Z Orthop Unfall 2007; 145(6): 681-682
DOI: 10.1055/s-2007-1019434
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizin und Ökonomie, Orthopädie und Unfallchirurgie - Trennendes und Gemeinsamkeiten

Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
21. Dezember 2007 (online)

 

Eröffnungsrede des Kongress-Präsidenten Prof. Dr. Joachim Hassenpflug (gekürzt)

Prof. Dr. Joachim Hassenpflug

"Vergessen Sie alle Humanität, es geht nur noch um Wirtschaftlichkeit".

Ein Krankenhausdirektor

"Die Zusammenführung von Orthopädie und Unfallchirurgie ist das Ende des sensus orthopaedicus"

Ein Orthopäde

Zwei Zitate, von denen ich Ihnen zeigen möchte, dass sie falsch sind.

Die ökonomische Sicht ist nachvollziehbar. Es geht um eine verantwortliche Verteilung der solidarisch im Konsens von allen zu Verfügung gestellten Beiträge. Die Gesellschaft verlangt eine Reaktion des Monopols der Medizin auf Fragen nach Struktur und Kosten. Die Gesellschaft beginnt dieses Monopol in Frage zu stellen. Der Arzt umgeben von Ökonomen, Strategieberatern, Sanierern. Medizin als reines Renditeobjekt. Der Patient als abstrakte Klientel, als statistische Größe, die es wirtschaftlich, politisch und gewinnbringend zu vermarkten gilt. Die ökonomische Sicht beleuchtet immer nur einen Teilbereich ärztlicher Tätigkeit. Ökonomie ist eine patientenferne Profession.

Der Patient erwartet zu Recht eine Für-Sorge und eine Selbstverpflichtung, die über das rein Wirtschaftliche hinausgeht. Der Arzt hat eine altruistische Dienstleistung mit hoher moralischer Integrität zu erbringen. Wenn wir Ärzte dieses "Mehr" nicht mehr leisten - was unterscheidet uns dann wirklich von einer Reparaturwerkstatt?

Gerade bei Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems mit ihrer vielfach so mechanistisch anmutenden Erklärungsweise scheint eine Pauschalisierung und Standardisierung zwar nahe liegend: die Prothese als Austauschteil - nach dem Eingriff soll die Neuwertigkeit in der Funktion manchmal sogar garantiert werden. Gerade der künstliche Gelenkersatz hat eine sehr hohe Perfektion erreicht - weit mehr als 90 Prozent der Prothesen haben Standzeiten von mehr als zehn Jahren. Diese Erfolge scheinen inzwischen selbstverständlich.

Andererseits ist der "Bewegungsapparat" besonders häufig Projektionsort psychosomatischer Probleme, etwa bei Rückenschmerzen. Im normierten Zwangsablauf von Behandlungspfaden mit immer differenzierteren Organigrammen werden Konsultationen - also Fragen um Rat - durch Flussdiagramme aus industrieller Fertigung ersetzt. Wer als Patient dort nicht hineinpasst, "hat ein Problem", dem wird das System nicht gerecht. Das komplexe "Sich Kümmern" um die Belange des Patienten wird auf kaltem Wege wegrationalisiert. Die ärztliche Tätigkeit wird aufgespalten in den höchstspezialisierten "Monteur" und jemanden, der für den Rest des Patienten, für seine Persönlichkeit zuständig ist - modern formuliert den "Patientenlotsen".

Längst sind die Ärzte nicht mehr Hauptakteure im Gesundheitswesen, sondern abhängige Mitwirkende. Die Diskussion wird immer mehr ohne ihre Beteiligung geführt. Es wird über Gesundheit geredet, aber nicht mit den Betroffenen, schon gar nicht von den Beteiligten. Bei einem großen Berliner Kongress zum Gesundheitssystem - einem Treffen von "Entscheidungsträgern" - im Sommer dieses Jahres waren 5 von 200 Aktiven tatsächlich Ärzte - im Gesundheitsausschuss des Bundestages 6 von 31.

Verantwortlichkeit zwingt zu Effizienzsteigerung, Leistungsverdichtung, also Rationalisierungsmaßnahmen aber auch - ohne dass man es offen zugibt - zur Rationierung. Die Entscheidungskompetenz des Arztes wird aber weniger durch direkte Rationierung eingeschränkt, sondern durch indirekte, verdeckte, implizite Rationierung infolge ökonomischer Vorgaben. Die übliche betriebswirtschaftliche Analyse greift viel zu kurz. Aussagen wie "Eine Endoprothese für Ältere ist nicht mehr finanzierbar" sind in ihrer Kurzsichtigkeit nicht zu übertreffen. Schon wenn das Kunstgelenk hilft, die selbstständige Mobilität auch nur für wenige Monate zu erhalten, ist es volkswirtschaftlich ein Gewinn, weil Kosten für Pflegebedürftigkeit vermieden werden. Gesamtgesellschaftlich, volkswirtschaftlich haben Endoprothesen also auch im höheren Alter eine ausgesprochen günstige Kosten-Nutzen-Relation.

Solche Fragen der Rationierung gehören in die öffentliche und auch in die politische Diskussion unter Beteiligung der Ärzteschaft.

Die Gefahr ist indirekt dafür aber umso nachhaltiger: ganze Fachdefinitionen werden schleichend durch ökonomischen Druck verändert: z. B. die konservative Orthopädie. Behandlungen, die unbestritten stationär erfolgen sollten, werden nicht mehr vergütet, nicht mehr durchgeführt und im Endeffekt in der Weiterbildung von den jungen Kollegen an den Kliniken nicht mehr erlernt. Die verkürzten Liegezeiten führen zu einer Erfahrungslücke in der Einschätzung der präoperativen Krankheitsentstehung und der der postoperativen Komplikationsentstehung. Die Ausbildungsqualität von heute ist aber die Ergebnisqualität von morgen. Positive Berufsperspektiven sind dabei ein wesentlicher Motivationsfaktor.

Konservative und operative Behandlungen einschließlich der Rehabilitation liegen bei den Orthopäden schon immer in einer Hand. Sie werden ohne Schnittstellenverluste aufeinander abgestimmt. Eine solche Organspezifität mit dem gesamten Spektrum konservativ-operativ ist beispielhaft und wird in anderen Bereichen erst mühsam versucht aufzubauen - Stichwort: Neurozentrum, Kopfzentrum, integrierte Frührehabilitation.

Was können wir tun? Richten wir den "Blick nach vorn" um bei unserem Motto zu bleiben. Die Patienten müssen sicher sein können, dass ihr Arzt, der von ihnen gewählte Arzt, vor allem ihre ureigenen Interessen vertritt. Vertrauen ist ein wesentliches Fundament der Humanität - gerade darauf sollten wir nicht verzichten. Ein Vertrauensverlust würde die Grundlagen ärztlicher Tätigkeit gefährden. "Vergessen Sie alle Humanität?" Wohl kaum!

Medizin verlangt keine überhöhte Gesundheitsgläubigkeit. Aber der ethische Umgang zwischen Arzt und Patient ist der einzig mögliche, weil der Arzt sonst aufgrund der asymmetrischen Wissensverteilung beliebig manipulieren kann. Schon heute ist eine Verunsicherung vieler Patienten nicht zu übersehen - vielfach überinformiert aber ohne die Möglichkeit das Wissen für sich persönlich zu werten.

In den aktuellen Diskussionen geht es um mehr als um eine vordergründige ökonomische Optimierung des Gesundheitssystems. Der Zwang, Ärzte zu Unternehmern zu machen, birgt das Risiko, dass sie z. B. im Dienste fragwürdiger Marketingkampagnen oder Modetrends ihre Verpflichtung aufgeben, dem Primat des Patientennutzens und der Kollegialität zu folgen. Diese Diskussion ist in den USA bereits in vollem Gange. Die primäre Zielbestimmung des Gesundheitswesens ist keinesfalls seine alleinige finanzwirtschaftliche Ausrichtung. Die Ökonomie hat eine Hilfs- und Dienstleistungsfunktion für den Patientennutzen und nicht umgekehrt, sie ist subsidiär - auch wenn diese Dienstleistungsfunktion unbestritten wichtig ist, um das System zu optimieren.

Fassen wir zusammen: Konzentrieren wir uns auf die Interessen unserer Patienten und vertreten diese! Sie sind unsere Verpflichtung und unsere natürlichen Verbündeten. Die juristische Sicht ist eindeutig: Der Bundesgerichtshof sieht die Sicherheit der Patienten vor der Wirtschaftlichkeit - zumindest in seiner bisherigen Rechtsprechung.

Damit sind wir beim zweiten Komplex, der "Sensus orthopaedicus" und das Zusammengehen unsere beiden Fächer: Was wäre eigentlich, wenn wir alleine bestimmen könnten, ohne Fremdbestimmung, ohne Einfluss von Politik, Ökonomie, Verwaltungen? Würden wir es wirklich optimal organisieren? Was bedrängt uns von außen, was ist hausgemacht?

Das orthopädische Fach steht mitten in einem großen Wandel. Der gemeinsame Arzt für Orthopädie und Unfallchirurgie ist für viele schon Realität und damit auch eine große Chance, besonders für die Jüngeren, die heute in den Beruf hineinwachsen. Die Breite des gemeinsamen Faches ist so groß wie nur in wenigen anderen Gebieten. Sie kann weder vom bisherigen Orthopäden noch vom bisherigen Unfallchirurgen allein belegt werden. Das neue Fach ist für beide Seiten eine Bereicherung des Tätigkeitsfeldes, beide müssen dazulernen. Die Perspektiven muskulo-skelettaler Erkrankungen lassen ein deutliches weiteres Ansteigen der Krankheitshäufigkeiten erwarten. Sie bedingen bereits heute 40 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage. Fast jede dritte stationäre Operation fällt in diesen Bereich. Der krankheitsbedingte Verlust an Bruttowertschöpfung liegt bei 100 Milliarden Euro im Jahr, entsprechend ungefähr fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts ...

Diese sozioökonomische Zahlen unterstreichen die Notwendigkeit, Orthopäden und Unfallchirurgen mit direkter Zugangsmöglichkeit als Primärarzt für Erkrankungen und Verletzungen der Haltungs- und Bewegungsorgane einzusetzen.

Wie können wir diesen Prozess gestalten? Die wissenschaftlichen Fachgesellschaften für Orthopädie und für Unfallchirurgie haben Anfang des Jahres begonnen, eine Union Orthopädie Unfallchirurgie als gemeinsames Dach aufzubauen um die Weiterentwicklung des großen gemeinsamen Fachgebietes zu koordinieren.

"Wenn Du ein Schiff bauen willst, lehre die Leute die Sehnsucht nach dem großen weiten Meer". Wir brauchen eine Vision, um unser Ziel zu erreichen. Wir brauchen ein gemeinsames Leitbild für die Zukunft. Zielrichtung: Eine gemeinsame Identität, mit einer Stimme nach innen, mit einer Stimme nach außen.

Fairness im Umgang miteinander, unsere Ideen aber auch unsere Bedenken offen und transparent in die Diskussion einbringen, nicht "rumeiern und tricksen". Insbesondere, wenn in der Umgestaltungsphase einer der beiden versucht Vorteile für seine Belange zu ziehen, werden langfristig beide nicht gewinnen. Der "Unterlegene" bringt sich nicht ein und Kompetenz geht verloren. Fehlende Offenheit lässt die Probleme nicht im Großen lösen, sondern in kleinmütigen Grabenkämpfen auf der Stelle verharren. Unproduktive Restaurierungstendenzen helfen da schon gar nicht. Nicht nur für unsere jüngeren Kollegen ist das längst nicht mehr nachvollziehbar.

Im Wettbewerb um Ressourcen in Krankenversorgung und Wissenschaft sind wir als Verbündete gemeinsam schlagkräftiger als allein. Gemeinsam sind wir stark! Diese Binsenweisheit scheint so schlicht, dass manche meinen sie ignorieren zu können.

Wo sehe ich uns in 10 Jahren? Orthopädie und Unfallchirurgie behandeln alle Erkrankungen und Verletzungen der Bewegungsorgane einschließlich der Schwerverletzten, von konservativ bis operativ, vom Säugling bis zum Greis. Unter einem starken Dach sind die Subspezialitäten als Säulen repräsentiert.

Das wichtigste bei dem schwierigen Prozess ist eine gemeinsame Zielvorstellung und die Einsicht in den Nutzen, den wir gemeinsam davon haben. Eine weiter anhaltende selbstzentrierte "Nabelschau" hindert uns allenfalls, unsere Forderungen wirksam nach außen zu vertreten. Humanität wird wieder eines unserer wichtigen Anliegen. Der "Sensus orthopaedicus" wird im neuen Fach aufgehen und einen wesentlichen Impuls setzen. All dies muss von den Verantwortlichen vorgelebt und vermittelt werden, so Prof. Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Arbeiten wir gemeinsam daran, dass die eingangs genannten Zitate nicht stimmen. Helfen Sie dabei mit!

    >