Gesundheitswesen 2004; 66 - 213
DOI: 10.1055/s-2004-833951

Stigmatisierungspotenziale genetischer Diagnostik in Vergangenheit und Gegenwart

S Stöckel 1
  • 1Abt. Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Hintergrund: Die „Erbforschung“ der 1920er bis 1940er Jahre hatte eine als vererbt angenommene Erkrankung als „Minderwertigkeit“ bezeichnet. Der Ausschluss von gesundheitlicher Versorgung und die massenhaft angewandte Sterilisationspraxis im Nationalsozialismus dokumentierten die Folgen derartiger Diagnosen auf dramatische Weise. Angesichts der Warnung vor weiter steigenden Gesundheitsausgaben und einer gleichzeitig zunehmenden medizinischen wie auch öffentlichen Erwartung an die Voraussehbarkeit von Erkrankungen stellt sich die Frage, zu welchen Konsequenzen die Zunahme und Vorverlegung der Risikoprognosen in Zukunft führen. Ziel: Analyse des historischen und aktuellen Stigmatisierungspotentials. Methoden: Historische Analyse, Auswertung aktueller Literatur. Ergebnisse: Im Unterschied zu historischen Aussagen der Medizin finden sich in der aktuellen medizinischen Diskussion keine Diffamierungen genetischer Risiken, sondern der Verweis auf individuelle Prävention, Enhancement und Risikomodifikation. Die damit verbundenen positiven, bisher aber nicht validierten Erwartungen richten sich auf das individuelle Risikomanagement. Gleichzeitig ist im ökonomischen Kontext von Privatversicherungen Leistungsausschluss und Beitragserhöhung bei bekannten Risiken bereits gängige Praxis. Diskussion: Schlagen die Erwartungen an die Prävention genetischer Risiken fehl, besteht die Gefahr der Stigmatisierung nicht aufgrund genetischer Fakten, sondern der Unfähigkeit, sie zu managen. Zudem führt die ökonomische Benachteiligung bei bekannten Risiken zu einer Vergrößerung der sozialen Ungleichheit, die ihrerseits kontraproduktiv für den Erfolg von Präventionsmaßnahmen sein dürfte. Schlussfolgerungen: Die „politisch korrekte“ Bezeichnung genetischer Dispositionen, die die von ihr Betroffenen nicht stigmatisiert, ist nicht gleichzusetzen mit ihrer ökonomischen und damit faktischen Gleichberechtigung. Die erwarteten Präventionspotentiale enthalten angesichts ihrer fehlenden Validierung und der zu erwartenden Vergrößerung sozialer Ungleichheit ihrerseits sozialen Sprengstoff.