Z Orthop Ihre Grenzgeb 2006; 144(1): 14-15
DOI: 10.1055/s-2006-933574
Orthopädie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bandscheibenbedingte Erkrankungen

Further Information

Publication History

Publication Date:
23 February 2006 (online)

 

Die eigentlich für einen Vierfüßler gedachte Wirbelsäule ist in ihrer Anatomie und Biomechanik den Anforderungen beim Menschen nicht gewachsen.

Die mikroskopischen und makroskopischen Strukturelemente im Bewegungssegment sind auf die horizontale Belastung eines Vierfüßlers eingerichtet. Die mit dem aufrechten Gang verbundene andauernde Vertikalbelastung der Bandscheiben ist für die Zellen und bindegewebigen Strukturen im Gallertkern und Anulus fibrosus unphysiologisch. Hinzu kommender Bewegungsmangel wirkt sich ungünstig auf die Ernährung des Gewebes im Zwischenwirbelabschnitt aus.

Die Bandscheiben des Menschen sind gefäßlos und werden über ein osmotisches System per diffusionem ernährt. Druckabhängige Flüssigkeitsverschiebungen im Zwischenwirbelabschnitt werden auch durch neurere Untersuchungen bestätigt. Regelmäßiger Wechsel zwischen Be- und Entlastung fördert, Haltungskonstanz - vor allem unter Belastung - behindert den Stoffaustausch im Zwischenwirbelabschnitt.

Alle Veränderungen im vorderen Anteil des Bewegungssegmentes haben Rückwirkungen auf die Wirbelgelenke. Sie sind schicksalsmäßig mit der Bandscheibe verbunden. Anhaltende Höhenminderung des Zwischenwirbelabschnitts führt zu einer unphysiologischen Belastung der Wirbelgelenke mit nachfolgender Arthrose ggf. Spinalkanalstenose.

Nicht degeneratitve Bandscheibenerkrankungen

Anlagebedingte Veränderungen des Zwischenwirbelabschnittes, Kalkeinlagerungen und Verformungen der Bandscheiben bei Osteoporose sind harmlos.

Nicht degenerative Bandscheibenerkrankungen spielen gegenüber den bandscheibenbedingten Erkrankungen auf degenerativer Basis eine untergeordnete Rolle. Bis auf die Diszitis gilt dies sowohl für die angeborenen und anlagebedingten als auch für die erworbenen Veränderungen im Zwischenwirbelabschnitt. Chordareste, juvenile Aufbaustörungen und kongenitale Fehlbildungen sind oft sehr eindrucksvoll in den bildgebenden Verfahren, haben aber nur eine geringe bis keine klinische Relevanz. Bei Entzündungen und Tumoren sind die Bandscheiben als gefäßlose Gewebe nur indirekt beteiligt. Hämatogene Infektionen und Metastasen siedeln sich primär im Wirbelkörper an und dringen dann in die Bandscheiben.

Allgemeinerkrankungen wie Diabetes, Ernährungsstörungen, Herz- und Kreislauferkrankungen haben keine direkten Einwirkungen auf das Bandscheibengewebe. Einlagerungen bei der Ochronose (Alkaptunorie) sind ebenso harmlos wie Kalkeinlagerungen, welche vor allem bei Jugendlichen beschrieben werden. Die ballonförmige Auftreibung der Bandscheiben beim Widerstandsverlust der Deck- und Bodenplatten, wie z.B. bei der Osteoporose weist auf den noch gut erhaltenen Quelldruck des Bandscheibengewebes hin.

Diskose

Die Diskose ist beim Menschen regelhaft und verursacht in den unteren Abschnitten der Hals- und Lendenwirbelsäule häufig bandscheibenbedingte Erkrankungen.

Analog zur Arthrose mit pathologisch anatomischen sowie biomechanischen Veränderungen im Gelenk, gibt es eine Diskose im Zwischenwirbelabschnitt, mit dem Unterschied, dass die Diskose beim Menschen im Gegensatz zu den Arthrosen regelhaft eintritt. Ursache ist der aufrechte Gang mit frühzeitiger Alterung des ständig unter Druck stehenden bradytrophen Bandscheibengewebes, das durch zusätzliche Bewegungsarmut schlecht ernährt wird und verschleißt.

Die degenerativen Veränderungen im Zwischenwirbelabschnitt stellen nur ein Krankeitspotenzial dar und können weit gehend symptomfrei verlaufen. Häufig rufen sie jedoch schon beginnend im Jugendalter bandscheibenbedingte Erkrankungen hervor, die im mittleren Lebensabschnitt hinsichtlich Frequenz und Intensität ihren Höhepunkt haben. Danach kommt es zur wohltätigen Teilversteifung der Wirbelsäule.

Zur Pathogenese gibt es zahlreiche histologische, biochemische und biomechanische Untersuchungen zum Einfluss äußerer Faktoren, insbesondere berufliche Belastung. Die im Rahmen der degenerativen Veränderungen vorübergehend auftretende Instabilität im Bewegungssegment erlangt eine besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Indikation zur Fusionsoperation bzw. zum Bandscheibenersatz.

Es gibt anlagebedingte oder erworbene Form- und Funktionsstörungen an der Wirbelsäule selbst und an den Extremitäten, etwa Beinlängendifferenzen, welche als prädiskotische Deformitäten die Diskose im Zwischenwirbelabschnitt verstärken und ggf. bandscheibenbedingte Erkrankungen hervorrufen.

Traumatologie: Bandscheibenverletzungen

Die Bandscheiben des Menschen sind verletzungsanfällig.

Ähnlich wie am Gelenk kommt es auch im Bewegungssegment bei traumatischen Einwirkungen zu Verletzungsfolgen mit und ohne Kontinuitätsdurchtrennung von Weichteilen und Knochen. Je nach Schweregrad der Gewalteinwirkung und Ausmaß der immer vorhandenen Diskose kommt es entweder zur einfachen, folgenlos ausheilenden Distorsion des Bewegungssegmentes oder zur Ruptur des Anulus fibrosus mit Bandscheibenvorfall. Eine intakte Bandscheibe, die allerdings beim erwachsenen Menschen nicht vorausgesetzt werden kann, ist äußeren Einwirkungen gegenüber sehr widerstandsfähig: Es kommt eher zum Wirbelbruch als zur Bandscheibenzerreißung. Im mittleren Lebensabschnitt ist es eher umgekehrt: Das degenerativ gelockerte Bandscheibengewebe verlagert sich noch, bevor der Wirbel bricht. Dass die Diskose beim Menschen dem Normalzustand entspricht, ist bei der Beurteilung der Beschleunigungsverletzung an der Halswirbelsäule und bei der Fragestellung Bandscheibenvorfall und Unfall zu berücksichtigen.

Bei jedem Wirbelbruch mit Beteiligung der Deck- und Bodenplatten ist auch die Bandscheibe involviert. Meistens kommt es zur posttraumatischen Verfestigung des Zwischenwirbelabschnitts.

Schmerzentstehung und Chronifizierung

Vertebragene Schmerzen sind vielfältig und neigen zur Chronifizierung.

Die Vielfältigkeit vertebragener Schmerzen geht aus der Anordnung hochempfindlicher Nervenstrukturen im Bewegungssegment hervor, das vor allem aufgrund degenerativer Veränderungen schon frühzeitig Form- und Funktionsstörungen aufweist. Diskogene, ligamentäre, radikuläre und von den Wirbelgelenkkapseln ausgehende Schmerzen lassen Schmerzkombinationen entstehen, die bei mangelnder Untersuchungstechnik und fehlender Sachkenntnis auf Begriffe, wie "einfache Kreuzschmerzen" und "pseudoradikuläre Syndrome" reduziert werden.

Eine besondere "Wetterecke" des Bewegungssegmentes ist die Foramino-artikuläre-Region. Hier treffen der Spinalnerv und seine drei Äste mit den Form- und Funktionsstörungen der Bandscheibe auf der einen Seite und dem Wirbelgelenk auf der anderen Seite zusammen. Lokale therapeutische Ansätze finden sich vor allem in diesem Abschnitt des Bewegungssegmentes. Bandscheibenvorfälle und Wirbelgelenkdeformierungen mit Zielrichtung auf diese Region lassen Krankheitsbilder mit starken Schmerzen entstehen.

Neben der mechanischen Kompression sind biochemische Interaktionen zwischen Bandscheibenmaterial und Nervenelementen zu berücksichtigen.

    >