Zusammenfassung
Einleitung: Die somatoforme Störung, auch bekannt als funktionelle Störung, wird durch die ICD-10
im psychiatrischen Abschnitt F45 definiert. Die Erkennbarkeit dieser Störung ist schwierig.
Wie hängt die Anzahl der Symptome, wie hängen psychosoziale Störungen und inadäquates
Krankheitsverhalten mit der ärztlichen Diagnose der Störung zusammen? Methoden: In 12 Hausarztpraxen wählten Ärzte Patienten mit und ohne die Vermutung einer somatoformen
Störung aus. Sie untersuchten die Patienten gründlich, vermerkten deren Symptome,
psychosoziale Verhaltensstörungen sowie inadäquates (hypochondrisches) Krankheitsverhalten.
Patienten beantworteten Fragen über die Häufigkeit von 36 Beschwerden, fünf Fragen
zu psychosozialen Belastungen, vier zu ihrem Krankheitsverhalten und eine zur Häufigkeit
von Arztbesuchen. Ergebnisse: 1. 23 Patienten wurden ärztlich als nicht, 24 als somatoform gestört eingeschätzt.
Letztere nannten überzufällig häufige und vielfältige Symptome (t-Test: CI 0,33-3,7
und p = 0,021). 2. Ärzte stuften 15 dieser 24 Patienten als auch sozial, beruflich
und interpersonal gestört ein (Chi-Quadrat-Test: p = 0,0001). Aus den Patientenangaben
hierzu konnte ein überzufälliger Zusammenhang mit einer vermuteten somatoformen Störung
jedoch nicht errechnet werden. 3. Auch Fragen nach körperlicher Schwäche und Empfindlichkeit,
nach vielen Sorgen um die eigene Gesundheit etc. waren nicht mit der ärztlichen Diagnosevermutung
einer somatoformen Störung assoziiert. Schlussfolgerung: Die zahlenmäßige Erfassung von Beschwerden/Symptomen ist ein wesentlicher Bestandteil
der Diagnosestellung, psychosoziale Verhaltensstörungen und inadäquates Krankheitsverhalten
in unserer Arbeit nicht. Die Gründe hierfür werden diskutiert. Eine im Praxisalltag
umsetzbare strukturierte Hilfe bei der Diagnosestellung erscheint wertvoll und notwendig.
Abstract
Introduction: Somatoforme disorders, also known as functional diseases, are defined through the
psychiatric chapter F45 within the ICD-10. These disorders are difficult to recognize.
How does the number of symptoms influence doctors' diagnosis? How does the evaluation
of psychosocial malfunctions and of hypochondric attitudes attribute to this? Methods: Twelve familiy doctors preselected patients with and without somtoforme disorders.
They performed a thorough physical examination, wrote down the patients' symptoms
and recorded psychosocial difficulties as well as hypochondric attitudes. Patients
had to answer a questionnaire about 36 complaints, 5 questions about psychosocial
circumstances, 4 about hypochondric thoughts and feelings and one about the frequency
of consultations at surgeries. Results: 24 patients were diagnosed as somatizers, wereas 23 were not. The first group offered
considerably more symptoms/complaints than the controls (t-test CI 0.33-3.7; p = 0.021).
Doctors labelled 15 out of these 24 somatoforme patients with social, professional
and interpersonel malfunctions, too (Chi-Quadrat-test: p = 0.0001). Patients records
however didn't reveal any statistical associations to the doctors' diagnoses. Also
questions about bodily weakness, sorrows about their own sanitiy etc. weren't statistically
associated. Conclusion: To count all the symptoms must be regarded as essential. In contrary, psychosocial
difficulties and hypochondric behavior in our trial did not show associations to somatoforme
disorders. Reasons for this will be discussed. A structured instrument for the diagnostic
work in family practice nevertheless seems to be helpfull and necessary regarding
somtoforme disorders.
Schlüsselwörter
somatoforme Störung - Hausarztmedizin - Sozialverhalten - Hypochondrie
Key words
somatoform disorder - primary care - social behavior - hypochondria
Literatur
1 DIMDI .ICD-10-GM, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten. 10.
Revision, Deutscher Ärzteverlag 2004
2
Sharpe M, Mayou R.
Somatoform disorders:a help or hindrance?.
Br J Psychiatry.
2004;
184
465-467
3
Jobst D, Abholz H H.
Die somatoforme Störung - eine versäumte Kontroverse mit der Psychiatrie.
Z Allg Med.
2004;
80
371-376
4
Kroenke K.
Patients presenting with somatic complaints: epidemiology, psychiatry comorbidity
and management.
Int J Methods Psychiatr Res.
2003;
12
34-43
5 Morschitzky H. Somatoforme Störungen. Springer, Wien 2000
6 Henningsen P, Hartkamp N, Loew M. et al .Leitlinie Nr. 051/001-3: 1. Somatoforme
Störungen im Überblick, 2. Somatisierungsstörung, 3. Undifferenzierte Somatisierungsstörung. AWMF
online 2001
7
Peveler R, Kilkenny L, Kinmonth A L.
Medically unexplained physical symptoms in primary care.
J Psychosomatic Research.
1997;
3
245-252
8 Rief W, Hiller W, Heuser J. Das Screening für Somatoforme Störungen, Manual zum
Fragebogen. Hans Huber, Bern 1997
9 Saß H, Wittchen H U, Zaundig M. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer
Störungen DSM-IV (dt. Bearbeitung). Hogräfe, Göttingen 1996
10 WHO .Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F)
Klinisch-diagnostische Leitlinien. Huber, Bern 2004
11
Cape J, McCulloch Y.
Patients' reasons for not presenting emotional problems in general practice consultations.
Br J Gen Practice.
1999;
49
875-879
12 Franz M, Schepank H. Epidemiologie funktioneller Erkrankungen. In: Herrmann JM,
Lisker H, Dietze GJ (Hrsg). Funktionelle Erkrankungen. Urban und Schwarzenberg; München
1996
13
Hessel A, Geyer M, Gunzelmann T. et al .
Somatoforme Beschwerden bei über 60-Jährigen in Deutschland.
Z Gerontol Geriatr.
2003;
36
287-296
14
Hoyer J, Wittchen H U.
Generalisierte Angsstörung in der primärärztlichen Praxis.
Versicherungsmed.
2003;
55
127-135
15
Limosin F, Loze J, Zylberman-Bouhassira M. et al .
The course of depressive illness in general practice.
Can J Psych.
2004;
49
119-123
16 Jobst D, Abholz H H. Funktionelle Störungen und somatoforme Störungen. In: Kochen
MM (Hrsg). Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Thieme, Stuttgart 2006 (im Druck)
17 Hiller W, Zaudig M, Mombour W. ICD-10 Symptom-Checklisten der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) für psychische Störungen (SCL). Hogräfe, Göttingen 1997
18 Kupfer D J, First M B, Regier D A. A research agenda for DSM-V™. American Psychiatric
Publishing Inc. 2002
1 Definition der somatoformen Störungen F45.0, F45.1 (ICD-10-SGBV, Systematisches Verzeichnis
(10. Revision) 6/99, Deutscher Ärzteverlag) F45.0, F45.1: Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde
körperliche Symptome, die wenigstens zwei Jahre bestehen. Die meisten Patienten haben
eine lange und komplizierte Patienten-Karriere hinter sich, sowohl in der Primärversorgung
als auch in spezialisierten medizinischen Einrichtungen, wo viele negative Untersuchungen
und ergebnislose explorative Operationen durchgeführt sein können. Die Symptome können
sich auf jeden Körperteil oder jedes System des Körpers beziehen. Der Verlauf der
Störung ist chronisch und fluktuierend und häufig mit einer langdauernden Störung
des sozialen, interpersonalen und familiären Verhaltens verbunden. Eine kurzdauernde
(weniger als zwei Jahre) und weniger auffallende Symptomatik wird besser unter F45.1
klassifiziert (undifferenzierte Somatisierungsstörung).
2 „Screening für Somatoforme Störungen”: Psychiatrisch-klinisches Erhebungsinstrument,
u. a. mit 52 Items zur Angabe von Symptomen und 14 weiteren Fragen, mit Befindlichkeits-Tagebuch,
mit Fragebogen zur Veränderungsmessung etc.
3 Schwellenwert laut ICD-10-Forschungskriterien, von dem an die Diagnose als gesichert
gilt: Sechs von 14 Symptomen aus mindestens zwei Körperbereichen.
Dr. Detmar JobstArzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren
Lehrbeauftragter der medizinischen Fakultäten Bonn und Düsseldorf
Rilkestr. 53
53225 Bonn
eMail: detmarJ@uni-bonn.de