PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(3): 295-296
DOI: 10.1055/s-2008-1067491
Resümee

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Es bleibt viel zu tun

Henning  Schauenburg, Winfried  Rief
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Publication Date:
05 September 2008 (online)

Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch, dass Sie sich bis hierher durch unser Heft gearbeitet haben. Sie haben eine ziemliche Tour de Force hinter sich. Das Feld der somatoformen Störungen ist sowohl unter konzeptionellen Gesichtspunkten als auch hinsichtlich der therapeutischen Anforderungen außerordentlich komplex. Wir sind froh, dass sich diese Komplexität auch in den Beiträgen der Autoren widerspiegelt. Es ist, als würden die besondere Schwierigkeit der eingeschlossenen Krankheitsbilder und die Hürden in der Interaktion mit den betroffenen Patienten in den letzten Jahren eine besondere Kreativität freisetzen: einmal in der immer weitergehenden Ergründung somatopsychischer und psychosomatischer Zusammenhänge, aber auch hinsichtlich therapeutischer Strategien für die häufig verschlossenen und abweisenden Patienten.

Im Zentrum der somatoformen Störung steht die Fehlwahrnehmung und Fehlbewertung körperlicher Phänomene durch die Patienten. Dass hierbei entwicklungspsychologische Auffälligkeiten im Sinne einer beeinträchtigten bzw. unzureichend „erlernten” Körperwahrnehmung eine Rolle spielen können, postuliert der Beitrag von Waller und Scheid aus der Tradition der Bindungstheorie.

Viele Betroffene haben hypothetisch schon früh im Leben begonnen, mentale Repräsentanzen von Gefühlszuständen zu „desaktivieren” – bzw. sie wurden ihnen nicht „beigebracht” – und sind daher körperlichen (Stress-)Reaktionen eher ungeschützt ausgesetzt. Mit dieser Annahme geht einher, dass die Betroffenen zwischenmenschliche Verbundenheit unterschwellig zurückweisen und Hilfe nicht erwarten. Dies macht auch den Kern vieler misslingender Arzt-Patienten-Interaktionen aus und ist als Bestandteil des prozeduralen Gedächtnisses oftmals nur in längerfristigen therapeutischen Prozessen zu beeinflussen. Es ist im Übrigen faszinierend, in der Arbeit von Ronel und anderen zu sehen, dass es eine lange Geschichte des ärztlichen Ärgers über die Patienten gibt und illustre Personen der Medizingeschichte sich hier mit Zitaten hervorgetan haben.

Oft scheitert der therapeutische Kontakt schon im Ansatz. Von daher leuchtet es ein, dass sich alle Therapieschulen der langsamen und behutsamen Annäherung an solche Fehlwahrnehmungen und der daran geknüpften Krankheitsmodelle widmen. Psychoedukative Elemente und deren Notwendigkeit wurden in der Vergangenheit evtl. unterschätzt. Sie spielen heute eine große Rolle und werden am deutlichsten in der Arbeit von Thomas et al. dargestellt, die u. a. auch Hinweise zur Beeinflussung der ungünstigen Aufmerksamkeitsfokussierung somatisierender Patienten geben.

Andererseits muss die Beziehungsgestaltung – hohe Erwartungshaltung bei gleichzeitig ausgeprägter Enttäuschungsbereitschaft – vor dem Hintergrund beeinträchtigter struktureller Fähigkeiten des Affektverständnisses der affektiven Kommunikation Aufmerksamkeit schenken, was der psychodynamische Beitrag von Kruse zeigt.

Der systemische Ansatz, dargestellt von Häuser, zeigt Möglichkeiten verhaltenstherapeutische, psychodynamische und hypnotherapeutische Ansätze integrativ zu nutzen und macht deutlich, dass sich natürlich auch bei somatoformen Patienten als auslösende Konstellationen typische familiäre o. ä. Konflikte finden, die bearbeitet werden können, wenn die Patienten sich sicher genug fühlen, sich auf dieses Terrain zu begeben.

Revenstorf beschreibt, dass hypnotherapeutische Verfahren nicht nur bei Schmerz, sondern im Grunde bei allen somatoformen Symptomen hilfreich zum Einsatz kommen können und schöpft hierfür aus dem reichen Schatz klassischer und moderner Hypnosetechniken.

Eine Quintessenz dessen, was wir zum hilfreichen Umgang mit somatoformen Patienten wissen, liefert die Arbeit von Schäfert u. a., die zusätzlich eine Studie vorstellt, die ein praktikables, integriertes therapeutisches Vorgehen im Rahmen der Primärversorgung überprüft und auf deren Ergebnisse man gespannt sein darf.

Sieht man die Vielfalt an therapeutischen Strategien, dann könnte man die heftige Diskussion um die Abgrenzung diagnostischer Subgruppen, wie sie von Ronel am Ende berichtet wird, als sekundär betrachten. Allerdings zeigt die Arbeit von Bleichhardt zur Therapie der Hypochondrie und auch diejenige von Hausteiner und Bornschein zu den umweltbezogenen Störungen, dass es doch sinnvoll ist, genaue differenzialdiagnostische Überlegungen anzustellen, um den spezifischen Schwierigkeiten der jeweiligen Patientengruppe gerecht zu werden. Hypochondrische Patienten haben eben oft weniger faktische funktionelle Symptome (bei maximaler Sensitivität bezüglich normaler Körpersensationen) und dafür ein noch viel ausgeprägteres „Sicherheitsverhalten” als Patienten mit anderen somatoformen Störungen. Patienten mit umweltbezogenen Störungen fallen durch starke angstgetönte Lernprozesse bei „externen” Auslösefaktoren auf, die mit einem sehr verfestigten Krankheitsmodell und vielen unsinnigen äußerlichen „Therapieversuchen” einhergehen und von daher auch einen modifizierten Zugang erfordern.

Dass zudem der kulturelle Hintergrund der Patienten einer besonderen Berücksichtigung bedarf, macht der Beitrag von Göbber et al. deutlich. Die Notwendigkeit besonderer und spezifischer „Strategien” zur angemessenen Begleitung von Patienten mit Migrationshintergrund ist allgemein anerkannt. Allerdings ist dies im Bereich der ambulanten Versorgung oft noch nicht so umgesetzt, wie in einigen stationären Angeboten in entsprechend konzeptualisierten Kliniken. Im Interview mit zwei Hausärzten wird noch einmal deutlich, dass hier großer Bedarf besteht und gleichzeitig niedrigschwellige gruppentherapeutische Angebote ein Weg sein könnten.

Die immer wieder im Mittelpunkt stehenden kommunikativen Schwierigkeiten mit vielen somatoformen Patienten wirken auch in den Bereich der Begutachtung hinein. Die Vorschläge von Rauh und Svitak stellen deshalb eine hilfreiche Orientierung dar, uns auch vor Gegenübertragungsfallen zu schützen und nüchtern die Sachlage zu bewerten. Letztendlich geht es bei der Frage kausaler Zusammenhänge, der Einschätzung von Aggravation bzw. der Belastbarkeit von somatoformen Patienten weniger um lückenlose Beweise, als um eine gründliche und erfahrene Sammlung von Indizien und Merkmalen. Dies erlaubt oftmals sehr wohl eine angemessene Einschätzung, auch wenn diese Aufgabe sicher zu den schwierigeren in unserem Feld gehört.

Interessant, aber evtl. auch in Hinsicht auf somatische und psychische Verursachungsprozesse verunsichernd, sind die neueren Erkenntnisse aus der somatischen Forschung, die, sei es im Bereich der Bildgebung, sei es im Bereich der Pathophysiologie nun doch „Befunde” aufweisen können. Die pathologische / pathophysiologische „Auflösung” wird immer größer. Dabei können wir uns allerdings nicht sicher sein, ob diese Befunde uns hinsichtlich der Einordnung von faktischer Beeinträchtigung bzw. der differenziellen Therapiezuweisung hilfreich sein können. In vielen Fällen sind die neuen Befunde der Bildgebung nicht als Gegenpol zu bisherigen eher psychologischen Modellen zu sehen, sondern einfach als Bestätigung: Wahrnehmungsprozesse, Bewertungsprozesse, emotionale Korrelate und Kontrollversuche werden sichtbar gemacht, die bereits bisher im Verständnis der Erkrankung eine große Rolle gespielt haben. Hier sind jedoch in der Zukunft noch spannende weitere Erkenntnisse zu erwarten.

Wir hoffen, dass Sie auch dieses Heft in Ihrer täglichen Praxis und im Umgang mit der beschriebenen häufigen und manchmal schwierigen Patientengruppe zurate ziehen können und freuen uns über Rückmeldungen und Reflexionen zum Thema.

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