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DOI: 10.1055/s-2008-1064885
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Der Verlauf schizophrener - Erkrankungen im Blickwinkel der Nervenarztpraxis
Publication History
Publication Date:
17 March 2008 (online)
Im Jahr 1985 erschien als Ergebnis von Gesprächen und Diskussionen einer Arbeitsgruppe Berliner Nervenärzte das Buch "Der schizophrene Patient in der Nervenarztpraxis" [1]. In der Zwischenzeit ist nach meiner Kenntnis und Einschätzung wenig zum Verlauf und zur Behandlung schizophrener Kranker in der Nervenarztpraxis im deutschen Sprachraum publiziert worden. Umso mehr finden sich vielfältigste Darstellungen aus der Sicht der klinischen Behandlung, welche die Verlaufsdynamik schizophrener Erkrankungen beschreiben und diskutieren. Die Tendenz dieser Artikel, und insbesondere ihre "Popularisierung" in pharmaindustriegestützten Broschüren und auch im Alltag von Kliniken ist meiner Meinung nach folgende: Schizophrenien und verwandte Zustände werden aufgefasst als episodisch verlaufende Erkrankungen. Rezidive werden ausgelöst, weil die betroffenen Menschen die notwendigen Psychopharmaka nicht oder nicht adäquat einnehmen. Bei Rezidiven treten dann gravierende psychotische Symptome auf und stationäre Behandlung wird notwendig. Durch "Neueinstellung" in der Klinik wird dann die Remission herbeigeführt. Durch geeignete "psychoedukative" Maßnahmen werden die Patienten dahin geführt, dass sie ihre Medikamente regelmäßiger und adäquater einnehmen; durch den Austausch der sogenannten Typika bei den neuroleptischen Medikamenten durch die Atypika wird diese "Compliance" wesentlich gebessert.
Nach meiner über 20-jährigen Erfahrung als niedergelassener Nervenarzt mit sozialpsychiatrischem Schwerpunkt (wir arbeiten in einer Gemeinschaftspraxis mit drei Nervenärzten in einer süddeutschen Kleinstadt) wird diese Auffassung, die ich etwas verkürzt wiedergebe, der Wirklichkeit des Lebens schizophren erkrankter Menschen und dem wechselhaften Verlauf ihrer Krankheit nicht gerecht. Ich habe den Eindruck, dass oft ganz andere Faktoren für den Verlauf der Krankengeschichte, insbesondere für die Wiederaufnahme in psychiatrische Kliniken entscheidend sind. Auch die Vorstellung klar definierbarer "Rezidive" und "Remissionen" erscheint mir - jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle - nicht sachgerecht. Die Zentrierung auf die Pharmakabehandlung der Patienten lassen (und das beobachte ich in den letzten Jahren zunehmend) die Psychodynamik der Erkrankung und insbesondere auch die Bedeutung der sozialen Aspekte in den Hintergrund treten.
Völlig unterschätzt wird in vielen Veröffentlichungen das soziale Netz, wie stark dieses ihre Bereitschaft des Mitwirkens im Rahmen ihrer Behandlung beeinflusst, genauso wie die Gefährdung und Verschlechterung ihrer Erkrankung. Um diese subjektiven Eindrücke zu belegen, habe ich über 3 Monate alle 84 Patienten (48 Frauen, 36 Männer) mit einer Diagnose aus dem F2-Spektrum (Schizophrenie, schizoaffektive Störung, etc.), die mich in meiner Nervenarztpraxis aufgesucht und die ich persönlich untersucht und behandelt habe, erfasst und bestimmte Daten bezüglich dieser Menschen erhoben.
Die Diagnosen sind meist von Kliniken gestellt, von der ambulanten Praxis bestätigt oder umgekehrt.
81 der 84 Personen waren mindestens einmal in einer psychiatrischen Klinik. Der jüngste Patient ist 19 Jahre und die älteste ist 73 Jahre alt. Der Altersdurchschnitt beträgt 42 Jahre. Viele Patienten sind berentet, meist mit Erwerbsminderungsrente, einzelne schon mit der Altersrente. Nur 8 Patienten verfügen über ein volles Erwerbseinkommen. Die übrigen sind abhängig von Sozialhilfe, Grundsicherung, von Familienangehörigen, einzelne vom eigenen Vermögen.
50 der 84 Patienten wohnen mit Familienangehörigen zusammen (Eltern, Ehepartner, Geschwister, Kindern), 8 wohnen in betreuten therapeutischen Wohngemeinschaften, die übrigen alleine.
62 der 84 Patienten haben regelmäßige Beziehungen zum "sozialpsychiatrischen Netzwerk" der Region: psychiatrische Tagesstätte, Werkstatt für Behinderte, sozialpsychiatrischer Dienst, Soziotherapie bei freiberuflicher Soziotherapeutin, Arbeitsprojekt des psychiatrischen Trägervereins, therapeutische Wohngemeinschaft, betreutes Einzelwohnen, Familienpflege. Manche haben täglich Kontakt zu solchen sozialtherapeutischen Einrichtungen und Mitarbeitern, andere mehrfach in der Woche, einzelne nur 1-2-mal im Vierteljahr.
Die Länge der Erkrankungszeit schwankt bei den Patienten zwischen knapp 50 Jahren und einem Jahr. Durchschnittlich sind sie 10 bis 15 Jahre chronisch psychisch krank. Über 50 Patienten sind mehr als 10 Jahre Patient in unserer Praxis, 7 Patienten sogar mehr als 30 Jahre. Fast alle Patienten zeigen eine erhebliche soziale Funktionsminderung im Sinne eines Residualsyndroms, davon 38 in ausgeprägter Form.
Über 20 Patienten haben fast kontinuierlich eine produktiv psychotische Symptomatik mit Wahn und Halluzinationen, viele davon im Sinne einer "doppelten Buchführung", fast alle Patienten haben depressive Symptome.
Von den 84 Personen nahmen 80 im Untersuchungszeitraum Neuroleptika ein, 40 davon Atypika, Typika 33, beides 7 Patienten. 55 Patienten zeigen eine sehr gute Compliance, nehmen regelmäßig die Medikamente ein bzw. lassen sich diese injizieren, kommen zu den vereinbarten Terminen regelmäßig. 5 Patienten haben eine sehr schlechte Compliance trotz entsprechender motivierender Gespräche und unterlassen immer wieder die vereinbarte medikamentöse Behandlung. 20 von den 84 neigen zum "experimentieren", nehmen also Neuroleptika ein, versuchen aber selber zu reduzieren, "vergessen" es und diskutieren jedes Mal mit dem Arzt über die Medikamente. Es handelt sich hier insbesondere um jüngere Patienten, oft mit einer ausgeprägten affektiven Instabilität und begleitenden Persönlichkeitsstörungen.
Insgesamt ist die Bereitschaft, Neuroleptika einzunehmen, hoch. Nach meinen Daten ist dies völlig unabhängig davon, ob Typika oder Atypika verschrieben werden. Der Trend ist sogar so, dass bei den Patienten, die Typika einnehmen die Compliance stabiler ist, besonders bei denen, die Depotneuroleptika (meist Flupentixol) injiziert bekommen.
Trotz der psychiatrischen Behandlung und Medikamenteneinnahme kommt es immer wieder zu Krisen bei einzelnen - dabei wird auch oft stationäre Aufnahme notwendig.
Von den 84 Patienten mussten in den letzten 2 Jahren 15 stationär in psychiatrischen Kliniken behandelt werden. Nur in einzelnen Fällen ist aber ein direkter Zusammenhang von mangelnder Einnahme der Neuroleptika und nachfolgender stationärer Behandlung belegbar. Bei den meisten Patienten, die in die Klinik geraten sind, waren krisenhafte Zuspitzungen im psychosozialen Feld Grund für die stationäre Aufnahme. Einige dieser Patienten waren schon vorher chronisch produktiv psychotisch und zeigten im Rahmen der affektiven Entgleisung vermehrte psychotische, aber auch manische und depressive Symptome, teilweise mit suizidaler Gefährdung.
Ich komme zu folgenden Ergebnissen:
Die Schizophrenie ist nicht so sehr eine durch Rezidive gezeichnete Erkrankung, sondern eine chronisch schleichende Erkrankung mit bleibenden Minderungen verschiedenster Funktionsniveaus. Viele Patienten sind weiterhin hintergründig wahnhaft krank, können sich aber von den psychotischen Erlebnisweisen soweit distanzieren, dass ihr Leben im ambulanten Bereich gelingt, leider nur bei einzelnen auch in der normalen Arbeitswelt. Verschlechterungen ihres Zustandes haben verschiedene Ursachen, meistens im psychosozialen Feld; Klinikaufnahmen genauso. Fast alle Patienten nehmen aus eigener Erkenntnis und Bereitschaft verordnete neuroleptische Medikation ein. Sie erleben diese Medikamente trotz Nebenwirkungen als hilfreich zur Bewältigung ihres Lebens und zur Verhütung von Krisen. Dabei spielt die Frage von Typika und Atypika eine sehr untergeordnete Rolle. Die Bereitschaft zur Medikamenteneinnahme wird nicht so sehr durch sogenannte psychoedukative Maßnahmen unterstützt, wie vielmehr durch die Bereitschaft des betreffenden verordnenden Arztes, mit den Kranken eine langfristige Beziehung einzugehen. Die Arzt-Patienten-Beziehung verlangt zum einen Kontinuität, zum anderen einen erfolgreichen Spagat zwischen der Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung auf der einen Seite und dem "Umgang auf gleicher Augenhöhe" auf der anderen Seite. Die Gruppe, die mit den Neuroleptika experimentiert, also sehr wechselhaft "compliant" ist, hat subjektiv "gute Gründe" für ihr Verhalten und braucht den offenen Dialog über Krankheit, Defizite und Risiken vermehrt; Druck hilft bei ambulanter Therapie überhaupt nichts. Ganz wesentlich für die Stabilisierung von Patienten, insbesondere in Krisensituationen, sind enge Verknüpfungen im sozialpsychiatrischen Bereich, mit entsprechenden Rückmeldungen zwischen Sozialpädagogen, Soziotherapeuten, Werkstattmitarbeitern und behandelndem Psychiater. Auch die Einbeziehung der Angehörigen zu einem konstruktiven Miteinander ist sehr hilfreich. Es gibt eine große Gruppe von Patienten, die viele Jahre trotz bestehender schizophrener Residualsymptomatik und auch krisenhaften Zuspitzungen keinerlei psychiatrische stationäre Aufnahmen brauchen. Sie können diese Krisen bewältigen durch eine intensive Beziehung zum behandelnden Arzt, durch medikamentöse Behandlung und intensive Einbeziehung sozialer Hilfssysteme und Therapeuten. Besonders hilfreich scheint es für schizophrene Patienten zu sein, wenn sie Erfahrungen sammeln können, die zu einer Stabilisierung ihres Selbstwerts führen. Sie erleben sich ja fast durchgängig am Rande des gesellschaftlichen Lebens, häufig entwertet. Gerade die Patienten, die langfristig nicht wieder stationär psychiatrisiert worden sind, haben fast durchgängig Erfahrungen im sozialen Feld, die ihren Selbstwert verbessern, indem sie z.B. für andere da sein können. Das eindrucksvollste Beispiel ist die Patientin Frau H., die jetzt schon 41 Jahre in unserer Praxis ist, zweifellos eine chronische Schizophrenie hat, immer wieder auch kurze psychosenahe Unruhezustände. Dadurch, dass sie sich aber die Aufgabe gestellt hat, für noch stärker beeinträchtigte Menschen zu sorgen, sogar mit einer chronisch schwer kranken Mitpatientin zusammen lebt, hat sie sich auch in Krisen ohne stationäre Behandlung halten können und war 40 Jahre nicht mehr stationär. Meine Daten wie meine Schlussfolgerungen sind natürlich subjektiven Erfahrungen und dem begrenzten Horizont nervenärztlicher Tätigkeit in einer süddeutschen Kleinstadt geschuldet. Mit Sicherheit ergibt sich eine positive Selektion "behandlungstreuer Patienten". Zweifellos werden aber in der Nervenarztpraxis Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis gesehen, die in der üblichen klinischen Perspektive und Forschung überhaupt nicht erfasst werden. Wünschenswert wäre vermehrte Forschung mit qualifizierter Methodik im ambulanten Feld.
Friedrich Böhme, Tuttlingen
Email: boehme.tut@t-online.de