PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2007-986379
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein Blick in unsere Zukunft

Steffen  Fliegel, Kirsten von  Sydow
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Publication Date:
28 February 2008 (online)

1950 machte die Bevölkerungsgruppe 65+ ca. 10 % an der Gesamtbevölkerung aus, heute sind es ca. knapp 15 %, im Jahre 2050 werden nach Hochrechnungen mehr als 25 % der Bevölkerung älter als 65 Jahre sein. Noch vor 100 Jahren betrug die durchschnittliche Lebenserwartung weniger als 50 Jahre, heute sind es 75 und mehr. Und wenn die Prognose des ÖAW-Instituts für Demografie zutrifft, werden die Menschen in Deutschland im Jahr 2040 im Mittel mehr als 90 Jahre alt.

Was bedeutet ein 30 Jahre längeres Leben? Die letzten Lebensjahre haben wie so vieles zwei Seiten: Unbeschwertheit durch eher günstige äußere Bedingungen wie abnehmenden und schließlich beendeten Berufsstress. Die freie Zeit nimmt zu. Die Kinder sind groß, verlassen das Elternhaus und unterstützen die ältere Generation - oder die ältere Generation unterstützt Kinder und Enkel. Die Beschwernisse durch die äußeren Bedingungen können sich aber auch fortsetzen: Arbeitsplatzverlust aus Altersgründen, Armut, soziale Isolation und Einsamkeit, das Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden. Neue Belastungen, für die adäquate Bewältigungsmöglichkeiten fehlen, können hinzukommen: Die Ehe scheitert, Eltern sterben, eine schwere Krankheit zwingt den Körper in die Knie.

Auch wenn der Anstieg der Lebenserwartung in der Regel mit einer besseren Gesundheit einhergeht bzw. einhergehen könnte, auch wenn durch die Veränderungen der Lebensbedingungen und Behandlungsmöglichkeiten bei körperlichen Erkrankungen das Leben länger dauert, nehmen dennoch für viele Menschen körperliche und psychische Erkrankungen und Belastungen zu. Darauf kommen wir gleich zurück.

Nicht nur der Handel und das Marketing haben bereits die 50+-Zielgruppe entdeckt, die Modelle werden älter, es wird statt von junger nun von reifer Haut gesprochen, vor allem die Lifestyleprodukte für das (angepriesene) Herausschieben des Altwerdens nehmen zu.

Aber auch das gesundheitliche, freizeitliche, soziale und ökonomische Leben nimmt sich vermehrt der zunehmenden Alterung der Bevölkerung an. Ein Beispiel dafür bietet das Dorf Eichstetten am Kaiserstuhl, dessen Bürgerinnen und Bürger sich dazu „entschlossen haben, die vielfältigen Aufgaben des Generationenvertrages wieder selbst in die Hand zu nehmen” (Webseite der Bürgergemeinschaft). Die Dorfgemeinschaft selbst werde die Alten betreuen, pflegen und integrieren. In dem „Schwanenhof” mitten im Ort gibt es eine Seniorenwohnanlage mit Betreuungspersonal auf Abruf, Notrufsystem, Sparkasse, Winzergenossenschaft, Reisebüro, Ärztin, Blumenladen, Imbiss, Gemeinschaftsräumen, Krabbelgruppe (für die Kleinen des Orts), Bürgerbüro. Alles wird organisiert durch die Bürgergemeinschaft, einem Verein, dem fast alle 3300 EinwohnerInnen des kleinen Ortes Eichstetten angehören. „Eichstetten” gibt es längst nicht mehr nur am Kaiserstuhl, alternative Wohn- und Lebensprojekte entstehen immer häufiger, Wohngemeinschaften sind keineswegs mehr ein Privileg der Studierenden, Alters-WG ist zur vertrauten und zukunftsweisenden Bezeichnung geworden. Und was früher zur selbstverständlichen Lebensrealität gehörte, erfährt nun eine Renaissance: Mehrgenerationenhäuser und -hausgemeinschaften. Und nicht nur mangels jüngerer Arbeitskräfte finden zunehmend Ältere Beschäftigungen: Ihre hochqualifizierte Kompetenz, ihr Fachwissen sind gefragt.

Es kann vermutet werden, dass alte Menschen, die sich in sozialen Gemeinschaften eingebunden wissen, die sich entsprechend ihren Erfahrungen und Fähigkeiten weiter fordern und die gefordert werden, körperlich und psychisch gesünder bleiben und seltener dement werden als Menschen, die sich zum „alten Eisen” zählen bzw. sich von dem Dazu-gezählt-Werden in ihren Lebensgewohnheiten und Stimmungen beeinflussen lassen.

Diese Ausgabe von PiD beschäftigt sich mit den Herausforderungen und psychischen Belastungen und Erkrankungen älterer und alter Menschen. Es geht um Probleme, die nur zum Teil alterstypisch sind, im Alter aber eine besondere Bedeutung erlangen können; z. B. generalisierte und phobische Angststörungen, Hilflosigkeit, Depressionen, Einsamkeit, Demenz, sexuelle und Partnerschaftsprobleme, schwere Krisen, chronische körperliche Erkrankungen. Wieder sind die VertreterInnen verschiedener therapeutischer Ansätze gefragt, ihre psychotherapeutischen Kompetenzen bei der Arbeit mit älteren Menschen darzustellen, schließlich wird diese Bevölkerungsgruppe in Zukunft ein immer größeres Gewicht haben.

Wir werden auch der Frage nachgehen, was das Altwerden bedeutet für verschiedene Gruppen wie z. B. Frauen, Männer, Paare, Singles, Kriegs- und Nachkriegskinder. Da - wie bereits betont - soziale Netze gerade für ältere Menschen besonders wichtig sind, geben wir auch der Selbsthilfe und sozialpolitischen Konzepten einen Platz.

Und wieder einmal müssen wir damit schmerzlich erfahren, wie häufig psychische und soziale Probleme alter Menschen gesellschafts- und politikgemacht sind. Psychotherapie erweist sich dann einmal mehr als Reparaturwerkstatt für sozialpolitische Versäumnisse. Natürlich helfen wir. Wir sollten aber Probleme älterer Menschen nicht nur unter geriatrischem, gerontopsychiatrischem, gerontopsychologischem oder psychotherapeutischem Blickwinkel sehen und bearbeiten, sondern sie auch dort anmahnen, wo sie erzeugt wurden. Damit alte Menschen sagen können: „Leben und Sterben, wo ich hingehöre” (Klaus Dörner 2007[1]).

Wir wünschen Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, viel Freude bei dieser PiD und viel Neugier bei der Lektüre dessen, was auch Sie erwarten könnte. Denn eines ist sicher, wir befassen uns mit diesem Thema auch mit unserer Zukunft, falls sie für Sie nicht schon Gegenwart geworden ist, denn: Der Altersdurchschnitt der therapeutischen Berufsgruppe liegt derzeit bereits bei 51 Lebensjahren[2].

1 Dörner K. Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem. Neumünster: Paranus, 2007 (siehe Buchempfehlungen).

2 BPtK-Mitglieder: Altersstruktur und Nachwuchsbedarf. BPtK-Newsletter 2006; 1 (Februar): S. 6.

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