Psychother Psychosom Med Psychol 2008; 58(2): 39-40
DOI: 10.1055/s-2007-986354
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ideologie oder Entwicklungspsychologie?

Psychoanalytische Positionen zum Krippenausbau in DeutschlandIdeology or Developmental Psychology?Psychoanalytical Positions Related to the Expansion of Nursery Schools in GermanyBernhard  Strauß, Elmar  Brähler
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Publication Date:
17 March 2008 (online)

Prof. Dr. Bernhard Strauß

Prof. Dr. Elmar Brähler

Ende der 70er-Jahre gab es in der Entwicklungspsychologie schon einmal einen Boom für Untersuchungen, die sich mit der Frage beschäftigten, ob die Fremdbetreuung von Kleinkindern (in Krippen oder durch Tagesmütter) der positiven Kindesentwicklung förderlich oder hinderlich sei. Schon damals gelangten die meisten Untersuchungen zu der Auffassung, dass diese Frage äußerst differenziert beantwortet werden muss, die Auswirkungen von Fremdbetreuung eine sehr komplexe Funktion vieler Variablen sind, wie z. B. der Qualität der Betreuung, dem Personalschlüssel, der Art der Eingewöhnung in die Krippe, aber auch der Einstellung der Eltern gegenüber der Betreuung usw.

Jahrzehnte später, ausgelöst durch längst fällige politische Entscheidungen (europaweit liegt der Anteil an krippenbetreuten Kindern in Deutschland im hinteren Feld; andererseits gibt es einen linearen Zusammenhang zwischen den Geburtenraten und dem Betreuungsangebot, vgl. [Abb. 1] nach [1]) äußert sich nun die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) in einem „Memorandum zum Krippenausbau in Deutschland” [2]. Wer die Urheberschaft dieses Textes nicht kennt, könnte denken, dass diese Stellungnahme von Christa Meves, Eva Herman oder Bischof Mixa verfasst sein könnte: „Als Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker erfahren wir in unserer täglichen Praxis die Tiefenwirkungen und Langzeitfolgen von kindlichen Entwicklungsbedingungen”, heißt es dort, „In dieser sensiblen Entwicklungszeit (der ersten drei Lebensjahre!, d. Aut.) bedeuten regelmäßige ganztägige Trennungen von Eltern eine besondere psychische Belastung für die Kinder”. Mit dem Verweis auf „Forschungsergebnisse und psychoanalytische Erfahrungen” wird sodann gut verpackt suggeriert, dass eine längerfristige außerfamiliäre Betreuung relativ verheerende körperliche und psychische Folgen hat.

Abb. 1 Betreuungsangebot und Geburtenrate positiv korreliert. Betreuungsquote von Kleinkindern unter 3 Jahren in 17 OECD-Ländern [1].

In einem Interview mit der Online-Ausgabe der WELT legt die Vorsitzende der DPV G. Schlesinger-Kipp nach. Unter der Überschrift „Deutsche Psychoanalytiker warnen in einem Memorandum vor innerseelischen Katastrophen”, kündigt sie an, dass die psychoanalytische Welt mit Spannung auf eine Untersuchung zu jungen ostdeutschen Erwachsenen mit Krippenerfahrungen warte, deren Ergebnisse sie vorwegnimmt: „Generell gilt: Trennungserfahrungen im sehr frühen Alter werden im Körper gespeichert. Sie tauchen in späteren Situationen als Ängste wieder auf”. Dass diese Bemerkung einen ziemlichen Affront gegenüber vielen Ostdeutschen darstellt, die in ihrer Sozialisation reichlich Erfahrungen mit Fremdbetreuung hatten, ist offensichtlich, der Autorin aber möglicherweise nicht bewusst. Übrigens gibt es bisher keinerlei empirische Evidenz dafür, dass die ostdeutsche Sozialisation mit mehr psychischen Auffälligkeiten einherginge. Im Gegenteil: Viele Studien nach der Wende haben gezeigt, dass die Ostdeutschen ihre Sozialisationsbedingungen inklusive der Beziehung zu den Eltern sehr viel positiver bewerten als Westdeutsche [3] [4]. Im Bundesgesundheitssurvey zeigte sich, dass die Prävalenz psychischer Störungen im Osten deutlich geringer ist als im Westen (28 % vs. 32 % bezogen auf die 12-Monats-Prävalenz) und Westdeutsche ein höheres Risiko haben, an einer ganzen Reihe psychischer Störungen zu erkranken [5].

Schon vor einigen Jahren hat die Psychoanalytikerin Gisela Wiegand [6] die Befürchtung geäußert, dass das neuerliche Interesse an der Bindungstheorie geeignet sei, „im gesellschaftlichen Diskurs um die Veränderung von Familienstrukturen und Rollen konservative Lehrmeinungen, zu denen immer auch schon die Psychoanalyse neigte, zu unterstützen”. Genau dies ist nun mit dem Memorandum passiert. Wiegand lag mit ihrer Vorhersage ganz richtig, wonach „nicht in den Ergebnissen der Bindungstheorie selbst, aber in ihrer verkürzten Rezeption …” Gefahren lägen.

Von den ideologischen Hintergründen abgesehen, zeigt sich an der Stellungnahme der DPV wieder einmal, welch schwieriges Verhältnis manche Psychoanalytiker zur empirischen Forschung haben. Es gibt eine Menge an Studien zu den Auswirkungen von Fremdbetreuung, die beispielsweise Lieselotte Ahnert kürzlich in einer Expertise für den Landtag in Nordrhein-Westfalen zusammengefasst und bewertet hat [7]. Die Befunde lassen sich zusammengefasst so interpretieren, dass Fremdbetreuung keineswegs ungünstig sein muss, dass vielmehr - und dies wissen wir eigentlich seit über 30 Jahren - viele Einflussfaktoren zu berücksichtigen sind, die darüber entscheiden, welches Schicksal die kindliche Entwicklung nimmt. In einer sehr sorgfältig durchgeführten Studie von Harrison und Ungerer [8] zeigte sich beispielsweise, dass fremdbetreute Kinder im ersten Lebensjahr durchaus eine sichere Bindung entwickeln, und zwar dann, wenn deren Mütter zu ihrer Entscheidung stehen, relativ rasch in den Beruf zurückzukehren, und die Eltern generell eine positive Einstellung gegenüber einer Fremdbetreuung haben. Viele Studien (u. a. auch die viel zitierte NICHD-Studie aus den USA) zeigen, dass die Qualität der Mutter-Kind-Bindung weiterhin überwiegend von der Mutter oder der primären Pflegeperson gesteuert wird, auch wenn das Kind andere Betreuungserfahrungen macht. Dementsprechend kommt Ahnert [7] auch zu dem Schluss, dass „bei der Bewertung der Auswirkungen öffentlicher Betreuungsbedingungen auf die Entwicklung von Kindern” nicht so getan werden dürfe, „als ob Kinder in öffentlichen Einrichtungen nur dort, anstatt zu Hause aufwachsen. Sie agieren in einem geteilten Betreuungsfeld, bei dem die Familie nach wie vor eine zentrale Rolle spielt”.

Angesichts wirklich drängender gesellschaftlicher Probleme wie Fremdenfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit, der sozialen Kluft in unserer Gesellschaft, einer zunehmenden Verschlechterung der Bildungschancen von Kindern aus unteren Schichten u. v. a. m., die sich allesamt massiv auf die heutigen Familien auswirken, ist es erstaunlich, mit welcher pauschal-ideologischen Stellungnahme die DPV ausgerechnet in dem spezifischen politischen Feld der Krippenfrage in die Öffentlichkeit tritt. 40 Jahre nach 1968 wird nun klargestellt, dass sich die Studentenbewegung, die Kinderladenbewegung und die Frauenbewegung doch eher zu Unrecht auf die Psychoanalyse berufen haben.

Literatur

  • 1 Gräf B. Die Antwort ist 40 - aber wie lautete eigentlich die Frage? Zur Kinderlosigkeit von Akademikerinnen. http://www.dbresearch.com/PROD/DBR_INTERNET_EN-PROD/PROD0000000000200528.pdf
  • 2 http://www.dpv-institute.de/gpi/texte/MemorandumDPV1207.pdf
  • 3 Brähler E. Erinnertes elterliches Erziehungsverhalten und Lebenszufriedenheit. Studierende der Medizin in den alten und neuen Bundesländern im Vergleich. In: Brähler E, Wirth H-J (Hrsg) Entsolidarisierung. Die Westdeutschen am Vorabend der Wende und danach. Opladen; Westdeutscher Verlag 1995: 190-200
  • 4 Brähler E, Richter H-E. Deutsche Befindlichkeiten im Ost-West-Vergleich. In: Wirth H-J (Hrsg) Psychosozial 59, Ossis und Wessis: Psychogramm deutscher Befindlichkeiten. Gießen; Psychosozial-Verlag 1995: 7-20
  • 5 Jacobi F, Hoyer J, Wittchen H-U. Seelische Gesundheit in Ost und West: Analysen auf der Grundlage des Bundesgesundheitssurveys.  Z Klin Psych Psychother. 2004;  33 251-260
  • 6 Wiegand G. Psychoanalyse und Bindungstheorie. Untersuchung unhinterfragter Prämissen.  Psychother Sozialwiss - Z Qualit Forsch. 2001;  3 95-112
  • 7 Ahnert L. Expertise Entwicklungspsychologische Aspekte der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kleinkindern. http://www.landtag.nrw.de 2007
  • 8 Harrison L, Ungerer J A. Maternal employment and infant-mother attachment security at 12 months postpartum.  Develop Psychol. 2002;  38 758-773
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