PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(3): 313-314
DOI: 10.1055/s-2008-1067489
Im Dialog

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Ein Schulabschluss für psychisch kranke junge Erwachsene

Elke  Timm
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Publication Date:
05 September 2008 (online)

Mitten im Herzen der Innenstadt entstand 2004 die neue Volkshochschule in Essen. Mit rund 60 000 Unterrichtsstunden jährlich bietet sie als kommunales Weiterbildungszentrum ein inhaltlich breit gefächertes Angebot mit rund 2 000 kursorischen Angeboten und ca. 300 Einzelveranstaltungen. Rund 15 % des Unterrichtsvolumens fallen dabei zurzeit in das Segment nachträglicher Schulabschlüsse. Nach dem Weiterbildungsgesetz NRW (WbG NRW) ist die Volkshochschule prüfungsberechtigte Weiterbildungseinrichtung für Schulabschlussprüfungen.

Im integrierten zweijährigen Lehrgangssystem der Schulabschlüsse streben ca. 300 Teilnehmende einen Hauptschulabschluss nach Klasse 9 und 10 a sowie den mittleren Bildungsabschluss (Fachoberschulreife) an. Rund 100 Teilnehmende absolvieren jährlich erfolgreich die Abschlussprüfungen, davon 70–80 % die Fachoberschulreife. Der Unterricht wird dabei von Honorarkräften mit entsprechender Qualifikation (Lehrkräfte mit 2. Staatsexamen) durchgeführt.

Bei den Teilnehmenden handelt es sich um junge Erwachsene, die aufgrund unterschiedlichster Lebenssituationen die Regelschule nicht erfolgreich besucht haben. Die Gründe dafür sind vielfältig: Das Spektrum reicht von der frühen Schwangerschaft über Drogenkonsum, Straffälligkeit bis zu psychischen Auffälligkeiten. Nicht mehr schulpflichtige Jugendliche und junge Erwachsene können im ersten Bildungssystem aus schulrechtlichen Gründen nicht mehr beschult werden. Formal ist daher für sie der zweite Bildungsweg zuständig. Die Nachfrage der jungen Erwachsenen nach dem Besuch der Volkshochschullehrgänge ist hoch und kann leider nicht befriedigt werden. Rund 140 Bewerber und Bewerberinnen müssen zurzeit aufgrund fehlender Ressourcen abgewiesen werden.

Die Finanzierung der Essener Volkshochschule setzt sich aus Landesmitteln, Teilnehmerentgelten, einem kommunalen Zuschuss und Drittmitteln zusammen. Aufgrund der seit dem Jahr 2000 um 28 % reduzierten Landesmittel nach dem WbG NRW versucht die Volkshochschule kontinuierlich, diese fehlenden Mittel durch Drittmittel zu kompensieren. An eine Ausweitung der Schulabschlusslehrgänge, die – bis auf ein geringes Einschreibentgelt von 25 Euro pro Semester – für die Teilnehmenden entgeltfrei angeboten werden, ist nicht zu denken. Auch der Einsatz hauptberuflicher Weiterbildungslehrkräfte, die neben der Lehrtätigkeit sozialpädagogische Funktionen übernehmen, ist von der Volkshochschule unter diesen Rahmenbedingungen nicht zu schultern.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen uns, dass insbesondere psychisch kranke junge Erwachsene diesem stark auf Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation basierenden Lehrgangssystem der nachträglichen Schulabschlüsse an der Volkshochschule nicht gewachsen sind. Häufig brechen die jungen Erwachsenen nach wenigen Monaten den Lehrgang ab. Obwohl sie die geforderten fachlichen Leistungen in vielen Fällen erbringen können, scheitern sie an den Rahmenbedingungen.

Als Prof. Dr. med. Christian Eggers, Facharzt für Kinderheilkunde und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, vor einigen Jahren mit der Idee auf die Volkshochschule zukam, einen speziellen Lehrgang für an Schizophrenie erkrankte Jugendliche und junge Erwachsene anzubieten und diesen aus Stiftungsmitteln zu finanzieren, reagierten wir zunächst skeptisch.

Zwar konnten wir nachvollziehen, dass eine kognitive Förderung für schizophrene junge Menschen besonders wichtig ist und sich Lernen damit als therapeutisch wirksam zur Behandlung von psychotischen Erkrankungen erweist, die Einbußen der Konzentrations- und Merkfähigkeit mit sich bringen; andererseits befürchteten wir den speziellen Anforderungen dieser Lerngruppe nicht gewachsen zu sein. Unsere Erfolgsmesslatte war schließlich nach wie vor ein erfolgreicher Schulabschluss.

Vor diesem Hintergrund entwickelten wir gemeinsam mit dem psychologischen Mitarbeiter der Prof. Eggers Stiftung, einer Weiterbildungslehrerin und mehreren Honorarlehrkräften in zahlreichen Gesprächen ein Konzept, das den Betroffenen einen Schulabschlusslehrgang anbietet, bei dem sie – im Gegensatz zu bisherigen frustrierenden Lernerlebnissen – die schulischen Anforderungen bewältigen können, und dies gleichzeitig zu einem realen Zuwachs an Selbstvertrauen und Ich-Stärke führt. Nicht zuletzt sollte der Erwerb der Schulabschlüsse die Voraussetzung für das erfolgreiche Einmünden in die berufliche Normalität bieten.

Eckpunkte dieses Konzeptes sind:

ein in Stundenumfang, Fächerkombination und Unterrichtsinhalten den Richtlinien und Lehrplänen entsprechendes Angebot, das in ähnlicher Weise organisiert ist wie die Lehrgänge der Volkshochschule. Damit wird sichergestellt, dass das Niveau eines staatlich anerkannten Abschlusses erreicht werden kann. ein Unterricht in kleineren Gruppen, bei dem auf individuelle (psychische) Voraussetzungen eingegangen werden kann und ein übersichtliches, ruhiges Umfeld gegeben ist (maximale Gruppenstärke: 15 Teilnehmende). Vor allem zu Beginn des Lehrgangs soll eine Überforderung durch Reizüberflutung vermieden werden („Reizschutz”), da Schizophreniekranke besonders reizoffen, leicht ablenkbar, unaufmerksam und in der Fähigkeit beeinträchtigt sind, aufgabenrelevante, geordnete, zielorientierte Denk- und Handlungsstrategien zu entwerfen und zu verfolgen. der Einsatz einer hauptberuflichen Lehrkraft, die sozialpädagogisch geschult ist oder zu entsprechender Weiterbildung bereit ist. eine kontinuierliche psychologische bzw. psychiatrische Begleitung sowohl der Teilnehmenden als auch der Lehrkräfte. einen Veranstaltungsort zu wählen, der für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwar gut zu erreichen ist, aber gleichzeitig auch ihre tägliche Initiative (sich auf den Weg zu machen) einfordert. Der Lehrgang soll so mit dazu beitragen, wieder zunehmend den Alltag zu strukturieren. Entsprechende Räumlichkeiten konnten in einem städtischen Jugendzentrum genutzt werden.

Im August 2006 startete der erste Lehrgang mit 14, überwiegend an Schizophrenie erkrankten jungen Erwachsenen (18–25 Jahre alt) in der poststationären Weiterbetreuung. Dank der hohen Leistungsbereitschaft der Teilnehmenden und der engagierten Zusammenarbeit des pädagogischen Teams erzielten die jungen Leute überdurchschnittlich gute Leistungen und erwarben bereits nach zwei Semestern erste (Hauptschul-)Abschlüsse. Bei zwei Teilnehmenden wurde eine Lernbehinderung festgestellt, sodass sie sich umorientieren mussten. Ein Teilnehmer verließ den Lehrgang, um seine Ausbildung wieder aufzunehmen. Im dritten Semester konnten zwei zusätzliche Teilnehmende aufgenommen werden, die die Fachoberschulreife anstreben.

Nach dem derzeitigen Leistungsstand (Juni 2008) werden sieben der Teilnehmenden die Fachoberschulreife erreichen. Der bisherige Erfolg dieser Maßnahme hat selbst Fachleute überrascht. Uns motiviert er, den erfolgreich eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Die Durchführung eines neuen Lehrgangs ist dabei unmittelbar von der Finanzierung über Drittmittel abhängig. Diese Drittmittel sind gut investiert. Sie ermöglichen den Wegfall zukünftiger Transferleistungen an nunmehr beruflich integrierte junge Erwachsene.

Das hier vorgestellte Projekt eröffnet damit für die Betroffenen eine doppelte Chance: eine Förderung der Resozialisierung durch Intensivbetreuung sowie die schulische Qualifikation als Voraussetzung für einen zukünftigen Berufseintritt.

Korrespondenzadresse:

Dr. Elke Timm

Volkshochschule Essen

Burgplatz 1

45127 Essen

Email: elke.timm@vhs.essen.de

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