Psychiatr Prax 2006; 33(2): 98-99
DOI: 10.1055/s-2006-933637
Fortbildung und Diskussion
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wenn Krankenhäuser Stimmen hören

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Publikationsdatum:
03. März 2006 (online)

 

Die Annahme, dass Krankenhäuser Stimmen hören können, wie die Autoren in ihrem Titel nahe legen, weist bereits auf die systemtheoretische Sichtweise hin, die dem Buch zugrunde liegt: In dieser Sicht sind Krankenhäuser nicht Institutionen, die als die Summe ihrer Mitarbeiter und der Arbeitsabläufe funktionieren, sondern sie sind als Organisationen komplexe soziale Systeme, die eine eigene Dynamik und Gesetzmäßigkeiten entwickeln. Nachdem die Gedanken der Systemtheorie bereits in Form der systemischen Therapie für die Versorgung von psychiatrischen Patienten fruchtbar gemacht worden sind, wurden sie in den letzten Jahren auch als gewinnbringend für das Verständnis von Organisationen erkannt. Hiervon ausgehend entwickeln die Autoren ein Organisationsentwicklungskonzept für psychiatrische Krankenhäuser, das im Rahmen des konkreten Projektes "Systemische Organisationsentwicklung in psychiatrischen Einrichtungen" (Heidelberger Projekt) von 1997-2001 realisiert wurde.

In einem einleitenden Kapitel wird der Leser an das systemtheoretische "Basis-Know-How" herangeführt. Daraus ergibt sich, dass instruktive Interventionen, wie sie zumeist im Management verwendet werden, im System Krankenhaus wenig bewirken können, und dass stattdessen einer kontextuellen Intervention als Steuerungsprinzip der Vorzug zu geben ist. In dieser systemtheoretischen Logik treten quantitative Methoden zur Evaluation hinter qualitativen zurück, wie es der Survey feedback Ansatz ist: Externe Beobachter besuchen psychiatrische Krankenhäuser und machen hier anhand einer Reflexionsliste ihre Beobachtungen: Wie wird mit Patienten und Angehörigen gesprochen, Entscheidungen kommuniziert und verhandelt? Wie partizipieren Mitarbeiter an der Organisation? Wie ist die Leitungskultur? Und schließlich: Wie sind die Beziehungen der Institution nach außen? Diese Beobachtungen der von außen kommenden Person in den genannten Feldern werden den Mitarbeitern zurückgemeldet, sie hören also eine Stimme, die ihnen möglicherweise neues sagt, was sie selbst aus der Binnenperspektive der Organisation nicht wahrnehmen können. Das ist ein Input, der dann in dem System Krankenhaus aufgegriffen und genutzt werden kann, der wirken wird.

Eine andere Möglichkeit, gleichsam Stimmen laut werden zu lassen, sind Befragungen von Patienten, Mitarbeitern oder Kunden der Klinik. Der Problematik, dass die üblichen Zufriedenheitserhebungen oft undifferenzierte Ergebnisse mit wenig aussagekräftigen, hohen Zufriedenheitsraten bringen, begegnet der von Schweitzer und seinen Koautoren verwendete Ansatz mit einem Perspektivenwechsel: Patienten werden gefragt, was sie in der Klinik ändern würden, wenn sie Chefarzt wären, Mitarbeiter werden nach ihren Änderungsvorschlägen gefragt, wenn sie Patient wären. Leicht vorstellbar, dass damit Möglichkeiten für Neuerungen ins Blickfeld geraten, die zuvor nicht gedacht werden konnten, aber auch, dass manche fixiert-stabile Konvention des Systems auf den Prüfstein gestellt werden muss.

Neben den systemtheoretisch basierten Interventionen gibt das Buch Raum für die Darstellung einer systemisch gestalteten Organisationskultur eines psychiatrischen Krankenhauses, in dem der systemische Gedanke Leitidee zur Gestaltung aller Arbeitsprozesse wird. In der Versorgung von Patienten werden damit Wege zur Ressourcenorientierung und Personenzentrierung frei, in der Personalführung Wege zur Mitarbeiterbeteiligung und Personalförderung.

Das vorliegende Buch macht deutlich, wie eine systemisch fundierte Organisationsentwicklung in psychiatrischen Krankenhäusern funktionieren kann und welche Möglichkeiten und Chancen sich daraus ergeben könnten. Das Ziel einer "unité de doctrine" würde sich damit insofern erfüllen, als kontextuell-systemisches Denken sowohl die Arbeit mit den Patienten und ihren Angehörigen als auch die Organisation des Krankenhauses und die Mitarbeiterführung prägt. Damit eröffnet sich für Psychiater und Psychotherapeuten eine Möglichkeit, in ihren Kliniken eine kreative und offene Kultur einzuführen. Zugleich ist aber anzumerken, dass die systemische Therapie in der Psychotherapielandschaft in ihrer Bedeutung und Verbreitung eher hinter den unterschiedlichen individuell ausgerichteten Therapieansätzen ansteht, sodass abzuwarten bleibt, in welchem Maß eine systemische Organisationsentwicklung an psychiatrischen Krankenhäusern in der Zukunft zum Einsatz kommen kann.

Das Buch verschafft einen gut lesbaren, klaren und differenzierten Überblick und Eindruck über die dargestellte Thematik. Als solches ist es empfehlenswert für alle, die sich mit dem systemischen Ansatz oder mit Organisationsentwicklung, Führung oder Management im Krankenhaus befassen und offen sind für einen neuen Blick.

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