Aktuelle Neurologie 2005; 32 - 170
DOI: 10.1055/s-2005-866706

Der M. sternocleidomastoideus – Anatomische Varianten und Rolle bei zervikalen Dystonien

G Reichel 1, A Stenner 1, A Jahn 1
  • 1Zwickau

Hintergrund: Der M. sternocleidomastoideus (SCM) ist der bei zervikalen Dystonien am häufigsten beteiligte Halsmuskel. Die Funktion des SCM wird in neurologischen und anatomischen Lehrbüchern unterschiedlich dargestellt. Eine beiderseitige Einbeziehung des SCM in eine Dystonie soll nach neurologischer Auffassung zu einem Anterocollis, nach anatomischer Lehrmeinung zu einem Retrocollis führen. Außerdem wird in der anatomischen, nicht aber in der neurologischen Literatur über zahlreiche Varianten des SCM berichtet.

Methoden: Bei 50 Patienten mit der Verdachtsdiagnose „zervikale Dystonie“ wurden u.a. folgende Untersuchungen durchgeführt: Klinische Analyse der Kopfhaltung und -bewegung, EMG der oberflächlichen Halsmuskeln, MRT der Halsweichteile in unterschiedlichen Schnittebenen (axial, sagittal, schräg durch die tiefe Nackenmuskulatur). Insbesondere wurde der SCM an den Ursprüngen (Clavicula, Sternum), im Verlauf und am Ansatz (Hinterfläche des Processus mastoideus, Linea nuchae superior) beurteilt, wobei außerdem auf Seitendifferenz, Form und Durchmesser des Muskels geachtet wurde.

Ergebnisse:

  • Der Ansatz des SCM liegt nahezu immer hinter der Kippachse des Kopfes. Dabei ist der Anteil der Sehne, die über eine längere Strecke an der Linea nuchae superior ansetzt und sich oft mit der Sehne des M. trapezius vereinigt, interindividuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bei dystoner Kontraktion eines SCM kommt es zu einem Torticollis mit Retrocollisanteil. Eine beiderseitiger Kontraktion führt zur Feststellung des Kopfes, einer Anhebung des Gesichts und einer Vorwärtbewegung des Kopfes. Beiderseitige Dystonien des SCM haben somit einen Shift des Kopfes nach vorn zur Folge, nicht aber einen Anterocollis.

  • Der SCM verläuft interindividuell sehr variabel. Neben Variationen des Ursprungs (Abgang nur vom Sternum oder nur von der Clavicula) sind Variationen des Verlaufs (komplette, inkomplette oder fehlende Vereinigung der beiden Köpfe, nur ein Kopf ausgebildet, drei getrennt verlaufende Köpfe) sehr häufig zu beobachten.

Schlussfolgerungen:

  • Bei Empfehlungen zur Injektionsbehandlung der zervikalen Dystonie mit Botulinumtoxin sollte die Funktion des SCM berücksichtigt werden. Ein Anterocollis oder ein Anterocollisanteil bei anderen Formen der zervikalen Dystonien sind nicht durch einen dystonen SCM bedingt.

  • Vor Durchführung einer Botulinumtoxinbehandlung sollte ein Überblick über die konkrete Variante des SCM verschafft werden, um zu verhindern, dass dystone Anteile nicht behandelt werden bzw. dass Botulinumtoxin in nichtdystone Anteile injiziert wird.