PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(3): 290-294
DOI: 10.1055/s-2008-1067494
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Es werden immer mehr…”

Dirk von  Moers-Messmer und Manfred  Mayer im Gespräch mit Henning  Schauenburg
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Publication Date:
05 September 2008 (online)

PiD: Psychosomatische Störungen nehmen in Ihrer beider Praxen einen relativ großen Raum ein. Gab es hier in den letzten Jahren eigentlich, wie behauptet, eine Zunahme?

Dirk von Moers-Messmer: Ja, wir haben in den letzten 3–4 Jahren zunehmend Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen, und ich habe für mich gemerkt, dass ich mich damit intensiver beschäftigen muss. Es ist ja so, dass gerade diese Patienten sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, und ich merke, dass wir diese Zeit nicht mehr haben, da der Arbeitsaufwand – auch der nichtmedizinische Arbeitsaufwand im Sinne von Bürokratie – zunimmt. Das ist ein Riesenproblem hinsichtlich unserer Behandlungsmöglichkeiten.

Herr Mayer, Sie betreiben Ihre Praxis an der Grenze zwischen einem sozialen Brennpunkt und einem wohlhabenderen Gebiet. Beobachten Sie eigentlich Unterschiede in der Zunahme an psychischen Beeinträchtigungen in diesen beiden Einzugsgebieten?

Manfred Mayer: Die Statistik sagt, dass die Arbeitsunfähigkeitszeiten insgesamt zurückgingen. Schauen wir einmal im Detail und nehmen die F-Diagnosen, die nehmen auch bei mir andererseits prozentual deutlich zu. Das geht durch alle Schichten. Wir haben z. B. im Bereich der Niedriglöhne Arbeitsbedingungen, die eine massive Belastung bedeuten. Mobbing als neuer Begriff wird vermehrt wahrgenommen, als Druck empfunden und löst somatische Störungen aus. Vergleichbares findet sich aber auch für höhere soziale Schichten. Ein Beispiel: Ein höherer Angestellter, gerade in ein neues Amt befördert, mit dem aber auch die Anforderungen erheblich steigen, kommt oftmals mit einer ganz ähnlichen Problematik.

Diese Gruppe von Patienten wird größer und gleichzeitig nimmt Ihre Zeitkapazität eher ab. Trotzdem müssen Sie mit diesen Patienten umgehen. Was sind für Sie Strategien, die Sie als hilfreich erlebt haben, um diesen Patienten gerecht werden zu können?

Manfred Mayer: Vor 26 Jahren zum Zeitpunkt meiner Niederlassung, frisch aus der Klinik, glaubte ich, ich würde alles selber machen können. Irgendwann hat meine Helferin mir dann Signale gesendet: „Du hast keine Zeit mehr, draußen warten viele Patienten.” Das war der Punkt, wo ich überlegt habe, wer könnte mir bei diesen speziellen Patienten helfen. Ich kannte dann jemand, der psychotherapeutisch tätig war. Es gab die ersten Kontakte, wir haben die Patienten überwiesen. Später wurde es schwierig, nachdem die Zahl der Patienten, die einer Therapie bedurften, immer größer wurde.

In Mannheim haben wir dann eine Zentrale gegründet, in der Therapeuten freie Plätze melden konnten. Die Patienten mussten nicht mehr 30 Telefonnummern durchtelefonieren. Das war für mich der erste Schritt der Erleichterung. Der zweite Schritt war, dass ich selbst versucht habe, Strategien zu entwickeln. D. h. also möglichst rasch dahinter zu steigen: „Ist dieser Mensch somatisch krank oder steckt da noch etwas anderes dahinter?” Dann habe ich solche Patienten oft aus der Sprechstunde herausgenommen, habe mit ihnen einen Extratermin vereinbart. Das kostete Zeit, teilweise sehr viel Zeit und das ließ sich auf Dauer nicht durchhalten, weil es einfach zu viele waren.

Dirk von Moers-Messmer: Ich kann das bestätigen. Ähnlich ging es mir, als ich mich niedergelassen habe. Ich habe auch sehr schnell gemerkt, dass es neben den organischen auch andere Probleme gibt. Diese Patienten habe ich auch aus der Sprechstunde herausgenommen.

Ich habe mir Zeit genommen. Aber bald wurden die Patienten immer mehr und mehr. Glücklicherweise war es bei mir so, dass sich auch zwei, drei Psychotherapeuten niedergelassen hatten, bei denen ich meine Patienten relativ schnell „unterbringen” konnte. In den letzten zwei, drei Jahren ist es so, dass Gemeinschaftspraxen zugenommen haben, aber die Wartezeiten werden trotzdem immer länger, im Moment manchmal bis zu bis zu sieben, acht Monaten.

Ich würde gerne auf die besondere Gruppe von Patienten zu sprechen kommen, die somatische Beeinträchtigungen vor dem Hintergrund psychosozialer Belastungen erleben, also das, was man somatoforme oder funktionelle Störungen nennt. Sind das für Sie vertraute Krankheitsbilder?

Dirk von Moers-Messmer: Typisch wäre: der 45-jährige mehr oder weniger ungelernte Arbeiter, der in meine Praxis kommt und über Rückenschmerzen klagt. Ich behandle ihn wie jeden anderen Patienten, ich werde sicherlich fündig: degenerative Veränderungen gibt es in diesem Alter immer. Nun könnte ich erwarten, wenn ich ihn gut behandle, evtl. aus dem Arbeitsleben herausnehme, dass er nach 10–14 Tagen wieder arbeiten kann. Der Patient klagt nun aber weiter über Schmerzen, die ich klinisch nicht weiter abklären kann. Wenn ich diesen Patienten nach zwei bis drei Wochen nicht wieder „zum Arbeiten kriege”, kann ich davon ausgehen, dass er in den nächsten drei bis vier Monaten auch nicht arbeiten wird. Fragt man ein bisschen mehr nach, findet sich dann oft, wie schon vorhin angedeutet, eine Arbeitsplatzproblematik: Druck, Mobbing, in welcher Art auch immer. Und das ist ganz typisch. Der eine hat es im Magen-Darm, der andere hat funktionelle Herzbeschwerden, andere haben derartig langwierige Schmerzsyndrome. Und da müssen wir die Patienten begleiten, müssen neue Therapieansätze finden, sowohl auf medizinischem als auch auf gesellschaftlichem Gebiet.

Haben Sie ein Beispiel, wie so etwas ablaufen kann?

Dirk von Moers-Messmer: Da fallen mir spontan zwei Geschichten ein. Einmal eine Patientin mittleren Alters, 28 Jahre alt, die mehrfach in meiner Sprechstunde war wegen Kopfschmerzen, Magenschmerzen und auch immer wieder wegen funktioneller Herzbeschwerden. Wir haben sie komplett durchuntersucht, und ich habe dann bei einer Befundbesprechung versucht anzudeuten, dass es vielleicht noch etwas anderes gibt, als die von ihr vermuteten organischen Ursachen. Sie: „Ich bin nicht verrückt, ich gehöre nicht nach Wiesloch, ich spüre die Beschwerden doch.” Wir haben geredet und uns für einen anderen Termin verabredet. Beim Herausgehen sagte sie: „Herr Doktor, noch eine Frage, schlagen Männer immer?” Und damit hat sie dann doch angesprochen, was sie bewegte. Sie war vor vier Tagen wieder bei mir in der Praxis und befindet sich auch heute noch, seit mittlerweile drei Jahren, aufgrund ihrer Traumatisierung in psychotherapeutischer Behandlung.

Ein anderer Fall: Magen-Darm-Beschwerden, Schluckbeschwerden, Dysphagien, die in keinster Weise im HNO-Bereich klassifizierbar waren. Die Patientin war gastroskopiert worden und ich hatte immer den Eindruck, ich weiß auch nicht warum, dass sie etwas verheimlichte. Sie ging immer sehr ängstlich mit ihrer Tochter um, könne sie nicht zum Stiefvater, zur Mutter geben, müsse selber aber weiterarbeiten etc. Ich habe sie dann einfach mal gefragt: „Sind Sie als Kind missbraucht worden?” Sie sagte „Nein” und ging. Zwei Tage später kam sie wieder in die Sprechstunde und sagte: „Herr Doktor, ich habe Sie angelogen, ich wurde missbraucht, helfen Sie mir.”

Seelische Hintergründe werden also oft aus ganz naheliegenden Gründen wie Scham oder Angst verschwiegen. Vielleicht sind wir oft zu zurückhaltend, müssen nur offensiver sein?

Manfred Mayer: Eine Schwierigkeit ist, dem Patienten zu vermitteln, dass eben eine seelische Belastung auch zu körperlichen Beschwerden führen kann.

Eine weitere Patientin, alleinerziehende Mutter, zwei Kinder. Die Kinder sind zwar gut geraten, aber haben jetzt Probleme in ihren Partnerschaften, die Mutter leidet darunter. Sie kommt in die Praxis wegen Oberbauchbeschwerden und einer Schluckstörung. Die übliche Diagnostik. Es war klar: Es ist eine somatoforme Störung. Dies der Patientin zu vermitteln ist sehr schwierig. Sie hatte noch „eine Runde gedreht” bei anderen Gastroenterologen, sie hat ein drittes, privatärztliches, Konsil gehabt bei einem bekannten Kollegen an der Universität in Mannheim mit negativem Ergebnis.

Die Überweisung zum Fachpsychotherapeuten ist ja oft dann eine nächste Hürde, wie sind da Ihre Erfahrungen?

Dirk von Moers-Messmer: Was die einzelnen Therapeuten angeht, ist es im Grunde wie mit anderen fachärztlichen Kollegen. Man überweist die Patienten, erst hat man gar keine Erfahrung, „streut” evtl. über sieben, acht Psychotherapeuten und merkt irgendwann, ob von dem Patienten etwas zurückkommt. „Ich bin dort zufrieden, ich bin dort nicht zufrieden, er schreibt nur und kann mich nicht angucken” usw. Und ich sage immer, der Patient muss passen wie zu einem Hausarzt. Viel entscheide ich auch aus dem Bauch heraus. Irgendwann hat man mit jedem einmal in irgendeiner Weise zu tun gehabt und sagt: Die Frau passt da hin, der Mann passt da hin und in der Regel stimmt es. Ich sage aber auch jedem Patienten: Gehen Sie hin, Sie haben die Möglichkeit für ein erstes Probegespräch. Wenn Sie merken, die Chemie stimmt, dann bleiben Sie dort. Wenn Sie aber merken, ich rede mit ihm, aber so richtig warm werde ich mit dem Psychotherapeuten nicht, bedanken Sie sich und sagen, ich möchte es doch noch woanders probieren. Das muss man meiner Meinung nach den Patienten sagen.

Manfred Mayer: Fangen wir an mit dem Positiven: In Mannheim ist es sehr gut geregelt, ich habe kaum Patienten, die mit dem Therapeuten, zu dem sie von der Vermittlungsstelle geschickt werden, unzufrieden wären. Es gibt hier und da mal Probleme, aber sehr viel seltener als früher. Die Therapien werden fast alle, zumindest aus meinem Erleben, durchgezogen bis zu einem wie auch immer gearteten Abschluss. Die Ergebnisse der Therapien sind im Gegensatz zu früher heute viel häufiger gut. Es war früher sehr oft so, dass jemand mit einem Therapeuten nicht zurechtkam. In Ermangelung der Alternative ging halt die Therapie weiter oder führte dann zum Abbruch.

Dann der Wermutstropfen: Die Kommunikation Psychotherapeut – Hausarzt ist oft mangelhaft. Eine fast unendliche Diskussion: Hat der Hausarzt ein Anrecht auf einen „Arztbrief”? Die Argumentation der Therapeuten ist: Nein, weil die Informationen zu intim sind und nicht nach außen getragen werden sollten. Der Hausarzt denkt dann, dass er ja die Therapie empfohlen hat, weil er der Meinung war, dass es da ein Problem zu lösen gilt. Er fühlt sich an der ganzen Behandlung irgendwie beteiligt, auch weil der Mensch ja weiterhin in seine hausärztliche Sprechstunde kommt.

Dirk von Moers-Messmer: Das war auch am Anfang meine Erfahrung, dass die Kommunikation nicht stimmte. Ich habe dann einfach mit den Therapeuten geredet, was ich gerne möchte. Ich möchte nur wissen, hat er die Therapie aufgenommen, hat er sie nicht aufgenommen, sind fünf Sitzungen probatorisch abgehandelt worden, wird eine längere Therapie begonnen, ja oder nein. Im Prinzip reicht mir das eigentlich schon, man muss ja nicht alle Details wissen. Ich weiß ja ungefähr, warum ich jemanden hingeschickt habe. Zwischendrin ist es auch so, dass mir die Therapeuten einen Dreizeiler zukommen lassen und ich dann weiß, o. k. er macht Fortschritte oder nicht. Letztendlich bekommt er ja von mir auch wieder die Überweisung. Ich arbeite mit den meisten seit fast zehn Jahren zusammen, ich schätze 60 % tun das so. Ich kann auch auf den Anrufbeantworter sprechen: Herr Soundso, ich bitte um kurzen Rückruf bezüglich Krankmeldung oder der Patient war bei mir, ich habe das Gefühl, er dekompensiert. Ich bekomme dann den Rückruf, Stunden manchmal auch einen Tag später, aber es funktioniert. Und wenn es wirklich brennt, manchmal sogar innerhalb einer Stunde, das muss ich sagen.

Hat sich da etwas bei den Psychotherapeuten verändert? Es gibt möglicherweise passendere Therapieformen und anscheinend wird auch der Kontakt mit den überweisenden Kollegen höher geschätzt.

Manfred Mayer: Die Zusammenführung von Patient und Therapieform gelingt in den letzten Jahren immer besser. Dabei ist jemand, der einer verhaltenstherapeutischen Behandlung bedarf, von vorne herein leichter an die richtige Adresse zu vermitteln. Aber auch wenn eine analytische Aufarbeitung der Problematik nötig ist, können Patienten den entsprechenden Therapeuten zugewiesen werden.

Ich würde gerne ein weiteres Thema aufgreifen, nämlich die Migranten. Wir wissen aus Untersuchungen, dass der prozentuale Anteil von somatoformen Störungen unter Migranten höher ist, als unter Nichtmigranten. Entspricht dies auch Ihren Erfahrungen?

Dirk von Moers-Messmer: Definitiv und ich glaube das wird auch noch zunehmen. Nehmen wir zum Beispiel die türkischen Patienten, die hier aufgewachsen sind und die einen kulturellen Konflikt mit den Eltern und den Großeltern haben. Sie werden nicht damit fertig, wenn die Eltern sich nicht europäisch geöffnet haben, sondern auf ihren traditionellen, religiösen Lebensweisen bestehen. Das Problem wird riesig werden: z. B. die Kosovo-Albaner. Die sind traumatisiert worden in den Kriegen und wenn sie dann auch noch Sprachprobleme haben, geht kaum etwas. Wir haben weder im Klinikbereich noch im niedergelassenen Bereich fachkompetentes medizinisches Personal, das diese Probleme aufgreifen könnte. Sie sind alleine gelassen. Ich versuche es in meiner Praxis mit Kindern, die dann übersetzen, das funktioniert aber nicht. Also werden die Patienten nicht behandelt.

Manfred Mayer: Bei nicht deutsch sprechenden Migranten ist das ein Problem. Das andere ist die Bildung. Wie viel Verständnis für den Körper ist überhaupt da, gibt es ein Wissen oder eine Ahnung, dass auch eine Seele krank sein kann? Und dass man die Seele auch „behandeln” kann? Ist Verständnis dafür da, dass eine Belastungssituation krank machen kann? Wir haben in Deutschland in der ersten Generation sicherlich nicht die Migranten aus der Türkei bekommen, die hohe Schulbildung genossen haben, teilweise waren es ungelernte Arbeiter ohne Schulabschluss. Wir haben nicht die Möglichkeit, allein mit der Sprache an diese Menschen heranzukommen. Wir brauchen auch nonverbale Therapieformen.

Eine wichtige Erfahrung war für Sie in der letzten Zeit die Teilnahme an einer Studie der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg, in der es um ein hausärztlich orientiertes Gruppentherapieangebot für Patienten mit somatoformen Störungen geht. Vielleicht können Sie erzählen, wie Sie darauf aufmerksam wurden, was in der Studie aus Ihrer Sicht wichtig war, was Sie mitgenommen haben?

Dirk von Moers-Messmer: Ich wurde von der Universitätsklinik angeschrieben. Kann sein, weil meine Praxis auch Weiterbildungspraxis für Allgemeinmedizin ist, so habe ich mich sofort dafür interessiert. Ich konnte am ersten Abend gar nicht teilnehmen, aber man hat mich dann trotzdem weiter angeschrieben. Positiv fand ich, dass die Teilnehmer erst mal über mehrere Monate geschult wurden, sehr gut geschult (vgl. a. Beitrag Schäfert et al. in diesem Heft). Dabei waren für mich die Rollenspiele besonders wichtig. Und dass ich dann mit meinen realen Patienten arbeiten konnte, im Rahmen dieser Gruppe. Ich hatte das Glück, dann auch in die Interventionsgruppe gewählt zu werden. Ich habe viel Handwerkzeug mitbekommen, das mir heute jeden Tag die Arbeit in der Praxis erleichtert. Ich habe gelernt, mit meinen Patienten auf den Punkt zu kommen, gewisse Themen leichter anzusprechen und Patienten auch zu „manipulieren”, Krankheitseinsichten schneller zu „fördern”.

Manfred Mayer: Ich wurde auch angeschrieben. Da stand dann etwas über Psychosomatik in der Hausarztpraxis. Ich fand das spannend. Das Ganze war ja schon mit sehr viel Zeitaufwand verbunden und die haben wir ja nicht gerade im Überfluss. Ich habe mich trotzdem dafür entschieden. Die dafür investierte Zeit habe ich in der Zwischenzeit schon 10-mal, 100-mal zurückbekommen. Was habe ich mitgenommen? Z. B. mit dem Patienten ganz klar zu definieren, welche Ziele er erreichen will. Übliche Gespräche in der Sprechstunde laufen doch so: Der Patient kommt, trägt eine Klage vor, man sucht eine Lösung, schickt den Patienten wieder weg. Aber hier wird ein Verfahren vorgeschlagen, wie man mit dem Patienten zusammen seine Ziele und Wunschvorstellungen definiert und erarbeitet. Gezielt in wenigen Sitzungen, das ist das Gute an diesem Modell. Wir haben zehn Sitzungen mit der Patientengruppe und werden in dieser beschränkten Zeit ein Ziel erreichen können.

Was mich noch fasziniert hat: Wir tragen Psychosomatik in die Hausarztpraxis, zwar nur in einer kleinen Studiengruppe, aber vom Ansatz her wäre es möglich, wirklich viele Hausärzte mit diesem Verfahren vertraut zu machen und ihnen Unterstützung zu geben.

Ein wichtiger Punkt war auch das Zeitmanagement. Ich habe schon erzählt, dass für mich damals das Ende der Sprechstunde „open end” war, solange bis man glaubte an einem Punkt angekommen zu sein, an dem der Patient zufrieden war. Jetzt ist für mich ganz klar, dass ich die Zeit vorgebe. In dieser Zeit muss eine Lösung gefunden werden und die Patienten akzeptieren das. Für mich eine wertvolle Erfahrung. Ich habe daher keine feste Zeitvorgabe. Es gibt Patienten, die ich sehr gut kenne, und ich weiß, dass jetzt, wenn der Patient zur Tür hereinkommt, „eigentlich” etwa 30 bis 35 Minuten „fällig” sind, die ich nicht habe. Ich begrüße dann den Patienten und sage: „So, die nächsten 10 Minuten gehören uns beiden ganz allein.” Damit ist definiert, wie lange der Patient bei mir bleiben wird und er akzeptiert das. Damit haben wir eine klare Zeitvorgabe, in diesem Rahmen kann der Patient sich orientieren.

Können Sie Ihre Erfahrungen in der Studie schildern?

Dirk von Moers-Messmer: Wir wurden an acht Terminen geschult und dann war es so, dass ich zur Interventionsgruppe gehörte, die im Januar begonnen hat. Es sollten Patienten mit somatoformen Störungen aufgenommen werden, die dann ein Programm von zehn gruppentherapeutischen Sitzungen durchlaufen, das von einem ausgebildeten Psychotherapeuten und uns als Hausärzten in Ko-Therapie geleitet wurde.

Ich habe im November angefangen, meine Patienten zu screenen. Das sah so aus, dass ich mich abends hingesetzt habe und gesagt habe, o. k. welcher Patient scheint von deinen Patienten geeignet für die Gruppe. Ausschlaggebend für mich war, ob jemand auch alle zehn Abende durchziehen würde. Das müssen Patienten sein, auf die man sich verlassen kann, die auch kommen. Und da hatte ich so drei, vier. Ich habe sie auch gleich angerufen und gesagt, dass ich etwas ganz Spezielles für sie habe, das sie geschenkt bekommen, und dass das Einzige, was ich möchte, sei, dass sie mitmachten. Die Patienten habe ich abends einbestellt und ihnen erklärt, wie die Studie abläuft. Die anderen sechs kamen so nach und nach innerhalb von 14 Tagen. Da waren dann auch Patienten dabei, bei denen, wenn sie in die Praxis kommen, alle sagen: „O Gott, der schon wieder.” Ich habe sie angesprochen und sie waren mehr oder weniger gleich bereit, mitzumachen. Angst hatten die Patienten eigentlich nicht, außer, weil sie alle aus einem sehr kleinen Ort kommen, dass geklatscht wird. Das war die größte Angst. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht. Die zehn Abende, die ja immer gemeinsam mit einem Therapeuten am Uniklinikum gestaltet wurden, à 90 Minuten habe ich mittwochs gelegt, also privat auch ein bisschen dafür hergeben müssen. Man hat sich gegenseitig ergänzt. Sicherlich war es die erste Zeit so, dass ich eher weniger geredet habe, es war ein bisschen fremd. Nach der zweiten, dritten Sitzung wurde ich aktiver und konnte mich auch selbst in der Gruppe einbringen. Vorteil ist für mich gewesen, dass ich meine Patienten kenne und meine Patienten mich. Und so waren der Anfang und das Kennenlernen gar nicht so schwer.

Manfred Mayer: Die Patienten, von denen ich glaubte, dass sie sowohl somatisch als auch psychisch krank und „therapierbar” schienen, habe ich angeschrieben. Die meisten hatten abgesagt, die kamen dann nicht. Wer kam, waren Patienten aus der laufenden Sprechstunde. Diese Menschen habe ich angesprochen und mit wenig Aufwand und wenigen Worten erklärt, welche Chance sie jetzt haben, dass sie gemeinsam mit dem Therapeuten und dem Hausarzt in einer überschaubaren Zeit ihre Probleme besprechen können. Die Zielsetzung war da den Patienten noch nicht klar. Das war ja Aufgabe der Gruppe. Ich musste die Gruppe einbinden in eine Sprechstunde, die bis 19 Uhr geht. Die Gruppe kann aber nicht bis 21 Uhr gehen, also habe ich meine Tagessprechstunde an dem Tag gekürzt. Wer war in der Gruppe? Wir hatten fünf Nationalitäten, Deutsche, Iraner, Italiener, Türken, eine Portugiesin. Wie war die Erwartung der Patienten an die Gruppe? Unbestimmt, teilweise ängstlich. Was muss ich da erzählen? Was darf ich sagen?

Ich war zunächst einmal selber unsicher. Kann ich das schultern, also eine Gruppe von Patienten zusammenzustellen, die diesen Aufnahmekriterien entspricht? Kann ich gewährleisten, dass diese Patienten in der Gruppe bleiben, um die Studie auch zum Erfolg zu bringen?

Was ist aus den Patienten geworden?

Dirk von Moers-Messmer: Ich hatte zehn Patienten, der eine Patient ist nach vier Stunden ausgeschieden. Er war jetzt wieder bei mir in der Praxis und sagte, er habe viel gelernt in diesen vier Stunden und ihm sei klar geworden, dass er an sich arbeiten müsse, und er bitte um Hilfe eine ambulante Einzeltherapie zu finden. Insofern hat sich dies für ihn auch gelohnt. Zwei Patienten haben sich angefreundet, gehen einmal pro Woche Nordic Walking. Eine Inderin und eine Deutsche. Eine andere Patientin, eine Herzangstpatientin, hat einen Panikanfall zwei Wochen nach Ende der Sitzungen gehabt, an einem Wochenende, an dem keiner erreichbar war. Sie hat selbst aus der Panik herausgefunden mit Unterlagen, die wir der Patientin mitgegeben hatten. Eine dritte Patientin macht weiterhin progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen, was ihr sehr gut hilft, und hat gesagt, sie werde bis zur Rente durchhalten. Insofern nur positive Aspekte, was Ergebnisse und weiteren Verlauf angeht.

Manfred Mayer: Zunächst mal: Ich sehe sie weniger. Das muss nichts heißen, aber ich empfinde das als positiven Beweis für die Wirksamkeit der Gruppe. Um ein Beispiel zu nennen: Eine Patientin mit einer Angststörung, die in immer kürzeren Abständen zu uns kam: Seit der letzten Gruppe war sie nur einmal da, wegen eines anderen Problems. Eine andere Patientin, chronische Schmerzpatientin, hat aufgehört von Fachkollege zu Fachkollege zu reisen, hat sich entschieden, an sich zu arbeiten, also keine Suche nach neuen Erklärungsmodellen für ihre Schmerzen, sondern sie hat ihre Schmerzen angenommen.

Manchmal ging die Intervention anscheinend auch in eine weiterführende Psychotherapie über. Ihre kurze, „niedrigschwellige” Intervention könnte man als Erweiterung des bisherigen Konzeptes der psychosomatischen Grundversorgung verstehen. Hat ein solches Modell, das ja in Ihrem Fall durch eine Studie finanziert war, aus Ihrer Sicht eine Zukunft in unserem Versorgungssystem?

Manfred Mayer: Das Modell als solches mit seiner Effektivität wäre ein sehr wertvoller Teil des Versorgungssystems.

Ist es finanzierbar? Klares Nein. Die derzeitige Vergütung in Form eines Zuschlags von 30 Punkten für die psychosomatische Grundversorgung zu der Versichertenpauschale deckt sicherlich nicht die Zeitkosten für eine ärztliche Praxis. Ich kann mir andere Vergütungsmodelle vorstellen. Integrierte Versorgung gemeinsam mit den Therapeuten, die ja an dieser Sitzung beteiligt waren, so könnten wir eigene Gruppen anbieten. Dann wäre es sogar möglich, dieses Modell weiter auszubreiten, weg von der Universität zum Routineeinsatz.

Dirk von Moers-Messmer: Ich sehe es genauso. Es ist finanzierbar, es sollte finanzierbar sein. Es ist eine gute Sache, es ist ein neuer Ansatz, und meiner Meinung nach ist es auch so, dass diese Art, wie wir sie durchgeführt haben, Zukunft hat. Denn das, was an F-Diagnosen auf uns zukommen wird, werden die niedergelassenen Therapeuten auch im Klinikbereich nicht kompensieren können. Und da ist der Hausarzt gefragt. Es müssten Gelder bereitgestellt werden, in welcher Form auch immer, da ist der Gesetzgeber gefragt. Wir sind da und werden es tun, können es auch tun, das haben wir in der Studie bewiesen. Jetzt geht es darum, umzusetzen, was wir gelernt haben.

Vielleicht können Sie am Ende noch einmal sagen, was Sie für sich aus dieser Erfahrung der gemeinsamen Arbeit mit Forschungstherapeuten für die Arbeit mit somatoformen Patienten mitnehmen.

Manfred Mayer: Sehr positiv ist der jetzt deutlich sichere Umgang mit Patienten mit diesen Störungen. Deutlich ist auch geworden, dass diese Kooperation Psychotherapeut – Hausarzt sehr viele Vorteile bietet, gerade in einer solchen Kurzzeitintervention. Sie ist ein gutes Beispiel für eine kreative neue Lösung, die sicher weiterentwickelt werden kann, um Patienten mit psychosomatischen Beschwerden in noch breiterem Maße angemessen zu helfen.

Dirk von Moers-Messmer: Ich für mich muss sagen, dass ich diese Studie und die damit verbundene Fortbildung sehr gerne gemacht habe und dies mir das tägliche Arbeiten in der Praxis deutlich erleichtert hat. Ich kann heute gezielt meine Patienten fragen, ich kann auf sie eingehen. Ich kann Ziele definieren und den Patienten einen Rahmen geben, innerhalb dessen wir zusammenarbeiten können. Das, was ich in der Stunde gelernt habe, möchte ich gerne weiterführen.

Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und dafür, dass Sie uns an Ihren Erfahrungen teilhaben ließen.

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