PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(3): 205-206
DOI: 10.1055/s-2008-1067479
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychisch oder somatisch – ein klinisches oder ein kommunikatives Problem?

Henning  Schauenburg, Winfried  Rief
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Publication Date:
05 September 2008 (online)

Seelisches und körperliches Erleben sind untrennbar verbunden. Gefühle haben eine Körpersprache, die uns hilft, sie zu entschlüsseln. Manchmal spricht allerdings auch nur der Körper; reagiert, untrüglich, unbewusst und will mit seinen Signalen und Botschaften erst verstanden werden. Um diese Verbindungen wissen die meisten Menschen, weshalb viele ihre seelisch-körperlichen Reaktionen interpretieren können und ihnen keinen besonderen Krankheitswert zumessen. Für manche sind allerdings diese Reaktionen mit Angst oder mit Irritation verbunden, sei es, weil sie, aus welchen Gründen auch immer, zu stark werden, zu lange andauern oder im Alltag hinderlich werden. Dann sind wir als Ärzte oder Psychotherapeuten gefragt. Und dann beginnen die Probleme. Die Medizin ist oft hilflos, aber auch Psychotherapeuten stehen den Betreffenden skeptisch gegenüber. Insbesondere wenn die Patienten ein stark somatisches Verständnis ihrer Beschwerden haben, trifft dieses auf ein oft ebenso rigides psychosomatisches Modell der Therapeuten, die die entsprechenden körperlichen Manifestationen z. B. alleine als Folge konflikthafter innerer Regungen verstehen.

Patienten mit somatoformen Störungen sind keine kleine Gruppe. Insbesondere in der hausärztlichen Versorgung, aber auch in vielen ärztlichen Fachdisziplinen stellen sie einen nicht unerheblichen Prozentsatz der Patienten. Dabei steht die Alltäglichkeit und Häufigkeit somatoformer Phänomene oftmals im Gegensatz zum Ausmaß der angedeuteten Schwierigkeiten, die diese Patienten, und wir mit ihnen, im Umgang mit unserem Versorgungssystem und unseren therapeutischen Angeboten erleben.

Es war also an der Zeit, dass sich ein Heft der PiD mit diesem Thema beschäftigt. Wahrscheinlich hatte es gute Gründe, dass wir lange zögerlich waren, dieses Thema aufzugreifen. So war es doch viele Jahre so, dass medizinische Erklärungsmodelle angesichts somatoformer Phänomene versagten. Auch bewährte lern- oder konfliktpsychologische Modelle erschienen zwar oft in sich schlüssig, blieben jedoch hinsichtlich ihrer Nutzung für einen hilfreichen therapeutischen Kontakt begrenzt.

Dass aber auch an den somatoformen Störungen der „wissenschaftliche Fortschritt” nicht ungehört vorübergegangen ist, machen die Beiträge unseres Heftes in spannender Weise deutlich.

Sie zeigen, dass sowohl konzeptionell als auch bezüglich spezifischer therapeutischer Strategien wie auch hinsichtlich biologischer Grundlagen eine Vielzahl von Erkenntnissen vorliegt, die inzwischen ihren Niederschlag in einer besseren Versorgung der betroffenen Patienten findet.

Was war uns bei der Planung des Heftes wichtig?

Der Begriff somatoforme Störung ist eine, sprachlich nebenbei nicht besonders gelungene, Festlegung im Sinne einer internationalen Konvention. Die entsprechende in den psychiatrischen Klassifikationssystemen vorgenommene Definition war zunächst hilfreich, um die Erforschung der entsprechenden Krankheitsbilder voranzubringen. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass die beschriebenen Phänomene in der Medizingeschichte immer schon beschrieben, konzeptualisiert, und diskutiert wurden. Ein Stück dieser Geschichte wird im Beitrag von Ronel und anderen in anschaulicher Weise lebendig, und wir können entscheiden, ob und in welcher Form beispielsweise Bestandteile des klassischen Hysteriekonzeptes auch heute noch zum Verständnis somatoformer Phänomene hilfreich sein können.

Die schulenbezogenen Darstellungen des therapeutischen Vorgehens und auch die Empfehlungen, wie sie aus laufenden Forschungsprojekten mit somatoformen Patienten hervorgegangen sind, machen deutlich, dass sich in den letzten 10 Jahren viel getan hat. Es wurden therapeutische Strategien entwickelt, die einerseits die Patienten bei den körperlichen Beschwerden „abholen”, mit denen sie sich präsentieren, andererseits wird aber inzwischen in allen Konzepten nicht bei der reinen Symptombewältigung stehengeblieben. Die „Botschaft”, die häufig in der Symptomatik verborgen ist, soll aufgegriffen und in ihrer vergangenheits- und zukunftsbezogenen Bedeutung ernst genommen werden.

Es werden in den einzelnen Beiträgen Wege aufgezeigt, das habituelle Misstrauen vieler Patienten aufzugreifen und ernst zu nehmen und die komplexe biografische und soziale Verkoppelung der somatoformen Symptomatik zu berücksichtigen.

Weiter wollten wir wissen, ob somatoforme Störungen und die Art ihrer Präsentation als spezifische Äußerungsform innerer Beziehungsmodelle verstanden werden können, wie sie beispielsweise die Bindungstheorie beschreibt. Zwei besonders relevante Problembereiche schienen uns wichtig: Somatoforme Störungen spielen im Bereich der Sozialmedizin eine große Rolle und viele von uns werden mit gutachterlichen Fragen konfrontiert, für die es inzwischen hilfreiche Vorgaben und Kriterienkataloge gibt. Ein anderer Bereich betrifft die überproportionale Häufigkeit der entsprechenden Störungen unter Patienten mit Migrationshintergrund. Diesbezügliche therapeutische Angebote und Konzepte dürfen unseres Erachtens nicht fehlen. Und nicht zuletzt wollen wir, ausgehend von neuen Befunden der funktionellen Bildgebung, einen Blick werfen auf somatische Befunde, die die oben erwähnte seelisch-körperliche Verschränkung noch komplexer erscheinen lassen, als dies bisher vorstellbar war: Modernes Neuroimaging findet, dass die erlebten körperlichen Beschwerden oft in dem Sinn „real” sind, dass gleiche zerebrale Wahrnehmungsprozesse wie bei Körperbeschwerden mit „greifbareren” Ursachen gefunden werden.

Zum anderen ist da die immer größere „Auflösung” pathophysiologischer Mechanismen, die zu einer Vielzahl von Befunden geführt haben, die vor Jahren aufgrund mangelnder entsprechender technischer Möglichkeiten bzw. konzeptionellen Wissens nicht erhoben werden konnten und die sozusagen zurück zur somatischen Basis funktioneller Phänomene führen.

Ob diese immer feineren Befunde dabei auch unsere psychotherapeutischen Vorgehensweisen beeinflussen oder zu neuen medikamentösen Behandlungsstrategien führen, muss zunächst offen bleiben. In jedem Fall haben sie schon heute den Effekt der „Schuldentlastung” bzw. Entstigmatisierung gerade bei denjenigen Patienten, die sich als Simulanten abgestempelt fühlen.

Das Heft schließt mit einem Interview aus dem ärztlichen Alltag und Buchempfehlungen sowie unseren bewährten Hinweisen zum Internet. Wir hoffen, dass Sie vielfältige Anregungen aus der Lektüre gewinnen und das Heft am Ende ohne Magendrücken, Kopfschmerzen, Kribbeln in den Beinen oder Flimmern vor den Augen zufrieden beiseitelegen können.

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Winfried Rief

Klinische Psychologie und Psychotherapie, Leiter der Psychotherapie-Ambulanz

Universität Marburg

Gutenbergstraße 18

35032 Marburg

Email: rief@staff.uni-marburg.de

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