Psychother Psychosom Med Psychol 2004; 54 - P3603
DOI: 10.1055/s-2004-819803

Wann ist eine Psychotherapie bei Rentenbewerbern mit funktionellen körperlichen Störungen indiziert? – Ergebnisse einer Katamnese über 4,8 Jahre

H Gündel 1, S Schütt 2, N Nedopil 2, C Stadtland 2
  • 1Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Medizinische Psychologie, Klinikum rechts der Isar, TU München
  • 2Abteilung für Forensische Psychiatrie, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, LMU München

Hintergrund: Patienten mit somatoformen Störungen und laufendem Rentenbegehren stellen eine innerhalb der Psychosomatik häufig gesehene Gruppe dar. Angesichts des oft damit verbundenen psychotherapeutischen Dilemmas ist es erstaunlich, dass es so gut wie keine Studien zu Effekten von Psychotherapie bei dieser Patientengruppe gibt. Unsere von der Dr. Karl-Wilder-Stiftung geförderte Studie soll diesbezüglich erste Aufschlüsse geben. Methodik: Von insgesamt 594 in den Jahren 1995 bis 2000 in der Abteilung Forensische Psychiatrie der LMU München unter sozial- und zivilrechtlichen Fragestellungen begutachteten Probanden erfüllten n=226 die Einschlusskriterien „somatoforme Beschwerden“ und „Rentenwunsch“. Nach zunächst inhaltsanalytischer Auswertung der psychiatrischen Gutachten dieser Gesamtgruppe (T1) konnten n=100 dieser Probanden (Rücklaufquote: 44%, mit n=90 Teilnahmeverweigerern Rücklauf 84%) telefonisch (halb strukturiertes Interview) und schriftlich (mit den Fragebögen BL, FLZ und HADS-D) nachbefragt werden (T2; mittlere Zeit zwischen Begutachtung und Nachbefragung 4,8 Jahre). Ergebnisse: Von den n=100 Teilnehmern der Nachbefragung hatten n=39 eine vom Gutachter empfohlene psychotherapeutische Maßnahme in Anspruch genommen. Aus dieser Gruppe waren n=29 Probanden (75%) zwischenzeitlich berentet. Es zeigte sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen subjektivem Therapieerfolg und der Arbeits- bzw. Rentensituation. Es zeigte sich ein tendenziell positiver Zusammenhang zwischen passivem Krankheitsbewältigungsverhalten und vorzeitiger Berentung (p=.053) sowie eine größere Anzahl an somatischen Vorbehandlungen bei den berenteten Probanden (p=.037). Am meisten profitierten diejenigen Probanden subjektiv von einer Psychotherapie, die zum Begutachtungszeitpunkt weder einen eindeutigen Krankheitsgewinn noch einen extremem „Krankheitsverlust“ (Leidensdruck) aufwiesen (p=.032*). Schlussfolgerung: Eine vorzeitige Berentung war trotz Psychotherapie bei der Mehrzahl der von uns nachbefragten Patienten nicht zu verhindern. Als Kriterium für eine diesbezügliche Indikationsstellung kommt u.a. ein aktiverer Modus der Krankheitsbewältigung in Frage.

Auf dem Hintergrund unserer Daten sollen klinische und wissenschaftliche Erfahrungswerte im psychotherapeutischen Umgang mit dieser schwierigen Patientengruppe sowie zukünftig sich abzeichnende Behandlungsstrategien und deren sozialpolitische Bedeutung diskutiert werden.