Übersicht
Die Autorin liest Judith Butlers Geschlechtertheorie aus dem Blickwinkel der psychoanalytischen
Vorstellungen über Sexualität, Begehren und die Entwicklung des Geschlechts. Vor allem
im psychoanalytischen Diskurs über die Entwicklung des Geschlechts gebe es eine Reihe
ungeklärter Biologismen, deren Sackgassen Butlers Theorie zumindest erkennbar mache.
Von besonderer Bedeutung dafür sind nach Ansicht der Autorin Butlers Gedanken zum
„melancholischen Geschlecht”. Die Autorin diskutiert diese Überlegungen im Kontext
der psychoanalytischen Lehre über die frühen Identifizierungen und kommt dabei zu
dem Schluss, dass das Ich, verstanden als Körper-Ich, eine geschlechtsspezifische
Morphologie annimmt. Abschließend greift sie Butlers Vorstellungen auf, denen zufolge
eine heterosexuelle Geschlechtsidentität immer mit einer Verwerfung und Ausschließung
des homosexuellen Begehrens und der frühen homosexuellen Bindungen einhergeht, und
versucht, die Aporie von Begehren, Identifizierung und Verwerfung in Butlers Argumentation
aufzulösen.
Schlüsselwörter
Gender - Geschlecht - Geschlechterdifferenz - Geschlechtsidentität - Judith Butler
- Sex und Gender
Literatur
- 1 Butler J. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1991
- 2 Butler J. Phantasmatische Identifizierung und die Annahme des Geschlechts. In: Institut
für Sozialforschung Frankfurt (Hrsg). Geschlechterverhältnisse und Politik. Frankfurt/M.:
Suhrkamp; 1994
- 3 Butler J. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin
Verlag; 1995
- 4 Butler J. Melancholisches Geschlecht/Verweigerte Identifizierung. In: Butler J.
Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 2001
- 5 Foucault M. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp;
1976
- 6 Foucault M. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.:
Suhrkamp; 1977
- 7 Freud S. (1917)Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke, Bd. X. London: Imago; 1946
- 8 Freud S. (1923) Das Ich und das Es. Gesammelte Werke, Bd. XIII. London: Imago; 1940
- 9 Laplanche J. „Die Allgemeine Verführungstheorie” und andere Aufsätze. Tübingen:
Edition Diskord; 1988
- 10 Laplanche J. Die unvollendete kopernikanische Wende in der Psychoanalyse. Frankfurt/M.:
Suhrkamp; 1996
- 11 Quindeau 1. Lust auf Anderes. Die Implantation der heterosexuellen Ordnung in der
Allgemeinen Verführungsszene. In: Bayer L, Quindeau 1 (Hrsg). Die unbewusste Botschaft
der Verführung. Interdisziplinäre Studien zur Allgemeinen Verführungstheorie von Jean
Laplanche. Gießen: Psychosozial-Verlag; 2004
1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 23. Mai 2003 am Frankfurter Psychoanalytischen
Institut im Rahmen einer Kontroverse über Judith Butler zwischen Reimut Reiche und
Ilka Quindeau gehalten wurde.
2 Dieser Begriff beschreibt den Zusammenhang von Sagen und Zeigen: Sprachliche Äußerungen
werden einerseits als regelgeleitete Ausführungen eines bestimmten Programms (wie
der Grammatik) aufgefasst und andererseits als Handlungen im Sinne von Aufführungen.
Während die Ausführung einer Sprachhandlung durch die Kenntnis des vorausgesetzten
Programms und seines Ziels restlos verstanden werden kann, ist die Aufführung einer
sprachlichen Äußerung als Ereignis charakterisiert, das immer mehr enthält, als mit
Hilfe der sprachlichen Regeln beschrieben werden kann. Dieser Bedeutungsüberschuss
ist jedoch nicht als Abweichung oder Störung zu verstehen, sondern stellt das Ordnungssystem
selbst infrage. Der performative Charakter der Sprache schafft und verändert zugleich
Wirklichkeit. Dies zeigt sich an einfachen Beispielen wie der Trauung im Standesamt,
einem Kündigungsschreiben oder einer Gerichtsverhandlung. Mit Worten werden zugleich
Handlungen vollzogen: Die Unterzeichnung des Ehevertrags zeitigt eine Reihe von Konsequenzen
für die Lebenswirklichkeit der Beteiligten, die Kündigung macht einen Arbeitnehmer
zu einem Arbeitslosen, ein Gerichtsbeschluss einen freien Menschen unter Umständen
zu einem Gefängnisinsassen. In analoger Weise lässt sich auch die Zuordnung von Menschen
zu einer Geschlechtsposition als performativer Akt verstehen, der Menschen zu Mädchen
oder Jungen, Männern oder Frauen macht.
Dr. Ilka Quindeau
Finkenhofstr. 38
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Email: quindeau@em.uni-frankfurt.de