Psychother Psychosom Med Psychol 2004; 54 - AB118
DOI: 10.1055/s-2004-822580

Transgenerationelle Aspekte von Migration und Identität Psychoanalyse und Psychotherapie bei Kindern und Enkeln von Migranten

BFW von der Stein 1
  • 1Abt. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Migrationsbewegungen nehmen weltweit zu. Auch für die gegenwärtige und zukünftige deutsche Gesellschaft gilt die von der Soziologie beschriebene „Pluralisierung der Lebenswelten“. Nachdem die Integration der Vertriebenen aus den Ostgebieten vordergründig abgeschlossen war, kamen seit Anfang der fünfziger Jahre sog. Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Jugoslawien und anderen Herkunftsländern. Ab den sechziger Jahren kamen vermehrt sog „Spätaussiedler“ aus Polen, Rumänien und der Sowjetunion. Eine weitere Gruppe von Migranten kam Asyl suchend als politisch oder ethnisch Verfolgte nach Deutschland. Viele Nachkommen der damaligen „Gastarbeiter“, „Spätaussiedler“ und Asylbewerber haben sich mittlerweile etabliert und sind qualifiziert ausgebildet. Die fehlende Sprachbarriere gerade bei erfolgreichen Kindern von Migranten führt insbesondere in interkulturellen Therapien dazu, dass die Migrationsvorgeschichte beiderseits verleugnet wird oder Unterschiede zu stark betont werden. Nicht nur der Wechsel des Sprach- und Kulturraums, auch Mobilität hinsichtlich der Gesellschafts- und Bildungsschicht sowie divergierende Vorstellungen der Geschlechterrollen und religiöse Traditionen verlangen von Migranten ein hohes Maß an Integrationsleistung. Nicht selten herrscht Verwirrung bezüglich tradierter Rollen und Werte innerhalb einer Familie mit der Folge krisenhafter Beziehungsstörungen.

Viele Patienten kommen in eine psychoanalytische Behandlung, wenn in der Adoleszenz oder dem frühen Erwachsenenalter der Versuch, sich in eine intime Freundschaft oder Rivalität, auf sexuelle Intimität und Liebesbeziehungen und auf eine Berufslaufbahn einzulassen scheitert, und die latente Schwäche der Identität offenbar wird. Oft werden bei solchen Patienten, ausgehend von schweren neurotischen und psychotischen Symptomen, einer Fluktuation der Abwehr und dem passageren Zusammenbruch der Ich-Funktionen voreilig die Diagnosen einer schweren Persönlichkeitsstörung oder einer psychotischen Erkrankung gestellt.

Tradierte Ausdruckformen können als Symptom fehlinterpretiert werden. Was bei voreingenommener Betrachtung als gravierende psychische Störung erscheint ist oft nur eine besonders schwere Krise, die letztlich einen wichtigen Beitrag zur Identitätsbildung leisten kann. Deshalb ist bei einheimischen Therapeuten, um die grundsätzlichen Therapieziele Wiedererrichtung und Stärkung des Selbstwertgefühls, Förderung der Individuation, Erschließung eigener Ressourcen, Wiederanbindung an andere Menschen und Versuch eine zerissene Kontinuität wieder zusammenzubringen eine Fremdheitskompetenz zu erreichen, die transgenerationelle Traumatisierungen, Identitätsdiffusion, Binnendifferenzierung und historische Kenntnisse über die Herkunftsregionen berücksichtigt. In diesem Seminar werden charakteristische Therapieverläufe vorgestellt und unter ich-, objekt- und selbstpsychologischen Aspekten betrachtet. Konkrete therapeutische Konsequenzen sollen aufgezeigt werden.