damit, dem Mangel und der Begrenztheit des eigenen Seins, der eigenen Erfahrungen, der eigenen Möglichkeiten zu entfliehen. Die Räume, die sie sich dafür erdenken, werden in einem utopischen Reich angesiedelt, die „UTOPIE” ist der Entwurf des Reiches Nirgendwo.

Utopien sind Vorstellungskomplexe, die auf eine die gegenwärtige Ordnung verändernde Aktion zielen. Sie dienen dazu, die Aufmerksamkeit an Aspekte der Situation zu richten, die sonst, aus welchen Gründen auch immer, unbemerkt blieben.

Um verändernd wirksam zu sein, muss das Denken, das sich auf den utopischen Raum richtet, ein Denken von dem sein, das noch nicht ist, das aber als Möglichkeit besteht. Die Kategorie MÖGLICHKEIT kann sich dabei sowohl auf den Modus der Aussage (des Denkens) beziehen als auch auf den Modus des Seins.

Sein und Denken sind nicht einfach durch ein Abbildungsverhältnis verknüpft, so dass der Denkmodus Möglichkeit als Spiegelbild des Seinsmodus Möglichkeit betrachtet werden könnte. Vielmehr gibt es Verschiebungen, das real Unmögliche kann immer noch denkmöglich sein: z. B. das Paradies oder das Schlaraffenland.

Die Möglichkeit wiederum kann angesehen werden als der Seinszustand der Welt schlechthin, im Sinne einer Welt, die von der Zukunft Neues zu erwarten hat. Was wirklich ist, bildet nur einen Ausschnitt aus der Welt der Möglichkeiten und mit jedem Fortschreiten des Weltprozesses entstehen neue Möglichkeiten, mehr und (hoffentlich) reichere, als jemals verwirklicht werden. Insofern ist die grundsätzliche Voraussetzung für utopische Entwürfe das „Prinzip Hoffnung”, das die Gestalt der Idee von einer guten Welt, in der der Mensch nicht mehr zum Wolf für den Menschen wird, annimmt.

Utopische Entwürfe lassen sich in allen Epochen der Kulturgeschichte nachweisen. Ihre Spuren gehen nicht verloren. Elemente der früh entwickelten Gedankengebäude lassen sich auch in späteren Entwürfen bis in jene des 20. Jahrhunderts hinein erkennen.

Utopie als Objekt gesellschaftspolitischer und sozialpsychologischer Forschung:

Die Philosophie der Utopie: Ernst Bloch

Der Philosoph Ernst Bloch setzte sich in seinem Lebenswerk zentral mit dem Problem der Utopie auseinander. Von seinem frühen Hauptwerk „Geist der Utopie” aus dem Jahre 1917 [1] über das in der Emigration veröffentlichte Werk „Freiheit und Ordnung” [2] bis zum späten Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung”(ab 1954 erschienen) [3] umkreiste sein Denken die Bedeutung des Noch-nicht-Gewordenen als Motivation menschlichen Handelns und als Grundbedingung des menschlichen Fortschritts. Bereits im Zusammenhang mit seiner Doktorarbeit über Erkenntnistheorie fand er als Ausgangspunkt seiner eigenen Philosophie die doppelte Bewegung auf das „Noch-nicht-Bewusste” und das „Noch-nicht-Gewordene”. In seinem ersten größeren Text, im Geist der Utopie, formulierte er den utopischen und hoffenden Ausgriff auf das Noch-Nicht des Künftigen: „Zuviel ist voll vom Etwas, das fehlt. Etwas treibt in uns, will weiter, hält es nicht bei sich aus, will aus sich heraus.”

In Blochs Interpretation gründet die Basis des modernen utopischen Denkens - als „Reflex des antizipierten Bonum” - auf zwei Wurzeln:

  • den Sozialutopien

  • dem Naturrecht, das mittels Vernunftsschlüssen zu den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit gelangen will.

Er meinte, dass Sozialutopien grundsätzlich progressiv eingestellt sind, während dem Naturrecht entnommene Vorstellungen in ihrer Einstellung ambivalent bleiben. Er erkannte, dass es durchaus möglich ist, dass im Sinn des Naturrechts traditionelle Positionen gegenüber dem Fortschritt vertreten werden und traditionelle Wertvorstellungen Rechtfertigung finden.

In seinem in der Emigration erschienenen Werk „Ordnung und Freiheit” widmete er sich der Erörterung der dialektischen Beziehung dieser beiden Kategorien.

Dabei definierte er Freiheit als Unabhängigkeit vom Schicksal, die positiv wird als Ordnung ihrer selbst. Die aus der unentfremdeten, unentäußerten Subjekt-Objektivierung aufgehende Ordnung ist - als Frucht der Freiheit - selber erst die zu findende. Ordnung ist das eigentliche Reich im Reiche der Freiheit, das folglich höchst utopische. Konkret gewordene Utopie gibt den Schlüssel dazu, zur unentfremdeten Ordnung in der besten aller möglichen Gesellschaften. Träger der Umsetzung des utopischen Gedankens müsse der arbeitende Mensch sein: Hat er sich erfasst und das Sein ohne Entfremdung und Entäußerung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, worin noch niemand war: Heimat.

Gegen den Vorwurf, eine solche Welt sei nicht realisierbare Utopie, setzte Bloch den Begriff der „konkreten Utopie”, der den Utopiebegriff positiv absetzt gegen bloße Träumerei oder Verbannung aller Hoffnungen auf eine bessere Welt ins Jenseits. Utopie ist für Bloch etwas höchst Reales, ein hohes Ziel, das aber in der allernächsten menschlichen Nähe liegt.

Insofern bedeutet utopisches Bewusstsein bei Bloch nicht unkonkrete, beziehungslose Schwärmerei, sondern ist als Mischung von nüchterner Analyse einerseits und Sehnsucht nach Veränderungen bzw. der Arbeit an Veränderungen andererseits schließlich „die Kraft, die vorwärts treibt”. Hoffnung und Utopie sind bei Bloch auf konkrete Zielinhalte gerichtet: auf einen realen Humanismus, eine Gesellschaft, in der Menschen das ihnen zustehende Naturrecht zu handeln, sich selbst als geltenden Wert fordernd einzubringen und nicht stehen zu bleiben in der Position des/der Erniedrigten und Beleidigten in Anspruch nehmen und einen „aufrechten Gang” wagen können.

Bloch interessieren utopische Entwürfe grundsätzlich, unabhängig davon, ob sie als Gedankengebäude bestehen oder in seinstranszendenten Bewegungen politisch reale Gestalt angenommen haben.

Dementsprechend beinhalten seine Utopiestudien einen historischen Überblick über die Entwicklung des utopischen Denkens von der Antike bis in die Kerne utopischen Denkens in der Jugend- und Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts.

Die Wissenssoziologie der Utopie: Karl Mannheim

Karl Mannheim veröffentlichte 1929 sein bahnbrechendes Werk „Ideologie und Utopie” [4], in dem er erstmals seine Überzeugung von der historischen und sozialen Bedingtheit allen Erkennens als Grundlage seiner wissenssoziologischen Lehre zur Diskussion stellte. Mannheim wollte die Analyse menschlichen Denkens aus der Begrenzung durch die Zuweisung des Objekts zu Philosophie, Psychologie und Logik herauslösen und entwickelte deshalb einen Zugang, der helfen sollte, das Denken im konkreten Zusammenhang einer historisch-gesellschaftlichen Situation zu verstehen. In der zeitgemäßen Auseinandersetzung mit der Bedrohung durch Faschismus und Kommunismus suchte er nach einer objektiven sozialwissenschaftlichen Vorgehensweise, die sowohl „ideologisches” als auch „utopisches” Denken in ihrem jeweiligen historischen und sozialen Kontext versteht.

Er definierte als Utopie jene seinstranszendenten Vorstellungen, die irgendwann einmal transformierend auf das historisch-gesellschaftliche Sein wirkten. Das heißt, dass für seine Untersuchung nicht der utopische Wunsch allein, sondern seine Verwirklichung dementsprechend der zumindest versuchsweise umgesetzte Wunsch von Relevanz war. Diesem Ansatz folgend versuchte er eine historisch-soziale Differenzierung und unterschied zwischen verschiedenen idealtypischen Gestalten des utopischen Bewusstseins, die jeweils epochentypisch in Aktion getreten waren und entsprechend verschiedene Charakteristika aufgewiesen hatten. Die von ihm entwickelten idealtypischen Konstruktionen sollten nicht nur „psychologische Tatsächlichkeiten”, sondern in ihnen sich entfaltende „Strukturen” in „Reinheit” erfassen.

Die idealtypischen Gestalten des utopischen Bewusstseins nach Karl Mannheim

  • Als die früheste Gestalt, die der utopische Gestus angenommen hat, erkannte Mannheim die Umgestaltung des Chiliasmus im Mittelalter. Nach ihm ist der entscheidende Punkt darin zu sehen, dass der chiliastische Gedanke, die Fantasie vom tausendjährigen Reich, mit dem aktiven Wollen unterdrückter Schichten in ein Bündnis eintrat. Soziale Relevanz gewann diese Fusion dadurch, dass aus ihr heraus die Bewegungen der Wiedertäufer, der Hussiten, vor allem aber des Thomas Münster, entstanden. Diese utopische Sozialbewegung war derb, materiell und spirituell zugleich. Mannheim meinte, dass die daraus aufbrechende revolutionäre Praxis nicht von Ideen bedingt war, sondern durch orgiastisch-ekstatische Energien.

    Als wichtigstes chiliastisches Merkmal bezeichnete er die Erfahrung absoluter Präsenz. In diesem Sinne sah er Entsprechungen zur Position des Mystikers. Der Mystiker lebe in Erinnerung oder in Sehnsucht nach Ekstase. Seine Gleichnisse beschreiben diese als eine Vermählung in geschlossener Jenseitigkeit. Im chiliastischen Erleben schlage eventuell diese Vorstellung ins unmittelbare Hier und Jetzt um. Was der Chiliast erwartet, ist die Vereinigung mit dem Jetzt. Auch der Wunsch nach dem Millennium transformiert sich zum ekstatischen Bedürfnis nach einem hier und jetzt zu geschehenden Umschwung in ein andersartiges Sein.
    Mannheim meinte, dass diese chiliastische Position letztlich allen revolutionären Ausbrüchen immanent sei, diesen ihre „Seele” verleihe.

  • Im Zeitalter der Ratio und Aufklärung treten dann rational-utopische Vorstellungen in den Vordergrund. Ihre früheste Gestalt nehmen sie in der liberal-humanitären Utopie an. Das rational-utopische Bewusstsein beschrieb Mannheim als abwägend, rationalistisch, aufklärerisch. Dadurch wurde es zum ersten Gegenspieler des chiliastischen Bewusstseins.
    Es resultierte aus einer umgreifenden Umwälzung, der völligen Veränderung des sozialen Weltbildes. Es entstand nicht in einer unterdrückten Schicht, sondern wurde von einer „in bewusster Selbstzucht sich bändigenden Mittelschicht, die Kultiviertheit und Ethik zunächst als eine Selbstlegitimierung (dem Adel gegenüber) erlebte und die Erlebnisbasis unversehens vom ekstatischen Zentrum ins Bildungserlebnis verschob” (Zitat nach Mannheim) entwickelt.
    Bestimmend für diese utopische Zielvorstellung und Zielrichtung war das Pathos der Aufklärung, dass endlich Licht werde, sowie die bedingungslose Akzeptanz eines freien Willens und die Fortführung eines Unbedingtheitserlebnisses.

  • Konservative Utopie: Das konservative Bewusstsein verfügt bei Mannheim an und für sich über keine Utopie, da es daran orientiert ist, alles Umgebende als der Weltordnung zugehörig und daher aproblematisch zu empfinden; es ist seiner Struktur nach völlig in Deckung mit der jeweils von ihm beherrschten Wirklichkeit. Konservative Utopien entstehen jedoch aus dem Gegensatz zum Liberalismus und in der Unterdrückung des Chiliastisch-Ekstatischen. Im Gegensatz zum Liberalismus wird die Idee nicht als vorantreibende Kraft erfasst, sondern wird auf die Suche nach der „inneren Form” gerichtet. In dieser Suche lebt das „Bedingtheitserlebnis”, das nach außen gerichtet auch im Betonen der historischen Bedingtheit zum Ausdruck gelangt. Der Mensch ist in der konservativen Weltsicht nicht absolut frei. Die jeweilige innere Form der historischen Individualität, sei es die eines Individuums oder des Volksgeistes, und die äußeren Umstände samt der dahinter stehenden Vergangenheit bestimmen tendenziell die Gestalt des Werdenden.

    Als konservative Gestalt der Utopie bezeichnete Mannheim den „Gedanken der in die Wirklichkeit eingesenkten Idee”. Diese entwickelt sich im Kampf gegen den Liberalismus, die liberale ins Rationalistische übersetzte Idee. Während im Liberalismus die Betonung auf dem Sollen liegt, liegt sie beim Konservativismus auf dem Sein.

    Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Kontroverse zwischen Liberalismus und Konservativismus ist die Bewertung des zeitlichen Kontinuums. Dem Liberalen gilt die Vergangenheit nichts, die Zukunft alles, der Konservative sucht in der Hochschätzung des Vergangenen, in der Suche nach der Werte schöpfenden Zeit die Bestätigung der Bedingtheit. Im konservativen Bewusstsein verleiht eine virtuelle Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart dem Zeiterleben eine imaginäre Dreidimensionalität.

    Der Zeitbezug ist auch ein wesentlicher Faktor in der Abgrenzung vom Chiliasmus, dem das konservative Bewusstsein von jeher als einem inneren Feind entgegensteht. Das chiliastische Bewusstsein steht außerhalb der Zeit, heiligt den zufälligen Augenblick. Ein weiteres Charakteristikum der chiliastischen Idee, die „innere Freiheit”, wird ebenfalls von der konservativen Idee als feindlich erlebt und beschwichtigt. Die „innere Freiheit” soll sich nach der herrschenden konservativen Vorstellung der objektivierten Sittlichkeit unterordnen; die innere Freiheit wird in die objektive Freiheit gebunden

  • Sozialistisch-kommunistische Utopie

    Auch diese Utopie erwuchs laut Mannheim aus der Spannung zu den anderen utopischen Entwürfen. Im Sozialismus wird die chiliastische Bewegung als anarchistische Gefahr unterdrückt und der liberale Gedanke radikalisiert. Dabei wird die Utopie durch eine Erhebung, Vergeistigung des aus der Nähe greifbaren historischen Gefüges immer näher an das diesseitige historisch-soziale Leben herangerückt. Dieser Prozess basiert auf der Einverleibung des konservativen Bedingtheitsbewusstseins in die progressive, die Welt verändern wollende Utopie. Aus dieser geänderten Positionierung des Bedingtheitserlebnisses ergibt sich das Neue. Während der Konservative dieses zwangsläufig mit einer Gegenwartsbejahung verknüpft, verbindet sich im Sozialismus mit ihm eine nach vorwärts strebende soziale Kraft mit selbsttätiger Bremsung der revolutionären Tat. Diese veränderte Gestalt des Bedingtheitsbewusstseins tritt gegenüber der liberalen Idee der Unbedingtheit in Konkurrenz. Im sozialistischen Bewusstsein wird die Utopie an die Wirklichkeit herangeführt. Wohl wird am Ende des Prozesses die Idee in ihrer verheißungsvollen Unbestimmtheit und Unbedingtheit belassen, aber der das Sein zur Sinnerfüllung führende Weg ist historisch und sozial differenziert.

Die Bedeutung des Utopischen für Drogenpolitik und Suchtforschung

Ähnlich wie Ernst Bloch die aktuellen Transformationen im utopischen Denken in Jugend- und Frauenbewegung untersucht hat, können wir der Frage nachgehen, in welchem Bezug geläufige drogenpolitische Einstellungen zu den bekannten utopischen Vorstellungen und Entwürfen stehen und als Bezugstheorie unserer Zuordnungsversuche die Mannheim’sche Klassifikation benutzen.

Für unser Thema relevante und in aktuelle utopische Entwürfe hineinragende derartige Gedankengebäude sind bereits in der Antike zu orten. Drei dieser Grundtypen utopischer Entwürfe, die von Bedeutung für die aktuelle drogenpolitische Auseinandersetzung scheinen, möchte ich kurz ins Gedächtnis rufen.

Hedonistische Utopie

Aristipp, der Kopf der Hedoniker, lehrte, dass nicht Bedürfnislosigkeit, sondern unbegrenzte kluge Genussfähigkeit der Naturzustand des Menschen sei.

Lust ist nach dieser Vorstellung „der menschliche Teil”; Genuss um seiner selbst willen zu erstreben, unabhängig von der Stillung des Bedürfnisses; das unterscheidet den Menschen vom Tier. Der hedonistische Staat ist gedacht als einer der gegenseitigen und/oder gönnerischen Egoisten. Die beste Gemeinschaft ist jene, die den Bürgern den höchsten Lustgewinn ermöglicht. Ihr eigenes Leben soll der Staat sein, den man ordnet, das soziale Leben soll unaufdringlich sein, wie „Flanieren auf dem Markt”. Eine typische hedonistische Zielvorstellung war die Errichtung eines „Staates der Freunde, nicht wegen des Nutzens, sondern wegen des Vergnügens, das sich daraus ergibt”.

Die platonische Utopie

Nach Ernst Bloch ist der platonische utopische Staatsentwurf, den dieser in seiner „Politeia” ausführte, ebenso durchdacht wie reaktionär. Die freiheitliche Richtung wird in ihm gegenüber dem ursprünglichen (hedonistischen) Traum vom goldenen Zeitalter umgekehrt: Es wird nicht mehr goldene Urzeit herbeigeträumt, sondern statt unerreichbarer (verlorener) Freiheit erscheint unerreichte Ordnung. Es gibt kein libertinistisches Naturrecht, sondern ein unmittelbar hierarchisches. Die Ordnung in diesem Staatswesen ist „spartanisch”. Die Menschen sind alle nur dazu frei, tragend, schützend, erhellend im Gliederbau zu sein, der „Staatssittlichkeit” und der „Gerechtigkeit” zu dienen.

Rabelais und „Thelema”

Der französische Mönch, Arzt und Schriftsteller Francois Rabelais eröffnete in seinem Roman „Gargantua” [5] einen Raum, in dem utopische Vorstellungen gelebt werden: die Abtei Thelema. Thelema bedeutet auf Griechisch „freier Wille”. Diese Abtei steht freien und edlen Menschen offen, um in ihr nach dem einzigen Grundsatz „Tue, was dir gefällt” zu leben. Diese Utopie ist einerseits sicherlich im Gefolge hedonistischer Vorstellungen zu verstehen, stellt andererseits aber insofern eine Übergangsform dar, als die Frage nach der Moral gestellt wird. Die hedonistische Zielvorstellung ist bei Rabelais nicht unbeschränkt egoistisch, denn getreu humanistischen Vorstellungen versteht es sich von selbst, dass der freie und edle Mensch auf sich gestellt das „Richtige” zu tun weiß. Insofern ist in dieser Wunschwelt auch ein Element der stoischen Utopie von Zenon enthalten. Auch Zenon ging in seiner „Politeia”, einer Weltstaat-Träumerei, von einzelnen, innerlichen, sittlich frei gewordenen Menschen aus. Auch in dieser „Politeia” gibt es keine Macht über andere, keine Gerichte, kein Geld. In der Thelema-Vorstellung verschmelzen dementsprechend hedonistische und stoische Wunschprojektionen. Die Abtei „Thelema” ist das Wunschbild eines Ortes, in dem freie Individualität und Schicksal zur Deckung kommen, entsprechend der Maxime, dass nur der, der frei seinem Willen vertraut und folgt, vom Schicksal dafür belohnt wird.

Die Rabelais’sche Utopie scheint bei Bloch nicht auf. Für unsere Fragestellung hat sie jedoch einige Bedeutung.

Die aktuelle Situation

Wenn wir nun konkret unserer Fragestellung nachgehen, finden wir, dass drogenpolitische Positionen - sowohl auf Seiten der Kontrollinstanzen als auch auf Konsumentenseite - als gemeinsamen Grundzug eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Unzufriedenheit mit dem Status quo aufweisen, den sie in der einen oder andern Weise - als Utopisten eben -verändern möchten:

Wir stoßen bei unserer Analyse auf widersprüchliche gesellschaftspolitische Utopien, die parallel zueinander existieren.

  • Besonders prominent ist die konservative Utopie einer „drogenfreien Gesellschaft”. Aus ideengeschichtlicher Sicht handelt es sich bei ihr um eine „platonische” Utopie. Ihre repressive Ausrichtung lässt sich aus der vorhin zitierten Bloch’schen Interpretation der „Politeia” erklären. An sich könnte die Vorstellung, eine drogenfreie Gesellschaft zu bilden, auch progressiv sein. In der aktuellen Gestalt rückt sie jedoch in den konservativen Raum, da sie nicht nur im Allgemeinen von konservativen Parteien verfochten wird, sondern auch in ihrer Hintergrundsphilosophie und ihrer präventiven Ausrichtung auf einem deutlich erkennbaren Wertekonservativismus aufbaut.
    Die reaktive Entstehung dieser Position wird auch daran deutlich, dass sie als Antwort sowohl auf die chiliastische Position bestimmter Konsumentengruppen und Konsumideologien als auch auf liberale Positionen entwickelt wurde.

  • Die sozial-progressive Utopie einer suchtfreien Gesellschaft, die Drogengebrauch ermöglicht und Rahmenbedingungen bereitstellt, die einen sicheren, suchtfreien Konsum ermöglichen. In dieser Vorstellung vermengen sich liberale und sozialistische Vorstellungen mit hedonistischen Anteilen vom Typus des Traums vom Schlaraffenland.

  • Eine pädagogische Utopie, die Menschen heranbilden will, die risikofrei konsumieren können, da sie in ihrer Persönlichkeitsstruktur so gefestigt sind, dass süchtige Auswege unnötig erscheinen. Diese Position ist einerseits auf Vorstellungen aus dem Raum der liberal-humanitären Utopie zurückzuführen, schließt aber ebenso auch Anteile sozialistischer Utopien ein.

  • Eine libertinäre Utopie, die überwiegend hedonistischen Mustern verpflichtet ist.
    Bewusst knüpfte Aleister Crowley [6 8] an diese Tradition an, als er den Ort, der die Rituale seiner verschworenen magischen Gemeinschaft („Brotherhood of the Silver Star”) auf Cefalu beherbergen sollte, „Thelema” benannte und die Rabelais’sche Gesetzesformel „Tue, was du willst” als verbindlich erklärte (Do What Thou Wilt Shall Be The Whole Of The Law). Der Rabelais’sche Humanismus ging dabei evtl. verloren: Es ist fraglich, ob der Rabelais’schen Moral die Umsetzung des Leitsatzes „Tue, was dir gefällt” in Sexual- und Drogenriten entsprochen hätte. Dies ist nicht anzunehmen, da Rabelais zum Beispiel im Kapitel über das „Kraut Pantagruel” (Hanf) explizit vor den Folgen des Cannabisgenusses warnte. Andererseits ordnen bestimmte Kenner und Interpretatoren des Crowley’schen Entwurfs auch seiner Auffassung eine moralische Haltung zu. Nach diesen Autoren fordert Crowley in dieser Formel, dass jeder Mensch seinen eigenen inneren Willen finden solle, der ihn als Individuum konstituiert und dass er dann ausschließlich dessen Anspruch folgen solle. Dann könne er nicht fehlgehen. Diese Selbstbestimmtheit entspräche dann tatsächlich einem „thelemischen Prinzip”[9].
    Aus unserer Kenntnis von der Geschichte der Populärkultur wissen wir, dass die Crowley’sche Utopie einen breiten Schatten wirft. Crowleys Portrait scheint nicht nur unter den Stammvätern der Pop-Geschichte auf, die auf dem Cover des „Sergeant-Pepper-Albums” der Beatles versammelt sind. Er beeinflusste auch andere Pop-Größen wie Edward Bond oder Jimmy Page (Led Zeppelin). Der Filmemacher und Filmskandal-Chronist Kenneth Anger stellte sich frühzeitig in Bezug zu Crowley und schuf mit seinem Mescalin-Ritual-Film „Inauguration of the Pleasure Dome” einen Begriff, der von der Thelema-Vorstellung abgeleitet später einen Leitbegriff für die Disko-Kultur bilden sollte. In Deutschland bildete sich in den 80er-Jahren das Netzwerk Thelema, das die Crowley’schen Intentionen weiter verfolgen wollte [10].
    Ihre gesellschaftlich integrierte aktuelle Gestalt hat diese utopische Vorstellung heute in jener gesellschaftlichen Vorstellung gefunden, die die Rave-Bewegung begleitet und nach der Umsetzung des Konzeptes „sicherer Hedonismus” mittels „safe use” und „safe dance” strebt.

  • Eine „Utopie des Innenlebens”, die sich verschränkt mit mythologischen Utopien von der Wiederbelebung archaischer Strukturen und Gesellschaften, in denen Drogengebrauch ein integriertes - und förderliches - Element der religiösen und sozial-kommunikativen Rituale ist.
    Diese Vorstellung ist eng mit den utopischen Entwürfen von Aldous Huxley [11], Timothy Leary [12 15], ebenso Downing [16] und später Terence McKenna [17] [18] verbunden. In ihrem Bezug zum Paradiesmythos, zu innerweltlicher Mystik und Ekstase repräsentiert sie in gewisser Weise eine moderne Gestalt des Chiliasmus. Blum [19] erweiterte in diesem Kontext die utopische Bedeutung der Rauschmittel und des Rauschmittelgebrauches um eine weitere Facette. Er bezeichnete LSD und ähnliche Stoffe als „Utopiate”. Mit diesem Neologismus wollte er der Auffassung Ausdruck verleihen, dass diesen Substanzen eine katalysatorische Funktion in utopischen Entwürfen zukommt.
    Auf der künstlerisch-gestaltenden Ebene zeugte das Living Theatre mit seiner Produktion „Paradise Now” für die ekstatisch-chiliastische Position.
    Auch diese utopische Vorstellung ist in der aktuellen Situation aktiv. Der oben erwähnte Terence McKenna ist bis über seinen Tod im Jahr 2000 hinaus eine der bestimmenden intellektuellen Einflüsse in der Rave-Bewegung.

Dieser Überblick zeigt, dass in der aktuellen Situation die verschiedenen Entwürfe nebeneinander existieren und Verschränkungen eingehen. An sich bestätigt diese Situation Vorstellungen, die bereits Mannheim entwickelt hatte. Er meinte, dass man, je mehr man in der Zeit voranschreitet, von einer Koexistenz der zunächst nacheinander auftretenden verschiedenen Gestalten der Utopie reden kann. Heute passt sich auch die Utopie der Komplexität postmoderner Bedingungen an [20].

Reflexionen über die Position der Suchtforschung

Im gesellschaftlichen Umgang mit den Suchtphänomenen sind utopische Zielvorstellungen enthalten. Jeweilige parteipolitische Landschaften beinhalten Komponenten utopischer Entwürfe oder bauen auf traditionellen utopischen Vorstellungen auf. Die vorhin aufgelisteten drogenpolitischen Zielsetzungen enthalten Vorstellungen, die wahrscheinlich nie völlig realisierbar, aber nichtsdestoweniger denkbar sind.

Suchtforschung läuft im Spannungsfeld dieser verschiedenen Vorstellungen ab. Da sie eine wissenschaftliche Disziplin repräsentiert, zu deren Aufgabenbereichen auch explizit politische Objekte zählen, bestehen Versuche von Vertretern aller parteipolitischen Ausrichtungen, sich ihrer zu bedienen, um sie eventuell bei der Verwirklichung ihrer utopischen Ansprüche nutzbar zu machen. Wie jede andere Wissenschaft ist andererseits auch Suchtforschung letztlich allein der wissenschaftlichen Erkenntnis verpflichtet. Insofern kann in diesem Kontext die Aufgabe des Suchtforschers nur darin bestehen, sich nicht in der inhaltlichen Ausrichtung der Forschung und Interpretation beeinflussen zu lassen und in Beschränkung auf eine Expertenfunktion Daten zu liefern, die nicht entsprechend politischen Interessen deformiert sind.

Die Utopie der Wissenschaftlichkeit.

Die wissenschaftliche Haltung allerdings ist eventuell ebenfalls nicht frei von utopischen Fallen. Die Rettung der Welt durch wissenschaftliche Erkenntnis ist eine Vorstellung, die als Versuchung stets im Hintergrund lauert und eventuell auch dazu führt, dass ein Forscher, der schließlich selbst auch eine bestimmte politische Einstellung hat, sich jener gesellschaftspolitischen Utopie verpflichtet, die seinen Rettungsfantasien am ehesten entspricht. Aus der Geschichte der Suchtforschung kennen wir etliche Beispiele für dieses Phänomen. Paradigmatischen Rang können in dieser Hinsicht die widersprüchlichen wissenschaftlichen Aussagen in der Heroin- und der Cannabisfrage in Anspruch nehmen, die ein Wissenssoziologe sicherlich zu einem gewichtigen Anteil auf verschiedene ideologische Positionierungen der befassten Experten zurückführen könnte.

Die schönste utopische Fantasie von der Wissenschaft hat wohl Sigmund Freud in seinem Essay über die Zukunft einer Illusion [21] entworfen, indem er ihr einen bedeutenden Rang beim langsamen Aufbau einer vernunftgesteuerten Gesellschaft zuwies.

Literatur

  • 1 Bloch E. Geist der Utopie. München; Duncker und Humblot 1919
  • 2 Bloch E. Freiheit und Ordnung. New York; Aurora 1946
  • 3 Bloch E. Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt; Suhrkamp 1959
  • 4 Mannheim K. Ideologie und Utopie (Schriften zur Philosophie und Soziologie 3). Bonn; Cohen 1929
  • 5 Rabelais F. Gargantua und Pantagruel. Frankfurt; Insel 1974
  • 6 Crowley A. Diary of a drug fiend. London; Collins 1922
  • 7 Crowley A. Moonchild. London; Sphere 1971
  • 8 Crowley A. Das Buch des Gesetzes. Basel; Sphinx 1981
  • 9 Regardie I. The Eye in the Triangle. An Interpretation of Aleister Crowley. Phoenix; Falcon 1970
  • 10 Eschner M D. Netzwerk Thelema. Clenze; Bohmeier und Co 1985
  • 11 Huxley A. The Doors of Perception. London; Chatto & Windus Ltd 1954
  • 12 Leary T, Alpert R. The Politics of Consciousness Expansion.  The Harvard Review. 1963;  1 (4)
  • 13 Leary T, Clark W H. Religious Implications of Consciousness expanding Drugs.  Religious Education. May/June 1963; 
  • 14 Leary T, Alpert R, Metzner R. Rationale of the Psychedelic Training Center. Blum & Assoc 1964 op. cit. Kapitel 9
  • 15 Leary T. Politics of ecstasy. London; Paladin 1970
  • 16 Downing J J. An Experiment in Transpersonal Living. Blum & Assoc 1964 op. cit. Kapitel 8
  • 17 McKenna T K. Food of the Gods: The Search for the Original Tree of Knowledge: A Radical History of Plants, Drugs, and Human Evolution. London; Random Century 1993
  • 18 McKenna T K. True Hallucinations and The Archaic Revival. New York; Fine Communications 1998
  • 19 Blum R and Associates .Utopiates. The Use and Users of LSD 25. New York; Atherton 1964
  • 20 Springer A. Orte Socias C, Marti X, Cerda M (Hrsg) . Lifestyle and Drug Abuse. Implications for prevention.  Polota y consume de drogas en Europa. The 9th annual conference on drug use and drug policy. Palma 2000;  149-166
  • 21 Freud S. Die Zukunft einer Illusion. Wien; Int. Psychoanalyt. Verlag 1927

Univ.-Prof. Dr. Alfred Springer

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