Balint Journal 2003; 4(2): 33-37
DOI: 10.1055/s-2003-40250
Medizin und Kultur
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Philosophie in der Medizin - Eierschalen, Störenfried oder Steuerung?

Philosophy in Medicine - Is It Coming of Age, or an Intruder, or a Navigator?D. Ritschl1
  • 1Univ. Heidelberg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
26. Juni 2003 (online)

Der Biologe und Nobelpreisträger Werner Arber am Biozentrum meiner Heimatstadt Basel sagte vor wenigen Wochen [1] (BaZ 24.4.98) auf die Frage, ob die Geisteswissenschaften einmal den Naturwissenschaften die Agenda diktieren würden oder sollten: „Teilweise schon, denn es ist klar, dass die Zusammenarbeit auf Gegenseitigkeit beruhen soll. Deshalb sollten die Geisteswissenschaften aus ihren eigenen Studien heraus auch Fragen an die Naturwissenschaften stellen ... ich versuche immer wieder Geisteswissenschaftler zu ermutigen, ... dass sie sich mit neuen Erkenntnissen aus dem Bereich der Genetik ein bisschen intensiver befassen sollten.”

Im Folgenden möchte ich diese Sätze kommentieren und ergänzen, wobei ich den Begriff Naturwissenschaft zunächst einmal auf die Medizin beziehe und den Begriff Geisteswissenschaft auf die Philosophie. Ich werde dabei auf einige wichtige Publikationen über Philosophie und Wissenschaftstheorie in der Medizin eingehen.

„Was ist denn Philosophie?” - fragten wir als Kinder unsern Vater, als wir mit Staunen hörten, einer seiner Kollegen, ein Philosoph, ginge ohne ein einziges Buch 3 Wochen in die Ferien, um dort auf einem Liegestuhl zu liegen. „Dort denkt er über das Denken nach, das ist Philosophie”, antwortete er.

Und was ist die Philosophie in der Medizin? Prinzipiell lässt sich die Präsenz der Philosophie in der Medizin in drei Feldern feststellen:

in der medizinischen Ethik, in der es nicht nur um Entscheidungsfindung in der Arzt-Patient-Beziehung geht, sondern auch um Probleme der Forschung, um das Gesundheitswesen und die Gesetzgebung insgesamt sowie um die Beziehung zu den ärmeren Ländern der Erde im Hinblick auf Export von Know-how, von Medikamenten und damit generell um Entwicklungshilfe, in der Anthropologie, d. h. in den philosophisch und theologisch geprägten Bildern vom Menschen, die bewusst und direkt oder auch unbewusst und indirekt medizinische Theorie und Praxis bestimmen, an der auch die kulturellen Differenzen im Lebensverständnis der Patienten bewusst wird und die durchaus eine steuernde Funktion in der Gesamtunternehmung der Medizin hat, in der Wissenschaftstheorie, englisch philosophy of science, die in zwei Formen die Medizin betrifft, in deskriptiver und in präskriptiver Weise, d. h. entweder beschreibt sie nur, was vor sich geht, wenn medizinisch geforscht oder praktisch-klinisch gearbeitet wird, oder sie weist dazu an, wie dies geschehen soll, sie bietet die Theorie für die Praxis.

Im Folgenden werde ich über die medizinische Ethik - seit Jahrzehnten mein Arbeitsgebiet - nichts weiter ausführen. Auch über die Anthropologie werde ich weniger als über das dritte Gebiet philosophischer Präsenz in der Medizin, die Wissenschaftstheorie sagen. Allerdings würde Etliches, was ich ausführen möchte, auch auf die Medizinethik oder auch die Anthropologie anwendbar sein. Das werde ich nun an einigen Stellen andeuten. Die Wissenschaftstheorie ist unser eigentliches Thema. Das Eigenartige ist, dass viele Naturwissenschaftler und Mediziner, auch bedeutende Forscher und Theoretiker unter ihnen, die Wissenschaftstheorie, von der sie gesteuert sind, nicht wahrnehmen. Und, wenn darauf angesprochen, empfinden sie dies oft nicht als Mangel und halten die Diskussion darüber ohnehin für weitgehend überflüssig. Das ist in den Gebieten der Psychosomatik und Psychotherapie, die ohnehin den Grenzgebieten zur Philosophie besonders nahe stehen, eine sensible Problemlage. Und auf Psychotherapie und Psychosomatik wollen wir uns im Folgenden weitgehend konzentrieren.

In der Absicht, unser Thema klar herauszustellen, beginne ich mit Beobachtungen über die weithin unerkannten oder unreflektierten Wirkungen vergangener und heute präsenter Philosophien bzw. Wissenschaftstheorien.

Die Philosophie, aus der die Heilkunst und die Medizin einmal geboren wurden, in der Antike, im Mittelalter, der Renaissance und frühen Neuzeit, gibt es in diesen damaligen Formen nicht mehr. Die „Eierschalen” liegen noch herum, aber sie bringen keinen Erkenntnisgewinn und haben keine konstitutive Wirkung mehr auf Medizin und Psychotherapie. Ich habe die Verweise aus Medizinermund oder -feder auf die klassischen Griechen, auf Galen, auf Paracelsus, ja auch auf Vesal immer eher als romantisierend und rührend empfunden, oder als eine kleine, eilige historische Pflichtübung, um Brücken zur Philosophie und den Kulturwissenschaften zu schlagen, Brücken, die gar nicht tragfähig sind. Dies trägt alles nichts aus, meine ich, wobei ich natürlich diesen klassischen Gestalten der Vergangenheit nicht meinen großen Respekt verweigern möchte; aber darum geht es nicht.

Es besteht ein großer Unterschied zwischen diesen „Eierschalen” aus vergangenen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden und der Einwirkung oder Präsenz heutiger Philosophie auf die Medizin und Psychosomatik. Das ist hier meine Hauptthese. Allerdings müssen wir beachten, dass so manche Eierschale, die wir abgelegt zu haben meinen, heute noch ihre indirekte und oft unerkannte Einwirkung auf unser „Denken über das Denken”, oder „Denken über unser Handeln” ausübt. Aus diesem Grund ist die Entfaltung meiner These, die auf den ersten Blick sehr einfach und plausibel erscheint, recht kompliziert. Das ist die eine Schwierigkeit. Die andere liegt natürlich darin, dass die heute präsente und wirksame Philosophie in der Medizin in keiner Hinsicht homogen oder monolithisch ist. Das ist ja gerade das Kennzeichen unserer heutigen philosophischen Situation, und darum wird auch gelegentlich sehr pessimistisch gefragt, ob sich nicht mit ihr auch die gesamten Geisteswissenschaften auf „Titanic-Kurs” befinden. Ich glaube das zwar nicht, aber wenn es so wäre, so würde wahrscheinlich die Psychosomatik mit in den Strudel hinabgerissen werden.

Widmen wir uns zunächst der erstgenannten Schwierigkeit. Ja, es gibt im medizinischen aber auch in psychotherapeutischen Betrieb eine Fülle unerkannter Wirkungen philosophischer Eierschalen. Wollten wir dieses Thema ganz ausschöpfen, so müsste viel sorgfältiger, als es hier geschehen kann, zunächst auf die durch den philosophischen Positivismus des 19. Jahrhunderts geprägte Wissenschaftsgläubigkeit verwiesen werden. Sie ist durch die noch viel älteren Eierschalen des Dualismus von Descartes nicht gehindert, sondern viel eher noch gefördert worden. Wenn Geist und Materie, Leib und Seele derart klar getrennt werden können, so hat materiebezogenes und quantifizierbares Denken freie Bahn und konnte und musste auch Anteil nehmen an den riesigen Fortschritten und Erfolgen der Technologie in der 2. Jahrhunderthälfte. Die Philosophie dieser Zeit erlaubte nicht nur, nein, sie forderte eine Doppelwohnhaus-Theorie - so nenne ich die naiv gelöste Leib-Seele-Problematik den Studenten gegenüber manchmal. Aber es ist ja mit Händen zu greifen, dass diese Philosophie, dieses Menschenbild, heute immer noch weite Verbreitung im Denken der Forscher und Kliniker findet. Ja, beobachtet man die neuesten Tendenzen in der Besetzung psychiatrischer Lehrstühle, oder nimmt die kritischen Äußerungen gegenüber der psychosomatischen Medizin wahr, so könnte man fast von einer Renaissance dieser Philosophie sprechen.

Aber auch die uns näher stehenden unmittelbaren Väter und Gründer der Psychoanalyse sowie der Psychosomatik sind durch philosophische Prämissen gesteuert gewesen, die so heute nicht mehr in Geltung stehen. Ich meine mit dieser These nicht nur etwa die wissenschaftstheoretische Verhaftung S. Freuds an die Metaphorik der Mechanik und Hydraulik seiner Zeit, sondern ich denke auch an die individualistische Anthropologie jener Jahrzehnte. Die nächstfolgende Generation, etwa Weizsäcker, ist einem philosophischen Personalismus verpflichtet gewesen, der für die 20er-Jahre typisch war. Zugleich wirkte die „existentialistische Luft”, die man zwischen den 20er- und 50er-Jahren atmete, stark auf die Großen der Psychotherapie und Psychosomatik ein, bei einigen sogar in Form einer regelrechten Heidegger-Rezeption. Eckhart Wiesenhütter hat schon 1979 die Situation, zumindest in der deutschsprachigen Psychiatrie und Psychotherapie, eingehend beschrieben [1]. Umgekehrt ist es interessant, dass einer der großen Vertreter des Existentialismus, mein Lehrer Karl Jaspers, die Psychoanalyse scharf kritisierte. Vergeblich sucht man bei den „Großen” in der Psychotherapie und Psychosomatik dieser Zeit Anklänge an die heutigen Systemtheorien, an neue Ausgestaltungen der Hermeneutik oder gar an Sprachphilosophie und englisch- oder deutschsprachige Wissenschaftstheorie.

Ich schließe diese Bemerkungen über die oft unerkannten Wirkungen der Philosophie in Medizin und Psychotherapie - der Eierschalen also, wenn man so will - mit der Beobachtung ab: Die Väter und Lehrer moderner Medizin - auch der Psychosomatik - waren - wie sollte es anders sein - Philosophien verhaftet, auch, wenn sie meinten, es nicht zu sein. Viele, nicht alle, fühlten sich „philosophie-frei”, weil sie die wirklich alten Eierschalen aus vergangenen Jahrhunderten mit Recht hinter sich lassen wollten und auch gelassen hatten. Diese Beobachtung, meine ich, gilt sowohl für die der rein experimentellen Forschung und somatischen Medizin verhafteten Ärzte als auch für die Kritiker dieser Position, die biographische Anamnesen, psychische Faktoren und Beziehungsphänomene, auch im Namen der Arzt-Patient-Beziehung, auf ihre Fahnen geschrieben hatten.

Nach diesen Beobachtungen über die erste der beiden Schwierigkeiten wenden wir uns jetzt der zweiten zu. Wie wirkt eigentlich Philosophie, gerade, wenn sie heute in Methode und Zielsetzung so uneinheitlich ist, in der Medizin und Psychotherapie? Ist sie ein „Störenfried” oder eine heimliche Steuerung, erlaubt sie eine Systembildung mit einheitlicher Methodik, oder kann sie eklektisch, je nach Wunsch und Gebrauch, angezapft oder auch verscheucht werden?

Zunächst halten wir fest, dass es in der Philosophie nicht nur die verschiedenen sog. „Fächer” gibt: Logik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie usw., sondern eben auch eine Vielfalt der Ansätze und Zielsetzungen. Philosophie „will” nicht immer überall dasselbe, wenn sie auch „Denken über das Denken” ist - oder, in Bezug auf Handlungstheorien „Denken über Handlungen”, so sind ihre Grenzen gegenüber den Kultur- und Humanwissenschaften keineswegs klar bestimmbar und somit auch nicht ihr Nutzen für Unternehmungen wie etwa die Medizin.

Ich beziehe mich im Folgenden auf einige interessante Publikationen, die beispielhaft zeigen, wie Philosophie Medizin steuern kann.

In Johannes Köbberlings Sammelband „Zeitfragen der Medizin” bietet Alex W. Bauer [2] im weiten, kulturübergreifenden Horizont eine Typologie von 4 verschiedenen philosophischen Axiomen, in deren Einflussbereiche die gesamte Heilkunst und Medizin aller Epochen eingeteilt werden könne:

Das Axiom der Existenz von übernatürlichen Personen oder Kräften, Ahnen, Dämonen oder Göttern, die Krankheit als Strafe und Heilung als Belohnung bewirken oder zumindest mitbewirken. Die so gesteuerte Medizin habe mit ihren symbolischen Chiffren den Vorteil einer „hohen retrospektiv-explikatorischen Potenz” und den Nachteil einer „geringen prospektiv-prognostischen Relevanz”. Das Axiom der Korrespondenz von Phänomenen auf allen Ebenen des Kosmos und des Menschen, wissenschaftlich artikulierbar in Analogieschlüssen. Dazu gehören die Lehren über beobachtete Regelmäßigkeiten durch frühe chinesische, aber auch durch neue holistisch-naturphilosophische Formen der Medizin, besonders auch der Homöopathie. Das Axiom des kausalgesetzlichen, mechanisch-deterministischen Ablaufs von Prozessen in der Natur. Hier schildert Bauer die moderne, westliche Medizin mit ihrem Urahn, Rudolph Virchow, von dem er eine schöne Schilderung der drei verschiedenen Physiologie-Vorlesungen in Berlin zitiert: „O, Himmel, was waren das für widerstreitende Physiologien!” Seine Lehrer seien alle noch dem 2. Axiom ergeben gewesen. Das Axiom der Möglichkeit des intersubjektiven Verstehens durch hermeneutische Interpretation verbaler und nonverbaler Zeichen. Hier kommt Bauer zur Psychoanalyse, zur Psychotherapie insgesamt und zur Psychosomatik. Er zitiert auch moderne Kritiker der Verbindung von Psychoanalyse und Hermeneutik - „eine schlecht konzipierte Ehe” - und natürlich die Anfragen an die Wissenschaftlichkeit der anthropologischen Medizin und der Psychosomatik insgesamt mit ihren Deutungen der Korrespondenz krankhafter somatischer und psychischer Phänomene. Er unterscheidet zwischen früher und heutiger Psychosomatik, nennt aber für beide die Gefahr der Intuition sowie der Zirkelschlüsse. Ich meine, hier auch wieder die „Doppelwohnhaus-Theorie” zu entdecken, die der heutigen Psychosomatik ja gerade fern liegt.

Bauers These ist nun, dass diese vier die Medizin steuernden Axiome allesamt nicht falsifizierbar seien, dass ihre Vertreter also sozusagen als „Gläubige” funktionieren und ferner, dass sich die 4 unerbittlich gegeneinander ausschließen und verneinen.

Bauer benennt hier also eine Axiomatik hinter aller denkbaren und real existierenden Medizin, die sich in vier sich widerstreitende Axiome aufgliedert. Ich habe mich schon seit Jahren für Axiomatik in der Psychotherapie und in den Geisteswissenschaften interessiert und habe also zunächst einmal Sympathie mit Bauers Versuch. Er sieht die Axiome als systembildend und die Totalität der medizinischen Unternehmung steuernd an.

Das wäre also sozusagen Verständnis Nr. 1: philosophische, letztlich nicht hinterfragbare Axiome steuern grundsätzlich verschiedene Verständnisse von Medizin, von Krankheit, von Therapie. Verständnis Nr. 2 ist der Verzicht auf solche Axiomatik. (Ich werde gleich darauf zu sprechen kommen.)

Aber zu Nr. 1 frage ich mich zweierlei: 1. hat Bauer Recht, wenn er diese 4 Typen von Medizin wie monolithische Blöcke schildert und im Widerspruch gegeneinander stehen lässt? Ich möchte daher - im Zusammenhang mit Peter Hahns Arbeiten - fragen, ob nicht wenigstens Axiom 3 und 4 durchaus kompatibel sind?

2. möchte ich fragen, ob der Gegenstand der Medizin, der kranke Mensch und die Hilfe, Besserung oder Heilung, die man ihm angedeihen lassen kann, wirklich einen Methodenmonismus fordert und nicht vielmehr eine Aufgliederung der Methoden des Vorgehens erlaubt. Ist nicht Bauer [2] selbst Opfer der Annahme eines Methodenmonismus, gerade im Hinblick auf Axiom Nr. 3, von dem aus er die anderen, widerstreitenden Wege beurteilt? Sie erscheinen ihm sozusagen mehr monolitisch und exklusiv, als sie es ihrem eigenen Verständnis nach sind.

Ein anderes, sehr imponierendes Beispiel axiomatischen Medizinverständnisses und des Versuchs eine Synthese zwischen nur zwei steuernden Axiomen findet sich im bekannten Buch von Uexküll und Wesiack „Theorie der Humanmedizin” [3]. Die Autoren rechnen mit der Existenz axiomgesteuerter Medizintypen, dem natur- und dem eher geisteswissenschaftlichen und sie verbinden die beiden in ihrer Anthroplogie und Semiotik, d. h. dem komplexen Phänomen der Zeichengebung der lebendigen Leib-Seele-Einheit Mensch. Hierdurch werden die Konzepte von Kausalität aus dem Bauerschen Axiom Nr. 3 durch komplexere Kreismodelle und Zeichenphänomene ersetzt und überhöht. Wissenschaftstheoretisch ist die Lektüre dieses Buches für einen nicht-ärztlichen Psychotherapeuten wie mich ein hoher Genuss. Es bleiben allerdings auch bei mir Fragen, deren Artikulation mir eigentlich nicht zusteht: wird hier wirklich eine Theorie der Medizin, der Humanmedizin geboten? Die angestrebte Synthese scheint mir eher auf wissenschaftstheoretischer Ebene gelungen zu sein, vielleicht nicht auf der des praktizierenden Arztes oder Therapeuten. Aber, ich habe nur ein begrenztes Recht, solche Fragen und Urteile zu äußern.

Ein völlig anders gelagerter Umgang mit Philosophie in der Medizin - also Verständnis Nr. 2 - findet sich in dem nicht minder imponierenden Buch des bekannten Kölner Internisten Rudolf Gross und dem Leipziger Informatiker und Epidemiologen Markus Löffler „Prinzipien der Medizin” [4]. Ich wünsche jedem Mediziner, dass er oder sie eine Urlaubswoche reservieren möge, um dieses Buch von vorne bis hinten gründlich zu studieren. Es ist ein absoluter Gewinn, aber es folgt auch eine Enttäuschung. Der Gewinn: Hier werden nahezu alle erdenk- und erfahrbaren gedanklichen und handlungsmäßigen Schritte des Arztes wissenschaftstheoretisch reflektiert, von der Logik bis zur Theorie der Wahrnehmung, vom System zur Semiotik, von der Finalität zur Kausalität, von der Hermeneutik zur Analogiebildung, von der Anamnese zur Diagnostik. Es ist eine Lust, dies alles zu lesen! Mit umfassender Kenntnis älterer Philosophie, aber besonders auch der neueren und neuesten Wissenschaftstheorie, nicht selten auch dem kritischen Rationalismus verpflichtet, spielen die beiden Autoren wie zwei virtuose Cembalisten im Duett alles durch, was durch die Köpfe von Ärzten oder Ärztinnen gehen mag und soll, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen. Gross hatte schon vor Jahren wissenschaftstheoretische Arbeiten publiziert, die er mir auch freundlich zusandte, aber dieses übertrifft alles! Es ist ein unglaublich reiches Buch. Aber es folgt auch eine leichte Enttäuschung über den nahezu ausschließlich deskriptiven Charakter des Buches. Was Uexküll versuchte, eine Theorie der Medizin, das gibt es hier nun gar nicht. Es ist als sei die Philosophie in ihre Mägderolle zurückverwiesen, so wie sie im Mittelalter die Ancilla theologiae war, so ist sie jetzt Hilfsinstrument um zu verstehen, was ärztliche Kunst will und soll. Interessant - bezeichnend, sollte ich sagen - ist es, dass Gross [4] über Psychosomatik nur wenige karge Seiten schreibt, allerdings unter Verweis auf längere Passagen in seinem Lehrbuch. Er kommt auch, so scheint es fast, in die Nähe der „Doppelwohnhaus-Theorie” über die Leib-Seele-Problematik, dies scheint mir in den Hinweisen auf Statistiken über „psychogene” Erkrankungen usw. deutlich zu sein. Die Ohrfeige, die er durch ein böses Zitat C. G. Jung erteilt, mag ich Jung ein wenig gönnen, weil auch ich ihn wenig respektiere, aber die durch dieses Zitat hergestellte „Stimmung” gegen die Psychoanalyse missfällt doch dem kritischen Leser. Summa: ein fabelhaftes Buch, eine hohe Würdigung der Philosophie in ihren eher niedrigen Diensten, Verzicht auf eine integrale Theorie der Medizin, Verzicht auf eine Axiomatik, zugleich jedoch der immer gegenwärtige, fast selbstverständliche Anspruch, Medizin sei eine Wissenschaft. Und wir fragen: Ist sie dies, und wie, in welchem Sinn ist sie dies? Will und soll sie sich der Philosophie gegenüber ausweisen als Wissenschaft oder wird sie gar durch die wissenschaftstheoretische Reflexion zu einer Wissenschaft?

Es ist interessant zu beobachten, dass im Gespräch über die Wissenschaftlichkeit der Medizin die Beteiligten meist ein ganz unreflektiertes Verständnis von Wissenschaft als Naturwissenschaft nach dem Typus 3 von Alex W. Bauer [2] voraussetzen. Die Diskussion ist aber eigentlich nicht ertragreich. Auch Unterscheidungen wie „harte” und „weiche” Wissenschaften bringen nicht viel. Und Zusätze wie diese: Medizin sei auch Kunst und Handwerk, bringen wenig Gewinn. Das eigentlich Wichtige, die Methodenfrage, kommt so nicht zu größerer Klarheit. Ist es nicht überhaupt fragwürdig, Bearbeitungsfelder des Denkens und Handelns bzw. Fächer in der Universität mit einer generellen Etikette „Wissenschaft” oder „nicht Wissenschaft” charakterisieren zu wollen? Wo bleibt da z. B. die Soziologie, die Ethnologie, die Musikwissenschaft, die Theologie, die Literatur, ja auch die Philosophie selber? Wie Naturwissenschaften lassen sich diese Gebiete nicht bearbeiten. Wir sollten vielleicht auf die Bemühung um diese Etikettierung grundsätzlich verzichten, weil diese Fächer bzw. Bearbeitungsfelder ja nicht in sich selber intrinsische Eigenschaften dieser oder jener Art haben, sondern von denen charakterisiert werden, die sie betreiben.

Unser Interesse und unsere persönlichen Bemühungen müssten sich mithin viel eher auf unsere wissenschaftliche Einstellung beziehen, nicht auf eine Charakterisierung unseres Arbeitsfeldes. Das scheint mir in überzeugender Weise die These Peter Hahns zu sein - und so auch Ernst Petzolds und seiner Mitarbeiter. Hahns großes Buch „Ärztliche Propädeutik” [5] scheint mir einen viel zu bescheidenen und damit ungünstigen Titel zu tragen, denn in Wahrheit geht es hier um viel mehr, nämlich um die Überprüfung und Selbstprüfung der Wissenschaftlichkeit und der Methodenwahl in Theorie und Praxis des ärztlichen und therapeutischen Berufs. Haben vielleicht Gross und Löffler [4] in ihrem Prinzipienbuch das Buch Hahns unter den 2198 aufgeführten Publikationen des Titels wegen weggelassen? Zugunsten von Gross möchte ich dies hoffen, denn Hahns Buch gehört natürlich mitten in die Thematik hinein, die Gross behandelt.

Hahn [5] hat inzwischen in anderen Arbeiten, zuletzt in einem Vortrag bei den Lindauer Psychotherapiewochen 1998, die schon vor dem Propädeutik-Buch entwickelte Methodenkreislehre weiter entfaltet und vor allem präzisiert. Es besteht hier ein neuer Traditionsstrom - sozusagen eine Neu-Heidelberger-Tradition - die mit Christians und Hahns Arbeiten begann. Schon in E. Petzolds und Reindells „Klinischer Psychosomatik” von 1980 [6] findet sich ein wichtiger Einleitungsteil, in dem die in methodischer Hinsicht neue Simultandiagnostik und Simultantherapie erörtert werden. Eine persönliche Zwischenbemerkung: Ich empfand es als eine große Ehre, dass in einer Festschrift für mich vor Jahren sowohl Ernst Petzold als Wolfgang Kämmerer zum Thema des „simultandiagnostischen Würfels” sowie zur impliziten Axiomatik der klinischen Psychosomatik geschrieben haben [7]. Es ist für mich ein bleibender Gewinn, dass ich als Außenstehender, der ich doch bin und bleibe, Zeuge der Entwicklung dieser neuen Tradition sein darf. Die Methodenkreislehre Hahns mit ihrer Viergliederung in phänomenologische, empirisch-analytische, hermeneutische und dialektische Schwerpunkte bilden, so scheint es mir, Synthesen oder zumindest Brücken zwischen den Bauerschen 4 Axiomen und den unvermittelt nebeneinander stehenden Analysen bei Gross und Löffler [4]. Aber es geht nicht um Literatur und wer darin mehr oder weniger Recht hat, es geht um das „Denken über das Denken”, bzw. das „Denken über unser Handeln”, letztlich im Interesse der Patienten.

Philosophie in der Medizin? Die alten Eierschalen liegen lassen, ja. Und wenn Reste noch nachwirken, sie kritisch überprüfen, das ist sicher unabdingbar. Und die gegenwärtige, die heute präsente Philosophie? Sie ist allgegenwärtig, das ist klar, denn sie macht die implizite Axiomatik aus, die die gesamte Unternehmung der Medizin und Psychotherapie steuert. Noch mehr sogar: Psychotherapie im strengen Sinn ist auch der Philosophie - und ihrem Kind, der Psychologie - viel direkter verpflichtet als der Medizin. Die Philosophie macht aber nicht nur die Axiomatik aus, die letztliche Steuerungsmechanik medizinischer Forschung und Klinik, sie zeigt und bewährt sich auch in der kritischen, wissenschaftlichen Selbstprüfung der beteiligten Personen. Sie ist nur dann ein Störenfried, wenn die beteiligten Personen absichtlich theorielos arbeiten wollen, was absurd wäre, oder wenn sie sich der kritischen, wissenschaftlichen Selbst- und Methodenprüfung entziehen würden, was verwerflich wäre.

Wie kann man das im medizinischen Lehrbetrieb vermitteln? Gewiss nicht, meine ich, indem man - einige wollen das ja - das alte philosophische Propädeutikum des 19. Jahrhunderts wieder einführt. Das bringt nicht viel, die Lehrstunden würden durchs eine Ohr hinein, durchs andere wieder herausgehen, weil die Studenten ja nicht fürs Philosophiestudium in die Hörsäle kommen. Ich habe es jahrelang mit Vorlesungen und Diskussionen in der medizinischen Ethik versucht, das ist wenigstens ein philosophischer Einstieg in die wissenschaftliche und handlungstheoretische Selbstprüfung. Aber dies deckt die Mehrzahl der Aufgaben gewiss nicht ab. Zwecklos scheint mir auch die Gewohnheit zu sein, in Vorträgen oder Publikationen Namen von Philosophen - Buber, Wittgenstein, Popper - zu nennen, Autoren, deren Studium Jahre und Jahre benötigt, wofür Mediziner gar keine Zeit haben, auch nicht ihre Professoren. Die Vermittlung ernsthafter Philosophie, die kritische Wahrnehmung der Steuerungen, der Methoden der Wahrnehmung und Diagnose, der Zielsetzung und auch der Grenzen des Möglichen und des Erlaubten in der Medizin, das kann nur, meine ich, im aktuellen Vollzug der Lehre und der klinischen Praxis an Studenten vermittelt werden. Je mehr die Lehrer über ihre eigene Selbstprüfung frei heraus sprechen, je kritischer sie dem Verhaftetsein an gewohnte Modelle und Theorien gegenüberstehen, je mutiger sie über die Grenzen ärztlichen Tuns sich äußern, um so mehr werden die geist- und die materiegebundenen Dimensionen - auch vor den Augen der Studenten - sich ineinanderschieben.

Literatur

  • 1 Wiesenhütter E. Die Begegnung zwischen Philosophie und Tiefenpsychologie. Wiss. Buchgesellschaft Darmstadt; 1979
  • 2 Bauer Alex W. Axiome des systematischen Erkenntnisgewinns in der Medizin. In: J. Köbberling (Hrsg) Zeitfragen der Medizin. Springer Verlag Berlin/Heidelberg usw; 1997: 19-33
  • 3 Uexküll Th V, Wesiack W. Theorie der Humanmedizin, Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns. Urban & Schwarzenberg München/Wien/Baltimore; 1991
  • 4 Gross R, Löffler M. Prinzipien der Medizin, Eine Übersicht ihrer Grundlagen und Methoden. Springer Verlag Berlin/Heidelberg usw; 1997
  • 5 Hahn P. Ärztliche Propädeutik, Gespräch - Anamnese - Interview, Einführung in die anthropologische Medizin - wissenschaftstheoretische und praktische Grundlagen. Springer Verlag Berlin/Heidelberg usw; 1988
  • 6 Petzold E, Reindell A. Klinische Psychosomatik. Quelle & Meyer (UTB 991). Heidelberg; 1980
  • 7 Petzold E. Implizite Axiome in der Psychosomatik: Der simultandiagnostische Würfel. In: W. Huber et al. (Hrsg) Implizite Axiome, Tiefenstrukturen des Denkens und Handelns. Chr. Kaiser Verlag München; 1990: 39-57 W. Kämmerer, Implizite Axiome in der klinischen Psychosomatik - dargestellt anhand von Diagnostik und Therapie funktioneller Syndrome, ebd. 58 - 78

Prof. em. Dr. Dr. h. c. Dietrich Ritschl

Im Bergli 13

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