Viszeralchirurgie 2006; 41(6): 415-417
DOI: 10.1055/s-2006-955195
Das viszeralchirurgische Prüfungsgespräch

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Karzinoide

Gastrointestinal CarcinoidsT. Walles1 , K. P. Thon1
  • 1Abteilung für Allgemein-, Viszeral- und Unfallchirurgie, Robert-Bosch-Krankenhaus, Stuttgart
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Publication Date:
14 December 2006 (online)

Frage 1: Was versteht man unter Karzinoiden?

Der Begriff „Karzinoid” beschreibt eine Subgruppe von neuroendokrinen Tumoren (NET), die das biologisch aktive Peptid ‚Serotonin’ freisetzen. In der Vergangenheit wurden alle Tumoren des neuroendokrinen Zellsystems des Gastrointestinaltraktes unter dem Oberbegriff „Karzinoide” zusammengefasst. Seit dem Jahr 2000 werden nach der WHO diese Hormon-/Peptid-produzierenden Neoplasien generell als NET bezeichnet. Unterschieden wird zwischen gut differenzierten neuroendokrinen Tumoren (Karzinoiden) und gut differenzierten sowie schlecht differenzierten neuroendokrinen Karzinomen. Differenzierungsmerkmale sind invasives Wachstum und Metastasenbildung sowie Tumorgröße, Angioinvasion, Proliferationsindex und funktionelle Aktivität [1].

Überwiegend handelt es sich bei Karzinoiden um nicht-erbliche, sporadisch auftretende Tumoren. Gelegentlich kommen sie aber auch bei anlagebedingten Tumorerkrankungen wie der multiplen endokrinen Neoplasie (MEN 1) vor.

Frage 2: Wo und wie häufig kommen Karzinoide vor?

Entsprechend ihrer ontogenetischen Abstammung aus dem primitiven embryonalen Gastrointestinaltrakt kommen Karzinoide im Thorax und im Abdomen vor. Häufigster Manifestationsort im Magen-Darm-Trakt ist die Appendix (ca. 50 %), etwa 30 % der GI-Karzinoide sind im Dünndarm lokalisiert. So findet man in 0,3-0,9 % aller Appendektomiepräparate ein Karzinoid als Zufallsbefund [2], das in zwei von drei Fällen im distalen Drittel, also an der Appendixspitze liegt [3]. Annähernd 20 % aller Neoplasien des Wurmfortsatzes sind maligne Karzinoide.

Aufgrund ihres embryonalen Ursprungs können Karzinoide als so genannte „foregut”-Tumoren aber auch in Magen und Duodenum, im oberen Jejunum und im Pankreas, als „midgut”-Tumoren im unteren Jejunum, Ileum und Zökum/Appendix sowie als „hindgut”-Tumoren im Kolon und Rektum vorkommen. Extraintestinale Karzinoide finden sich gelegentlich im Bronchialbaum und im Thymus.

Frage 3: Wann besteht die Indikation zur chirurgischen Therapie?

Die meisten Karzinoide sind asymptomatisch und werden eher zufällig im Rahmen anderweitig intendierter chirurgischer Eingriffe entdeckt. Als potenziell maligner Tumor eingestuft stellt jeder Karzinoidnachweis eine Indikation zur Operation mit kurativem Ansatz dar. Bei vielen Patienten liegt aber mit Diagnosestellung bereits eine metastasierte Tumorerkrankung vor, so dass die Operation letztlich ein palliatives Verfahren darstellt. Aber auch der palliative, im Sinne eines ‚Debulking’ vorgenommene Eingriff reduziert die Tumorlast, erleichtert somit die Symptomkontrolle und beugt tumorassoziierten Komplikationen wie Blutungen, Organperforationen und Ileuszuständen vor.

Frage 4: Welche onkologischen Prinzipien gelten in der Karzinoid-Chirurgie?

Wegen der frühzeitigen lymphogenen Metastasierung müssen auch bei sehr kleinen Karzinoiden die regionären Lymphknoten im Bereich des vaskulären Abstromgebietes mit entfernt werden. Vor allem am Dünndarm sind infolge des Metastasierungsweges entlang der Gefäßarkaden bis hin zu den zentralen Mesenterialgefäßen häufig ausgedehnte Resektionen aus durchblutungstechnischen Gründen erforderlich.

So ist die Chirurgie der Dünndarmkarzinoide in erster Linie eine Chirurgie der Lymphknoten [4]. Bei metastatischem Befall sind diese nicht selten um ein Vielfaches größer als der eigentliche Primärtumor. Anders als beim Befall der Appendix oder des Kolons spielen bei den Karzinoiden im Dünndarm die Tumorgröße oder die Tumorlokalisation für die Entscheidung zur onkologischen Resektion mit systematischer Lymphadenektomie keine Rolle.

Frage 4: Anlässlich einer Appendektomie wird als Zufallsbefund ein 1 cm großes Karzinoid an der Appendixspitze gefunden. Wie ist das weitere Vorgehen?

Ein inzidentell diagnostiziertes, unter 2 cm großes Appendixkarzinoid an der Appendixspitze zeigt im Regelfall ein gutartiges Verhalten. Da im Gegensatz zum Dünndarmkarzinoid eine Metastasierung nahezu ausgeschlossen werden kann, ist die erfolgte Standardappendektomie ausreichend. Sind allerdings die Serosa des Wurmfortsatzes oder das Mesenteriolum infiltriert oder liegt der Tumor an der Appendixbasis, ist nach heutigem Verständnis eine Nachresektion im Sinne einer leitlinienkonformen, nach onkologischen Kriterien durchgeführten Rechts-Hemikolektomie erforderlich.

Frage 5: Bei einer gynäkologischen Operation findet sich als Zufallsbefund ein erbsgroßes Knötchen im Dünndarm, das über eine keilförmige Wandresektion mit allseitigem Sicherheitsabstand von 1 cm entfernt wird. Der Pathologe diagnostiziert ein Karzinoid mit tumorfreien Resektionsrändern. Ist der Eingriff ausreichend?

Obwohl der Primärtumor allseitig „im Gesunden” entfernt wurde, genügt der Eingriff nicht den onkologischen Kriterien. Wegen der frühzeitigen Metastasierung müssen auch bei sehr kleinen Dünndarmkarzinoiden die regionären Lymphknoten bis zum Gefäßstamm der A. mesenterica sup. entfernt werden. Durch eine zweite Operation müsste also die Lymphadenektomie nachgeholt werden. Dabei sollte der gesamte Dünndarm inspiziert werden, da Dünndarmkarzinoide nicht selten multipel auftreten.

Frage 6: Nach welchen Regeln werden Karzinoide des Dickdarms operiert?

Karzinoide des Kolon sind sehr selten und zum Zeitpunkt der Diagnosestellung meistens bereits metastasiert. Sie sind häufig niedrig differenziert und gelten als aggressiv. Überwiegend treten sie im rechten Hemikolon auf. Die Therapie erfolgt analog zum Kolonkarzinom. Sehr kleine Tumoren (< 1 cm) können - wenn technisch möglich - endoskopisch abgetragen werden. Sinngemäß gilt dies auch für Karzinoide im Rektum, die praktisch immer hormoninaktiv sind.

Frage 7: Was versteht man unter einem Karzinoidsyndrom?

Durch die systemische Wirkung der von den Karzinoiden bzw. deren Metastasen freigesetzten biologisch aktiven Peptide kommt es anfänglich zu Diarrhöen, später durch plötzlich auftretende Vasodilatation auch zur Flush-Symptomatik mit blauroter Verfärbung des Gesichts und ggf. des gesamten Oberkörpers, zu Hitzewallungen mit Heißhungeranfällen und spontaner Hypoglykämie sowie zu Tachykardien und Dyspnoe bis hin zur lebensbedrohlichen Bronchialobstruktion. Zum so genannten Karzinoidsyndrom kommt es nur, wenn ein Serotonin produzierender extraintestinaler Tumor oder Lebermetastasen eines intestinalen Karzinoids vorliegen. Karzinoide des GI-Traktes ohne Lebermetastasierung führen nicht zum Karzinoidsyndrom, da deren intestinal freigesetztes Serotonin sofort in der Leber ab gebaut wird.

Frage 8: Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es beim Karzinoidsyndrom?

Da die Lebermetastasierung meist beide Lappen betrifft, ist eine kurative Resektion nur selten möglich. Bei fehlender Resektabilität kann dennoch zur palliativen Behandlung der Hormon-assoziierten klinischen Symptomatik eine zytoreduktive chirurgische Therapie im Sinne eines Debulking sinnvoll sein. Derzeit ist allerdings noch nicht geklärt, ob eine palliative Leberresektion auch zu einer Verlängerung der Überlebenszeit führt.

Alternativ zur oder in Kombination mit der Resektion können die alleinige oder präoperativen Chemoembolisation und die Radiofrequenzablation zur Anwendung kommen. Die rezeptorvermittelte Radionuklidtherapie mit an Octreotid gekoppeltem Yttrium90 (DOTATOC) oder Indium111 (In-Pentetreotid) können bei mehr als der Hälfte der Patienten zur Symptomverbesserung führen. Die symptomatische Behandlung mit Somatostatinanaloga (z. B. Octreotide) gegen Flush, Schwitzen oder Bronchospasmus und Loperamid gegen Diarrhöen richtet sich nach Art und Ausmaß der Beschwerden.

Bei gesichertem Ausschluss verbliebener extrahepatischer Tumormanifestationen kann in seltenen Einzelfällen eine Lebertransplantation in Erwägung gezogen werden.

Frage 9: Wie ist bei sachgerechter Therapie die Prognose der Karzinoid-Patienten?

Karzinoide des GI-Traktes sind im Vergleich zum Adenokarzinom langsam wachsende Tumore, die sich jedoch in Abhängigkeit von der Lokalisation und ihrer biologischen Aktivität unterschiedlich aggressiv verhalten. So haben über 10 % der Betroffenen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits Fernmetastasen. Pauschal betrachtet liegt aber die 5-Jahres-Überlebensrate bei 67 % [5]. Bezogen auf das Appendixkarzinoid beträgt sie 98 %. Beim Karzinoid des Rektums liegt sie bei 87 %, beim Karzinoid des Magens je nach Tumorstadium zwischen 81 % und 33 % und beim Dünndarm- sowie beim Kolonkarzinoid um 60 % [6].

Frage 10: Welche Untersuchungen sind für die Operationsplanung und die Nachsorge wichtig?

Die 111In-Octreotid-Szintigraphie stellt derzeit das sensitivste Nachweisverfahren für die Karzinoiddiagnose und die Staginguntersuchung dar. Allerdings werden die meisten Karzinoide als Zufallsbefund intra- bzw. postoperativ diagnostiziert. Bei endoskopischer Diagnosestellung erfordern die gastrointestinalen Karzinoide mit Blick auf eine frühzeitige lymphogene und hepatische Metastasierung die Durchführung eines Kontrastmittel-CT's. Nach der Tumorresektion entwickeln ca. 80-100 % aller Karzinoid-Patienten ansteigende Plasma-Chromogranin A-Werte als Ausdruck einer Metastasierung oder eines lokalen Rezidivgeschehens. Die prä- oder unmittelbar postoperative Bestimmung dieses ‚Tumormarkers’ ist daher für die Verlaufskontrolle unabdingbar. Trotz ihres üblicherweise niedrigen Stoffwechsels sind zahlreiche NET inklusive ihrer Metatasen dennoch im 18FDG-PET darstellbar.

Literatur

  • 1 Hartel W, Goretzki P E, Frilling A, Dralle H. Leitlinien zur chirurgischen Therapie von neuroendokrinen Tumoren des Gastro-entero-pankreatischen Systems. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Heft 3/2002
  • 2 Goede A C, Caplin M E, Winslet M C. Carcinoid tumor of the Appendix.  Brit J Surg. 2003;  90 1317-1322
  • 3 Connor S J, Hanna G B, Frizelle F A. Appendiceal tumors: retrospective clinicopathologic analysis of appendiceal tumors from 7 970 appendectomies.  Dis Colon Rectum. 1998;  41 75-80
  • 4 Thon K P. Vorgehen beim inzidentellen Karzinoid.  Chir Praxis. 2003;  61 671-672
  • 5 Modlin I M, Lye K D, Kidd M. A 5-decade analysis of 13 715 carcinoid tumors.  Cancer. 2003;  97 934-959
  • 6 Modlin I M, Kidd M, Latich I, Zikusoka M N, Shapiro M D. Current status of gastrointestinal carcinoids.  Gastroenterology. 2005;  128 1717-1751

Prof. Dr. med. Dr. h. c. K. P. Thon

Abteilung für Allgemein-, Viszeral- und Unfallchirurgie · Robert-Bosch-Krankenhaus

Auerbachstraße 110

70376 Stuttgart

Email: klaus-peter.thon@rbk.de

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