PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(2): 187-192
DOI: 10.1055/s-2008-1067406
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Ich hoffe nun, dass es weiter vorangeht!”

Anton  Došen im Gespräch mit Bettina  Wilms, und Wilhelm  Rotthaus
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Publication Date:
03 June 2008 (online)

Prof. Dr. Anton Došen, Psychiater und Kinder- und Jugendpsychiater, ist emeritierter Professor für Psychiatrische Aspekte geistiger Behinderung an der Radboud Universität, Nijmegen, Niederlande, und früherer ärztlicher Direktor des Zentrums für Therapie psychiatrischer Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Personen mit geistiger Behinderung, Niuew Sprealand in Oostrum, Niederlande. Zehn Jahre lang fungierte er als Vorsitzender der Sektion Geistige Behinderung in der WPA (World Psychiatric Association). Zusammen mit anderen international renommierten Kollegen gründete er 1992 die European Association for Mental Health in Mental Retardation (EAMHMR).

Prof. Došen ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Bücher, die sich mit den Problemen der psychischen Gesundheit geistig behinderter Menschen beschäftigen, und Mitglied wissenschaftlicher Beiräte internationaler Zeitschriften. Er beschäftigt sich vor allem mit einer entwicklungsorientierten Perspektive und einem multidisziplinären, multiprofessionellen integrativen Ansatz in der standardisierten Beschreibung sowie der Diagnostik und Behandlung psychiatrischer Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Personen mit entwicklungsbedingten Störungen. Seine Haltung, einen entwicklungsorientierten integrativen Ansatz bei psychischen Problemen geistig behinderter und autistischer Menschen zur Anwendung zu bringen, ist in der praktischen Arbeit verschiedener Professionen in den Niederlanden und Belgien weitverbreitet.

PiD: Wir würden Sie bitten, sich zunächst vorzustellen!

Anton Došen: Gut, wo soll ich anfangen? Also, ich bin im Ruhestand [lacht], nachdem ich mehr als 30 Jahre mit geistig behinderten Menschen gearbeitet habe. Ich begann vor langer Zeit als Kinderpsychiater. Dies war damals, vor 30 Jahren, eine große Herausforderung, da wir keine Psychiater hatten, die mit geistig behinderten Patienten arbeiteten. Später dann erweiterte ich mein Interessengebiet auch auf Erwachsene, sodass ich mich, ich denke die letzten 15 Jahre, sowohl mit Kindern und jüngeren Erwachsenen als auch mit Älteren beschäftigt habe.

Sie haben ein Krankenhaus für geistig behinderte Menschen geleitet?

Ja, 1980 haben wir fünf spezialisierte Krankenhäuser für Menschen mit geistiger Behinderung und besonders schwerwiegendem Problemverhalten sowie psychotischen Störungen etabliert. Dies war ein Beginn aus dem Nichts. Wir begannen mit unserem Enthusiasmus und lernten viel aus der Literatur, die es in anderen Ländern gab, wie z. B. den Vereinigten Staaten, England, Dänemark und auch in Deutschland. So sammelten wir Wissen und lernten aus unserer praktischen Tätigkeit. Es ging dann Schritt für Schritt, und wir arbeiteten daran, dass weitere spezialisierte psychiatrische Abteilungen in, ich glaube, etwa zehn Allgemeinkrankenhäusern entstanden. Zudem wurde ich Professor an der Universität Nijmwegen: Universitätsprofessor für psychiatrische Aspekte geistiger Behinderung. Es war der erste Lehrstuhl für diese Bevölkerungsgruppe in den Niederlanden. Ein sehr bedeutender Schritt! Denn dadurch entstand die Möglichkeit, junge Psychiater auszubilden und diese anzuregen, sich mit noch mehr Interesse und Enthusiasmus dieser Bevölkerungsgruppe zuzuwenden. Jetzt haben wir etwa 100 Psychiater, die in Voll- oder Teilzeit mit geistig behinderten Menschen arbeiten, bei einer Gesamtzahl von etwa 3000 Psychiatern.

Das ist ein guter Anteil!

Ja, das stimmt. In dieser langen Zeit war ich sehr beschäftigt mit dem Schreiben, in der Lehre, mit internationalen Aktivitäten und, wie Sie wissen, bei der Gründung der „Association on Mental Health and Mental Retardation”, die ich zusammen mit Christian Gaedt und anderen Kollegen aus verschiedenen Ländern gegründet habe. Diese Organisation ist immer noch sehr aktiv; wir hatten gerade einen Kongress in Zagreb, wo Menschen aus etwa 30 Ländern, also quasi aus aller Welt, zugegen waren. Es war wie ein „World Congress” im kleineren Stil.

Wir sehen jetzt, wie schnell die Entwicklung fortschreitet: So haben wir nicht länger nur mit Krankheiten zu tun, sondern mehr mit Gesundheit. Was ist gesund, was heißt psychische Gesundheit für geistig behinderte Menschen? Ich denke, von diesem Anfangspunkt aus sollten wir weiterdenken hin zu Prävention: zur Prävention von Krankheiten, von uns herausforderndem Verhalten, von Problemverhalten.

Ich würde gern noch mal zurückgehen: Was war der Grund, Psychiater für geistig behinderte Menschen zu werden und nicht Kinder- und Jugendpsychiater zu bleiben?

Nun, ich denke: einfach Neugierde. Ich schloss meine Spezialisierung 1973 ab. Zu dieser Zeit hatten wir eine wirklich gute Kinderpsychiatrie. Aber in dieser Kinderpsychiatrie hatten wir kein Wissen über Kinder mit geistigen Behinderungen. Also war es eine Herausforderung für mich, in eine Einrichtung für diese Kinder zu gehen. Schon allein durch Beobachtung entdeckte ich dort eine Welt, die sich von meinen bisherigen Erfahrungen sehr unterschied: Ich bemerkte, dass dort Psychologen waren, Pädagogen, Pflegekräfte und Sozialarbeiter, aber keine Psychiater. Ich fragte mich, warum es so war. Dies war eine Herausforderung, und es war ein Anfang! [lacht]

Und was, denken Sie, sollte ein Psychotherapeut lernen, wenn er mit geistig behinderten Menschen arbeiten will?

Nun, mein Ansatz war natürlicherweise keiner aus psychotherapeutischer, sondern aus pädagogischer Sicht. Ich habe eine Menge daraus gelernt, wie Pädagogen und Psychologen mit dieser Bevölkerungsgruppe arbeiten. Danach habe ich versucht, dieses Wissen auf psychotherapeutische Theorien zu übertragen, und so kam ich, in der Tat über meine psychotherapeutische Sichtweise, zu den Grundbedürfnissen dieser Kinder. Also kam ich nicht von oben herab, sondern von unten, von ihrem Entwicklungsniveau, und das war sehr interessant und herausfordernd. Wie kann man Psychotherapie mit Kindern machen, die nicht sprechen? Mit sehr jungen oder schwerstbehinderten Kindern? Zusammen mit meinen Kollegen aus Pädagogik und Psychologie schauten wir in erster Linie, wie Kinder mit sogenanntem „Autismus”, bei denen es unklar war, ob sie autistisch waren oder nicht, sich verhalten und wie sie beim Anbieten einer passenderen Beziehung reagieren. Auf diese Art entdeckten wir die sogenannte Bezugstherapie auf der Grundlage von sehr problematischen Bindungen. Sie ermöglichte uns, zwischen Autismus und Kontaktproblemen, die nicht autistischer Art sind, sondern sich aus inadäquaten Stimuli ergeben, zu differenzieren, und wir sahen, dass autistische Kinder keine normalen, gewöhnlichen Beziehungen akzeptierten. Sie akzeptierten aber die Bezugstherapie. Dies war ein großer Unterschied, ein großer Unterschied für die prognostische Sichtweise und den Bedarf an pädagogischen Ansätzen.

Aber zurück zu Ihrer Frage: Ich denke, ein Psychotherapeut sollte auf die Grundbedürfnisse achten, auf grundlegende psychosoziale Bedürfnisse. Diese psychosozialen Grundbedürfnisse finden sich auf unterschiedlichen Entwicklungsebenen. Ich könnte genauso sagen, dass ein Psychotherapeut auf den Entwicklungsstand der Persönlichkeit schauen sollte. Wenn beispielsweise eine Person mit sehr schwerer geistiger Behinderung ein sehr geringes Niveau zeigt, das der Entwicklungsstufe einer Zweijährigen entspricht, so sollte ein Psychotherapeut wissen und erkennen, was ein zweijähriges Kind braucht, um sich gut zu fühlen und um adäquate soziale Reaktionen erleben und Erwiderung geben zu können. Dies sollte der grundlegende Ansatz sein! Auf dieser Basis sollte der Psychotherapeut seine Methoden anwenden, und meiner Meinung nach ist es gleich, welche. Es ist wichtig, sich dem Entwicklungsstand des Patienten anzupassen, von Anfang an.

Und Sie sagten, dass Sie nicht an erster Stelle auf die Störungen achten, sondern auf Gesundheit. Diese Gesundheit, sind das die grundlegenden Bedürfnisse, und ist es wichtig, diese im ersten Schritt zu befriedigen?

Ja, genau. Im ersten Schritt, in der Tat. Der erste Schritt ist sehr wichtig für die Person. Dabei stellt sich die Frage, wie man diese Person zu ihrer oder seiner Ruhe und Behaglichkeit bringt. Wenn man dies erreicht hat, verschwindet vielleicht auch die Störung. Wenn das nicht geschieht, muss man spezielle Methoden anwenden, um die Störung zu behandeln. Neben der Person. Dies heißt: Erst wenn man die Vorbedingungen für einen guten Zustand der Person geschaffen hat, dann sollte man als Zweites nach zusätzlichen Ansätzen der Psychotherapie, der Pharmakotherapie oder weiteren Aspekten von Behandlung schauen.

Dies würde bedeuten, dass Erwachsenenpsychiater oder -psychotherapeuten, die geistig behinderte Menschen behandeln, von Kinderpsychiatern oder anderen Personen, die Kinder behandeln, lernen müssen? Ich denke, dies wäre die Konsequenz.

Ja, sicher.

Eine andere Konsequenz wäre, nicht zu früh zu intervenieren, sondern sich zuerst, zusammen mit den anderen Professionen, die mit einem geistig behinderten Menschen arbeiten, die Zeit zu nehmen, um in Kontakt zu kommen?

Ja, genau!

Auf den ersten Blick scheint das einfach zu sein. Aber wenn man Menschen unter Bedingungen des Krankenhauses behandeln muss, wo eine Vielzahl von Personen fordert, die Probleme möglichst schnell und einfach zu lösen, und vielfach nicht genug Zeit und Geduld da ist, um in Kontakt zu treten, stelle ich mir das schwierig vor, zumal, wie Sie sagten, Medikation erst an dritter, vierter, fünfter Stelle einzusetzen wäre. Ist das richtig?

Ja, das ist richtig! Wir waren der Auffassung, dass wir nicht an erster Stelle die Störung behandeln sollten, sondern an erster Stelle die Person. Und dann sollten wir schauen, was die Störung bedeutet. Denn die Symptome, die wir sehen, können eine vollkommen unterschiedliche Bedeutung haben. Wenn wir die Person kennen, ihre Bedürfnisse kennen, dann können wir die Bedeutung der Symptome der Störung besser verstehen.

Sie sagen, die grundlegende Diagnose ist die Diagnose des Entwicklungsalters?

Ja, doch ich muss klarstellen, dass ich zwischen der kognitiven Entwicklung, der sozialen Entwicklung und der emotionalen Entwicklung unterscheide.

Es gibt also unterschiedliche Entwicklungsalter?

Richtig, und um es einfacher zu gestalten, versuchen wir, das Niveau der Persönlichkeitsentwicklung auf der Grundlage der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung festzulegen. Stehen diese drei Aspekte der Entwicklung auf einer Stufe, dann sagen wir, dass die Persönlichkeitsentwicklung ebenfalls auf dieser Stufe liegt. Das ist zwar sehr vereinfacht; denn diese drei Aspekte erfassen nicht die ganze Persönlichkeit. Doch unglücklicherweise haben wir keine Möglichkeiten, zum Beispiel sexuelle Entwicklung, religiöse Entwicklung, moralische Entwicklung und so viel mehr Entwicklungen der Persönlichkeit zu messen. Unser derzeitiger Wissensstand ist eben nur der Anfang der Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung. Nun: Stehen alle drei Aspekte der Entwicklung auf gleichem Niveau, dann können wir eine Aussage zu der Stufe der Persönlichkeitsentwicklung machen. Aber oft ist das nicht der Fall, und dann stellt sich die Frage: Welchen Aspekt sollten wir als Maßstab nehmen für die Stufe der grundlegenden Bedürfnisse der Persönlichkeit?

Üblicherweise nehmen wir die emotionale Entwicklung. Doch dann begegnet uns das Problem, dass wir kein verlässliches Instrumentarium für die Erfassung der Entwicklung von Emotionen haben. Also entwickelten wir für unsere Arbeit eine Skala, um diese abzubilden. Auch in den Vereinigten Staaten gibt es Versuche, einen Maßstab für die emotionale Entwicklung zu finden. Eine Adaption anderer Verfahren nutzen wir für den Bereich der Sozialisation und der Emotionsentwicklung. Und so versuchen wir, uns mit all diesen Instrumenten einen Überblick zu verschaffen, um sagen zu können: „Dies ist der emotionale Entwicklungsstand.”

Was ist der Grund dafür, dass Sie zuerst auf das Niveau der emotionalen Entwicklung schauen und nicht auf das der sozialen Entwicklung?

Oh, ja. Wir schauen auch auf die soziale Entwicklung; aber die ist trainierbar. Man kann ein Kind beispielsweise mit Down-Syndrom trainieren, sehr sozial zu sein. Doch wenn dieses Kind Probleme hat, wird es auf emotionaler Ebene reagieren. Das soziale Niveau kann höher sein als das kognitive. Doch ich habe nie erlebt, dass das emotionale höher ist als das kognitive. Aber das ist nur unsere Erfahrung aus der praktischen Arbeit, das kommt nicht aus einer wissenschaftlichen Forschung. Wir denken, dass das emotionale Niveau dem intellektuellen folgt.

Demnach beginnt man immer auf dem niedrigsten Niveau?

Ja, sicher. Auf dem niedrigsten Niveau, das denke ich auch. Erfahrungsgemäß ist das beim emotionalen Bereich der Fall. Bedeutsam ist das Niveau der emotionalen Entwicklung.

Also heißt das „von unten auf den Berg hinauf sehen”?

Sicher. Und vielleicht wissen Sie von den neuen Entwicklungen einer Forschung, die die Relevanz von Bindung und Zugehörigkeit im Kontext psychiatrischer Diagnosen betrachtet. An der Universität Amsterdam werden die Besonderheiten der Entwicklung von Bindungen bei Kindern mit mentaler Retardierung untersucht. Unserer Erfahrung nach sind Bindungsprobleme bei diesen Kindern sehr häufig - mit den entsprechenden Konsequenzen für die Entwicklung. Das, was wir die „innere Repräsentation von Beziehungen” nennen, das beschreibt die Basis. Auch Borderline-Patienten haben die meisten Probleme damit, dass sie keine reale, adäquate Beziehung herstellen können. Die Frage ist aber, wie wir mit diesen Personen arbeiten können. Nun, meiner Meinung nach kann man „von oben” herangehen, von den sprachlichen Fähigkeiten und den Kognitionen. Man kann aber genauso gut „von unten” an die Probleme herangehen, zum Beispiel versuchen, mit Kindern, die keine Möglichkeiten zur verbalen Kommunikation entwickelt haben, auf sehr einfache Art und Weise eine Situation zu schaffen, in der die Person die Möglichkeit hat, am Modell des Therapeuten zu lernen - ohne verbale Kommunikation, sondern durch andere sensorische Kanäle. Dann werden wir möglicherweise auf der Ebene sein, die wir wiederherzustellen suchen, der Ebene einer guten Bindung, und in dieser guten Bindung kann die Person ein gutes Modell des Therapeuten akzeptieren.

Und arbeiten Sie mit der Familie des geistig behinderten Menschen, damit sich eine gute Beziehung entwickeln kann?

Dies wäre der wichtigste Aspekt, dass der Therapeut mit der Familie arbeitet. Wir sollten versuchen, die Familie zu involvieren, was manchmal möglich ist, manchmal aber nicht. Ich denke, der Therapeut sollte zu der Familie gehen und mit ihr arbeiten. Dadurch wird unserer Erfahrung nach die Gesundheit der Kinder gefördert und Problemen vorgebeugt.

Ich denke oft, dass die Familie genauso Hilfe braucht wie das Kind.

Nun, es könnte sein, dass das Problem so groß ist, dass man intervenieren muss, um die Situation im ganzen System zu verbessern. Aber oft wissen die Eltern auch nicht, was eine gute Art wäre, ihr Kind zu stimulieren, und was ihr Kind braucht.

Sollte man mit dem geistig behinderten Menschen psychotherapeutisch arbeiten oder mit den Eltern? Und mit den Geschwistern?

Ich glaube, dies sollte mit der ganzen Familie passieren, sodass jedes Familienmitglied vielleicht lernt, seine Rolle zu spielen. Denn alle Familienmitglieder sind so oder so im täglichen Leben mit dem Kind beschäftigt, und sie alle müssen wissen, welche Position, welche Haltung die beste ist.

Was denken Sie, welche Fähigkeiten ein Psychotherapeut braucht, um mit geistig behinderten Menschen in Kontakt zu kommen?

An erster Stelle, so denke ich, steht die Entwicklungspsychologie, die sehr, sehr wichtig ist - nicht nur, um zu lernen und zu wissen, wie die Entwicklung eines Kindes verläuft, sondern auch, wie die einer geistig behinderten Person einzuschätzen ist. Ich kenne die Situation an den Universitäten nicht so genau: Beschäftigt sich die Psychologie schon mit geistig behinderten Menschen oder noch nicht?

Ich glaube, nur an wenigen, wenigen Universitäten. Aber da ist noch eine andere Problematik: Die von Ihnen beschriebene Entwicklungsperspektive wird in der psychiatrischen Ausbildung, so denke ich, unterschätzt, besonders in der Erwachsenenpsychiatrie, weil die Kollegen keine Erfahrungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie machen. Oft sind dies verschiedene Abteilungen. Nach dem 18. Lebensjahr wird eine Art Schnitt gemacht, und manch einer hat die Idee, dann alles neu zu erfinden. Die ganze Lebensgeschichte einer Person. Ich denke, dies ist insbesondere ein Problem im Umgang mit geistig behinderten Menschen. Das kann zuweilen eine Chance bedeuten; aber öfter ist es nicht nur eine Herausforderung, sondern ein Problem.

Dasselbe Problem haben wir hier in den Niederlanden. Der entwicklungspsychologische Ansatz ist nicht sehr populär in der Psychiatrie. Aber ich sehe oft, dass er in der Psychologie ebenso wenig populär ist, wenn man sich nicht gerade auf Entwicklungspsychologie spezialisiert. [lacht] Glücklicherweise aber gibt es hier und da Universitäten, die dieser Problematik mehr Aufmerksamkeit widmen, zum Beispiel die „Freie Universität Amsterdam”; ich bin sehr glücklich damit. Und dann haben wir noch das Problem, dass junge Psychiater und Psychologen kein Interesse an geistig behinderten Menschen entwickeln, wenn sie in ihrer Ausbildung nichts über das Entwicklungsalter lernen. Sie können sie nicht verstehen! Sie können nicht verstehen, warum eine Person mit geistiger Behinderung andere Symptome haben kann, als eine normal entwickelte Person, und was das bedeutet.

Was denken Sie, wie viel Psychotherapie ist nötig in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen?

Oh, ich denke dieselbe Menge wie für die anderen Bevölkerungsgruppen. Die Bedürfnisse sind vorhanden, dieselben Bedürfnisse. In der Tat sollte die Psychotherapie auf die Bedürfnisse, das Entwicklungsniveau dieser Menschen adaptiert werden. In der Literatur wird dargestellt, dass der behavioristische Ansatz für Menschen mit geistiger Behinderung gut ist, und das ist wahr.

Und gibt es in den Niederlanden Aus- und Weiterbildungen für Psychotherapeuten, die mit geistig behinderten Menschen arbeiten wollen?

Nun, ich beschäftige mich nicht nur mit dieser Art der Behandlung, sondern auch mit integrativen Behandlungskonzepten, und wir haben eine Anzahl Psychologen, die mit dieser anderen Art der Psychotherapie arbeiten. Auch mit personenzentrierter Therapie. Und das Interesse an kognitiven Therapien mit geistig behinderten Menschen steigt mehr und mehr. Und so wächst es, nicht sehr schnell [lacht], aber es gibt eine Entwicklung.

Vor einiger Zeit versuchte ich in der Kinderpsychiatrie, Kinder mit geistiger Behinderung und Kinder mit psychiatrischen Problemen in denselben Mauern, also in derselben Abteilung der Kinderpsychiatrie zu behandeln. In einer Universitätskinderpsychiatrie. Aber es war unmöglich! Ich habe mich gefragt, warum, und die Antwort war: „Diese Kinder können nicht adäquat mit normalen Kindern interagieren; also müssen sie in eine andere Abteilung und so weiter. Und außerdem haben wir nicht genug Geld für so etwas.” [lacht] Nonsens, ganz großer Nonsens. Heute, viele Jahre nach dieser Geschichte, haben wir sogenannte „Multifunktionsabteilungen”, in denen man neben normal entwickelten Kindern auch solche mit milder, moderater geistiger Behinderung, Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und Kinder mit psychiatrischen Problemen findet.

Und diese leben alle in derselben Gruppe?

Normalerweise sind sie nicht in derselben Gruppe, nein. Aber sie sind „unter einem Dach”.

An deutschen Universitäten findet man das ganz selten.

Vielfach ist auch nicht genug Interesse da, ja. Aber die Entwicklung geht voran, das ist gut.

Zum Stichwort Entwicklung: Welche Entwicklungen würden Sie sich in diesem Bereich in den kommenden Jahren wünschen? Was wünschen Sie sich aus therapeutischer Sicht?

Nun, ich komme auf die Grundbedürfnisse einer Person zurück. Ich denke, wenn wir einen besseren diagnostischen Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung, auf die grundlegenden psychosozialen Bedürfnisse hätten, dann könnten wir passendere Behandlungsansätze finden. Dann könnten wir auch die Entwicklung gezielter stimulieren, beispielsweise bei Personen, bei denen wir normalerweise eine große Diskrepanz zwischen der kognitiven und der emotionalen Entwicklung vorfinden. Diese Personen sind sehr verletzbar im Bezug auf Verhaltensprobleme, weil sie in der Regel überstimuliert sind. Sie sind überfordert, weil die Umwelt mit ihnen auf dem Niveau ihrer kognitiven und ihrer sozialen Entwicklung kommuniziert. Wenn wir aber wüssten, welches ihre emotionalen Grundbedürfnisse sind, könnten wir ihre emotionale Entwicklung stimulieren und näher an das Niveau der kognitiven Entwicklung heranbringen. Auf diese Weise könnten wir eine Persönlichkeit stabiler und stärker werden lassen! Das wäre ein sehr wichtiger Aspekt. Außerdem gibt es nicht nur das Problemverhalten und das psychiatrische Problem, sondern eine Art der Stimulation von gesundem Verhalten. Und so würde Psychotherapie auch eine Rolle bei der Anregung einer gesunden Entwicklung spielen.

Und ich betone die Wichtigkeit der Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen. Es gibt Pädagogen, Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter, und ich denke, wir können nicht mehr nur auf die Sicht einer Disziplin, die mit dieser Bevölkerungsgruppe arbeitet, zählen. Es sollte ein integrativer, multidisziplinärer Ansatz sein.

Es scheint mir so zu sein, dass diese Themen aus Ihrer Sicht der Background sind für die für uns als Erwachsenenpsychiater oft ganz im Vordergrund stehenden Probleme wie Aggressionen, Sucht und Abhängigkeiten oder sexuelle Störungen. Habe ich das richtig verstanden?

Ja. Problematisches Verhalten ist nur die Oberfläche des eigentlichen Problems. Die Essenz des Problems ist viel breiter und tiefer, und ich denke aus ganzheitlicher Sicht verstehen wir die Person in ihrem Ganzen und dann den kleineren, aber wichtigen Teil des Problems. Es geht um die Person in ihrer Ganzheit.

In Ihrer Perspektive steht die Idee der Entwicklung an erster Stelle. Dies ist ein großer Unterschied zu dem Ansatz, der - wie ich denke - im klinischen Kontext am meisten genutzt wird. Im klinischen Kontext richten wir den Fokus nur auf Probleme, auf Symptome, Symptome vielleicht, die uns greifbar erscheinen, weil wir sie von nicht behinderten Personen kennen.

Ja, sicher, und sie haben eine andere Bedeutung, wenn wir sie bei geistig behinderten Menschen beobachten. Geistig behinderte Menschen in psychiatrischen Kliniken und Hospitälern stellen ein großes Problem dar. Aber was ist das große Problem? Das Verhalten ist das Problem. Und was wir dann versuchen ist, das Verhalten zu kontrollieren! Aber wir sehen nicht nach vorn. Ich habe oft erlebt, dass niemand danach fragt, wie die Situation zu Hause ist oder wie das Problem begonnen hat. Da ist ein Problem, und wir haben es zu lösen.

Und es muss schnell gehen …

Ja, es muss schnell gehen und darf nicht teuer sein. [lacht]

Doch diese Art des Arbeitens braucht Zeit.

Ja, sicher.

In Deutschland ist es nicht einfach, von den Krankenversicherungen eine Kostenübernahme für ambulante Behandlungen zu bekommen. Wie ist die Situation hier in den Niederlanden?

Wenn wir eine gute Indikation erstellen, deckt die Krankenversicherung alle Kosten ab.

Für ambulante Psychotherapie?

Nicht generell. Aber Psychotherapie kann finanziert werden, wenn der Therapeut, der Psychiater eine passende Indikation stellt. Wenn er die Indikation für Psychotherapie erstellt, werden die Kosten dann tatsächlich für einen gewissen Zeitraum übernommen. Das Problem ist aber, einen guten Psychotherapeuten zu finden.

Ich denke, dass in Deutschland oft gesagt wird, man könne keine Psychotherapie mit mental Retardierten machen. Diese Meinung ist immer noch weitverbreitet und ein bequemes Argument für die Krankenversicherungen.

Ja, sicher.

Aber das hat verheerende Folgen für die psychotherapeutische Ausbildung. Es scheint als …

… als gäbe es kein Interesse für diese Art der Therapie.

„Unbehandelbar” ist das Wort, das dann manchmal assoziiert wird.

Unbehandelbar, ja.

Wie sollte sich die Forschung entwickeln?

Glücklicherweise haben wir in den Niederlanden hier und dort Forschungsprojekte. An der Universität von Amsterdam gibt es eines, das die Entwicklung der Persönlichkeit untersucht. Für unsere Zielgruppe ist das sehr gut. Eine andere Arbeit gibt es an der Universität von Nijmwegen. Sie werden untersuchen, wie Präventionsmaßnahmen aussehen könnten, Prävention von Problemverhalten und psychiatrischen Störungen. Es ist nicht viel, aber es passiert etwas. Ich denke, dass die Initiative für Forschungsarbeit aus der Praxis kommen muss, da die Universitäten nicht erfahren genug sind. Und wenn die Universitäten forschen, kommen die Ergebnisse sehr oft nicht in der Praxis an. Sie verbleiben im Wissenschaftsbetrieb und führen zu einem akademischen Titel, und das war's! Also denke ich, diese Verknüpfung zwischen der Praxis und den Universitäten sollte funktionieren. Mit der Initiative in der Tat aus der Praxis.

Was denken Sie, was funktioniert in den Niederlanden besser als in Deutschland?

Was ist hier besser? Ich weiß es nicht. [lacht] Vielleicht eines: Ich sehe auf Tagungen mehr Niederländer als Deutsche. Ein wichtiger Aspekt! In Zagreb waren etwa 20 Personen aus Deutschland, aber 40 aus den Niederlanden! [lacht] Und wenn Sie Belgien betrachten: Die Belgier wurden von den Niederländern weniger in diese Entwicklungen involviert. Aber heute sehen wir dort wachsendes Interesse, sodass auch 20 Personen aus Belgien in Kroatien waren. Ebenso wichtig ist die gute Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen. Ich weiß nicht, wie es derzeit in Deutschland ist. Wir hatten hier in den Niederlanden vor 20, vielleicht 30 Jahren Konflikte zwischen Psychiatern und Psychologen. Das ist jetzt vorbei. Wir haben keinerlei derartigen Probleme mehr in diesem Bereich. Pädagogen sind flexibel, Psychiater auch. Flexibler als damals, meine ich, sie sind nicht monodisziplinär. [lacht] Die Menschen brauchen all diese Disziplinen. Das ist gut, das ist eine gute Entwicklung.

In Deutschland ist der Umgang mit geistig Behinderten auch immer noch durch die Erinnerung an die Nazi-Diktatur, die Idee „lebensunwerten Lebens” und die Deportationen von geistig Behinderten in Vernichtungslager belastet …

Ja, das ist wahr, das ist wahr. Solch eine Entwicklung gab es vorher schon. Sie begann in Amerika, die Entwicklung der Eugenik. Eine schlimme Zeit für geistig behinderte Menschen. Ich denke auch, dass wir heute noch die Konsequenzen davon zu tragen haben.

Insbesondere in Bezug auf Kinder mit Down-Syndrom denke ich manchmal, dass wir eine Renaissance dieser Ideen haben. Es gibt nicht wenige Menschen, die die Idee entwickeln: „Ich habe ein Recht auf ein gesundes Kind.” Ich weiß nicht, ob dies nur eine Konsequenz des Zweiten Weltkrieges oder nationalsozialistischer Ideen ist. Manchmal denke ich, es ist eine Idee aus unserer modernen Gesellschaft mit ihrem hohen Druck zu funktionieren, besonders im kognitiven Bereich, besonders im Berufsalltag. Manchmal denke ich, dies macht es Eltern noch schwerer, ein Kind zu akzeptieren, das möglicherweise nicht „funktionieren” wird.

Sicher, sicher. Es ist mal wieder nur der Erfolg im Leben, der zählt, nur das, was jemand in seinem Leben vollbracht hat. Es bedeutet, dass Dinge wie glücklich zu sein nicht zählen. Erfolg ist wichtiger.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt. In der Erwachsenenpsychiatrie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg psychisch gestörte, kranke Menschen und geistig Behinderte betreut. Geistige Behinderung wurde da oft als Krankheit angesehen. Dann setzte sich die Erkenntnis durch, dass eine geistige Behinderung keine Krankheit ist. Daraus resultierte, dass die Psychiatrie sagte, sie sei für diese Menschen nicht zuständig. Es wurde übersehen, dass geistig behinderte Menschen mindestens ebenso häufig psychische Störungen oder psychische Erkrankungen zeigen wie normal intelligente Menschen. Man schüttete das Kind mit dem Bade aus.

Es ist der Mangel an Ausbildung und der Mangel eines Überblicks über die Entwicklung, der zu so einer Sichtweise einlädt. Hat man dagegen einen Überblick über die Entwicklung einer Person, auf die Geschichte einer Person, dann hat man einen Überblick über Dinge wie Ressourcen, Bindungsaufbau etc. Es ist dann vielleicht einfacher, in Psychotherapie und Psychiatrie an Menschen mit geistiger Behinderung im Sinne einer Hochrisikogruppe zu denken: so wie an Personen mit sehr schlechter Kindheit, die misshandelt wurden oder etwas Ähnliches. Das wird in der Psychiatrie aber nicht so gesehen. Und es gibt viele junge Psychiater, die fast gar keine Erfahrungen mit geistig behinderten Menschen gemacht haben. Dies ist auch eine Konsequenz daraus, dass diese Patientengruppe kaum in den Universitätsbereichen zu finden ist.

Sie haben recht: Für uns als Kinder- und Jugendpsychiater war es einfacher zu sagen, wir behandeln auch die mental Retardierten mit psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. Es war einfacher, weil wir dieser Entwicklungsstufe in unserer Arbeit näher sind. Kinder- und Jugendpsychiatern fällt der Zugang oft leichter.

Die Kinder- und Jugendpsychiater sind insofern besser für diese Arbeit ausgebildet, ja. Man gewinnt eine andere Perspektive, wenn man darin ausgebildet ist, mit Menschen zu arbeiten, die in ihrer Entwicklung auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen stehen. Sie beschäftigen sich mit diesen Problemen. Ist man ausgebildet, mit Erwachsenen zu arbeiten, scheint man Personen vor sich zu haben, die auf demselben Entwicklungsniveau stehen, emotional, intellektuell. Aber so ist es eben nicht, und dennoch besteht die Neigung zu denken, sie seien wie man selbst.

Ja, das ist ein Problem. Man versteht ihre Art zu leben nicht. Dann haben wir eine Projektion unserer Mentalität auf sie, und das kann möglicherweise nicht die richtige Art sein, sondern eine völlig falsche. Wir beobachten das besonders bei der Sexualität dieser Personen. Man sieht, dass beispielsweise Pflegekräfte denken, dass diese Menschen dieselben oder annähernd dieselben sexuellen Bedürfnisse haben, die gleiche sexualisierte Denkweise wie sie selbst. Das kann zu einem großen Problem bei der Kontaktaufnahme zu diesen Personen werden. Dies ist nur ein Problem. Die Liste der Probleme ist aber sehr lang. Zum Beispiel sollen diese Personen autonom sein, sie sollen frei sein, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Und wie ist es? Wie sieht es heute aus? Können sie so frei und autonom sein, um auf sich selbst gestellt leben zu können? Nein, sie können nicht so leben, es sollte ihnen geholfen werden! Und was heißt das? Ist das Autonomie? Nein, ist es nicht! Über was sprechen wir eigentlich? Ich meine, es gibt so viele soziale Probleme, die nicht adäquat verstanden werden, und wir projizieren nur. Dies ist aber nicht die reale Welt für diese Menschen. Sie leben in einer anderen Welt, und diese sollten wir verstehen.

Ein weiterer Punkt noch: Ich weiß nicht, wie viele Allgemeinmediziner in Deutschland mit dieser Patientengruppe arbeiten. Gibt es spezialisierte Allgemeinmediziner für sie? In den Niederlanden gibt es Allgemeinmediziner, die auf die Arbeit mit geistig behinderten Menschen spezialisiert sind. Es gibt etwa 300 von ihnen, und an der Universität Rotterdam wird diese Spezialisierung angeboten, sie dauert zwei oder drei Jahre. Eine Spezialisierung für Allgemeinmediziner. Das ist eine große Hilfe für Psychiater.

So etwas existiert in Deutschland nicht.

Oh, nun ich dachte, schon.

Im Nachhinein können Sie sagen, dass es kein Zufall war, dass Sie als Kinderpsychiater begannen und dann zu den geistig Behinderten gekommen sind?

Ich denke, ohne die Kinderpsychiatrie hätte ich diese Wahl nicht getroffen. Ich interessierte mich für Kinder, und dann stellte ich mir die Frage: „Was für Kinder sind die anderen?”

Gibt es noch etwas, das Sie gern sagen würden, was Ihnen besonders wichtig ist, abgesehen von den Themen, die wir bereits im Interview besprochen haben? Was würden Sie uns mit auf den Weg geben?

Nun, ich habe wirklich gute Arbeit gesehen. Ich habe die Anfänge dieser Entwicklung gesehen, und ich denke: Das ist ein guter Anfang. Es ist sehr gut für diese Bevölkerungsgruppe. Ich hoffe nun, dass es weiter vorangeht. Es wäre sehr traurig, wenn es das nicht tun würde.

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