Zusammenfassung
Das Suchthilfesystem wird von Migranten in Deutschland nur gering in Anspruch genommen.
Dies könnte eine Folge kultureller oder sozialer Zugangsbarrieren sein. Wir untersuchten
die Versorgung drogenabhängiger Migranten mittels qualitativer Interviews mit Betroffenen
und professionellen Helfern. Gründe für die verminderte und oft erst späte Nutzung
des Suchthilfesystems waren Macht- und Perspektivlosigkeit auf dem Hintergrund von
Erfahrungen der Diskriminierung und des sozialen Ausschlusses sowie Ängste um den
Aufenthaltsstatus. Kulturelle Unterschiede im Verständnis von Suchterkrankungen können
den Zugang zum Suchthilfesystem ebenfalls erschweren. Wir untersuchten diese Erklärungsmodelle
süchtigen Verhaltens bei deutschen und türkischen Jugendlichen, d.h. einer der größten
Migrantengruppen. Türkische Jugendliche lehnten viele medizinisch zentrale Begriffe
zur Beschreibung und Erklärung abhängigen Verhaltens als unangemessen ab. Präventionsarbeit
muss diese Unterschiede berücksichtigen, wenn sie die Migranten erreichen will.
Summary
In Germany, immigrants rarely use the medical system for drug addiction. Access to
medical treatment may be restricted by cultural or social barriers. Qualitative interviews
were used to examine treatment options for and experience of drug addicted migrants
and professionals. Migrants reported feelings of helplessness, lack of influence,
discrimination, social exclusion, and fears to lose the right to stay in Germany as
explanations for reduced or late utilization of the medical system. Cultural differences
in the understanding and interpretation of drug addiction may also contribute to reduced
access to professional treatment. Explanatory models of addictive behavior were examined
in German and Turkish youth, i.e. one of the largest immigrant groups in Germany.
Turkish youth rejected many important medical expressions as inadequate to describe
addiction. Such differences in explanatory models should be considered if preventive
efforts are supposed to reach immigrant populations.
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1 Bereits der Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz kann für drogenabhängige Migranten
erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen. Nach §46 Abs. 4 der Ausländergesetzgebung
(AuslG) kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn er Heroin, Kokain oder ein vergleichbar
gefährliches Betäubungsmittel verbraucht und nicht zu einer erforderlichen, seiner
Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist. Bei Abbruch der Therapie folgt die
Ausweisung bzw. Fahndung bei noch zu verbüßender Reststrafe.
2 Zur Illustration der Untersuchungsergebnisse werden Zitate aus diesen Interviews
herangezogen.
3 Zwar wird bei Migranten mit gültigem oder unbefristeten Aufenthaltsstatus bei einer
Erstauffälligkeit von einer Strafverfolgung abgesehen, wenn Drogenbesitz oder -handel
nicht nachweisbar ist. Allerdings wies der Frankfurter Oberstaatsanwalt darauf hin,
dass Migranten aufgrund ihres Ausländerstatus oftmals härter bestraft werden auf Grund
eines „Missbrauches des Gastrechts” [17], was letztendlich zur Ausweisung führen kann.
4 Wer wegen vorsätzlicher Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) rechtskräftig
zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung
verurteilt worden ist, kann nach §47 Abs.1, Nr.2 des AuslG ausgewiesen werden.
5 In Deutschland treten laut Angabe des Ethnomedizinischen Zentrums Hannover bisher
nur vereinzelt Ess-Störungen unter türkischen Frauen auf. Auch ihr Therapieanteil
ist äußerst gering.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. A. Heinz
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité
Humboldt-Universität zu Berlin
Schumannstr. 20/21
10117 Berlin
Email: andreas.heinz@charite.de