Suchttherapie 2003; 4 - 15
DOI: 10.1055/s-2003-822295

Substitution und psychosoziale Betreuung oder Plädoyer für die Abschaffung des Begriffs der psychosozialen Betreuung

D Meili 1
  • 1Zürich

Unter dem Begriff „Psychosoziale Betreuung“ lässt sich eine beliebige Zahl individueller Vorstellungen subsumieren, hauptsächlich aus den Feldern Medizin/Psychiatrie, Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Diese Beliebigkeit lässt alles zu, außer einer rationalen Auseinandersetzung.

Kompensierter Konsum von Drogen (in abhängigem oder nicht abhängigem Ausmaß) lässt sich, angelehnt an Schippers, als ein Konsum definieren, der nicht in nennenswertem Maß mit persönlichen Zielen kollidiert und durch Selbstkontrolle gesteuert wird.

Von dekompensiertem Drogenkonsum kann man sprechen, wenn der Konsum wesentlich negative Auswirkungen auf den psychischen, somatischen, beruflichen und sozialen Bereich hat und Muster der Abhängigkeit erkennen lässt. In diesem Fall ist die Anwendung des Konzeptes der chronischen Erkrankung angebracht.

Unbehandelter dekompensierter Konsum sogenannter harter Drogen geht mit einer Sterberate von ca. 2–3% pro Jahr einher. Würde es sich um Krebs handeln, zögerte niemand, diese Erkrankung als maligne zu bezeichnen. In Behandlung (Substitution) senkt sich die Sterblichkeit auf ca. 1% pro Jahr. Das Sterberisiko über die Jahre ist in der Abbildung ersichtlich.

Wie lässt sich die substitutionsgestützte Behandlung für eine möglichst große Gruppe Drogenabhängiger öffnen und welche Voraussetzungen schaffen einen optimalen Behandlungserfolg?

Ward, Mattick und Hall kommen in einem Überblick über die weltweiten Forschungsergebnisse zur Substitution zum ernüchternden Schluss: „Die obligatorische Vorgabe von Betreuung (counselling) ist nicht mit einem besseren Behandlungserfolg verknüpft; die Forschung zeigt, wenn überhaupt etwas, dass solche erzwungene Therapieteilnahme bezüglich Haltequote schlechte Resultate zeigt.“.

Eine sinnvolle Zielhierarchie in der substitutionsgestützten Behandlung lässt sich folgendermaßen festlegen: Überleben sichern, individuelle Risiken minimieren, körperliche, psychische und soziale Ressourcen erhalten oder allenfalls ausbauen und zwar alles unter der Prämisse, die Lebensqualität zu verbessern. Nach heutigem Kenntnisstand lässt sich die langfristige Abstinenz durch therapeutische Maßnahmen nicht wesentlich beeinflussen, kann also kein gesondertes generelles Ziel darstellen und ist demnach individuell ein unterstützenswertes „Nebenprodukt“.

Die substitutionsgestützten Behandlungen sollen neben der adäquat dosierten Substitution nur einen, die Substitution selbst garantierenden obligatorischen Behandlungsrahmen voraussetzen. Gefordert wird ein für Institutionen obligatorisches, für die Abhängigen hingegen freiwillig in Anspruch nehmbares, umfassendes Angebot: Somatische (v.a. infektiologische) und psychiatrisch/psychotherapeutische/edukative Betreuung sowie sozialarbeiterische Unterstützung. In der jeweiligen Institution soll mit jedem Drogenabhängigen gemeinsam eine individuelle Zielsetzung erarbeitet werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit unter einem Dach muss also im Vordergrund stehen, nicht eine externe Koordination in Form von „case management“ (ebenfalls ein inflationär verwendeter Begriff).

Um nicht in der Theorie verhaftet zu bleiben, einige Beispiele von Angeboten, zu denen Institutionen fähig sein sollten: Den individuelle Zielsetzung entsprechend, Hepatitis-Impfungen und HIV-Therapien durchführen; Abhängige lehren, risikoarm und sauber zu fixen; Bewerbungstraining für Arbeitslose; die Indikation für eine Antidepressivatherapie stellen oder eine spezifische Psychotherapie bei Angststörung garantieren, usw. Dies kann im Einzel- oder Gruppensetting erfolgen.

Standardisierte Behandlungsansätze für die ganze Gruppe der Substituierten führen einerseits zu individuell inadäquaten Therapien, denn diese Gruppe ist etwa so heterogen wie die Normalbevölkerung, allerdings mit einer wesentlich höheren Prävalenz weiterer psychiatrischer Diagnosen und spezifischer Infektionserkrankungen (Stichwort Komorbidität). Andererseits wird zu einer Reduktion der Haltequote in der Substitution beigetragen und eine Gruppe ferngehalten, die erst gar nicht in der Lage ist, sich auf diese starren Settings einzulassen. Diese Leute bleiben folglich einem massiv erhöhten Sterberisiko ausgesetzt, das unnötig ist.

Literatur:

1Schippers GM, Cramer E. Kontrollierter Gebrauch von Heroin und Kokain. Suchttherapie 2002; 3: S. 296f., Übersetzung durch den Verfasser

2Ward J, Mattick RP, Hall W. Methadone maintenance treatment and other opioid replacement therapies. Amsterdam: Harwood Academic Publishers 1998