B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2008; 24: S25-S27
DOI: 10.1055/s-2008-1076917
B & G SUPPLEMENT

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Kinder – Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn

K. Bös1
  • 1Institut für Sportwissenschaft, Universität Karlsruhe
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. September 2008 (online)

Kinder – gestern und heute

Was charakterisierte die frühere Kinderwelt, was hat sich in den letzten 20 Jahren verändert, was können wir für die Zukunft erwarten?

Die Kinderwelt früherer Generationen war geprägt vom Spiel mit Gleichaltrigen und von vielfältigen Aktivitäten im Freien ([Abb. 1]). Insbesondere in den ländlichen Gebieten ließ die Verkehrs- und Umweltsituation das unbegrenzte Spielen außerhalb der Wohnung und das Erproben motorischer Fertigkeiten beim Laufen, Springen, Werfen, Klettern und Radeln zu.

Abb. 1 Das Spiel mit Gleichaltrigen. (Foto: PhotoDisk)

In einer eigenen Umfrage zu den Spielmöglichkeiten im Freien stufen lediglich 34 % der heutigen Grundschulkinder diese als sehr gut und 11 % als schlecht ein. Die Generation der heute 30-Jährigen hat diesbezüglich bessere Erinnerungen an ihre Kindheit: Rückblickend beurteilen knapp 60 % von ihnen die Spielmöglichkeiten im Grundschulalter als sehr gut und nur 4 % als schlecht. Diese Beurteilungsunterschiede spiegeln sich auch im Verhalten wider. Heutzutage spielen 32 % der Grundschulkinder täglich draußen, vor 20 Jahren waren es noch 50 %.

Anstatt draußen herumzutoben, auf Bäume zu klettern oder durch Pfützen zu springen, vergnügen sich die Kinder von heute in den eigenen vier Wänden: Aus der Cowboy-und-Indianer-Welt ist eine Sitz- und Liegewelt vor dem heimischen Computer geworden ([Abb. 2]).

Abb. 2 Vor dem heimischen Computer. (Foto: MEV)

Claudia, 30 Jahre

Claudia, heute 30 Jahre, erinnert sich, dass es für sie im Grundschulalter lediglich vier TV-Programme gab und dass sie und ihre Freundinnen hart verhandeln mussten, um außer der „Sesamstraße” und der „Sendung mit der Maus” ab und zu noch eine weitere TV-Sendung sehen zu dürfen. Es gab keinen Fernseher im Kinderzimmer, allenfalls einen Kassettenrecorder und einen Walkman. Handy, Computer und Playstation waren entweder noch nicht erfunden oder nicht für jedermann verfügbar. Zu Hause gab es auch strenge Regeln zum gemeinsamen Essen. Claudia durfte nie ohne Frühstück, Trinkflasche und Vesperbrot aus dem Haus, und Fast Food gab es nur ganz selten. In Ihrer Grundschulzeit war Claudia viel draußen. In der ländlichen Umgebung, in der sie aufwuchs, konnten Kinder noch problemlos draußen spielen und sie war bis zum Alter von 14 Jahren Mitglied im Leichtathletikverein.

Jonas, 10 Jahre

Anders ist die Kinderwelt bei dem 10-jährigen Jonas. Das Poster von Dirk Nowitzky hängt zwar über dem Bett, aber der eigene Fernseher mit Kabelanschluss und die Spielkonsole sind selbstverständliche Bestandteile des Kinderzimmers. Hier kann man auch schon mal nachmittags fernsehen oder virtuell gegen Computermonster kämpfen, ohne dass es die Eltern merken. Die Eltern sind beide berufstätig, deshalb kann es schon mal passieren, dass er morgens ohne Frühstück aus dem Haus geht. Oft erhält Jonas Geld, um sich beim Bäcker für die Pause eine Cola und eine leckere Zwischenmahlzeit kaufen zu können. Er ist schon in der Computer AG, hat den alten PC seines Vaters bekommen und beherrscht die vielen Spiele, die er auf CD hat oder direkt aus dem Internet herunter lädt, so gut, dass die Erwachsenen keine Chance gegen ihn haben. Mit seinen Freunden verabredet er sich per Handy oft zu Spielparties, bei denen es so richtig abgeht. Natürlich ist Jonas auch Mitglied in einem Sportverein. Jetzt spielt er gerade Fußball, vorher war er schon im Tennisverein, im Turnverein und mit der Mama im Mutter-Kind-Schwimmen. Sport macht Spaß, ist ihm aber nicht so wichtig, und für das Spielen draußen bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. Sein Alltag hat nicht viel Leerlauf und er ist froh, wenn er alle seine zusätzlichen Verpflichtungen, von Musikunterricht bis Sportverein, geregelt bekommt.

Der Lebensstil von Kindern in den letzten 20 Jahren hat sich also gravierend verändert. Von körperlich aktiv zu passiv, von Outdoor zu Indoor, vom Spielplatz zum PC: mit diesen Gegensätzen lassen sich die Veränderungen einigermaßen zutreffend beschreiben.

Auch die sozialen Rahmenbedingungen haben sich verändert. Vor 20 Jahren hatte die Durchschnittsfamilie zwei Kinder. Diese haben einen Großteil ihrer Zeit also mit Geschwistern und Gleichaltrigen verbracht. Heute dagegen dominieren die Einkind-Familien, d. h. dass die meisten Kinder allein aufwachsen, zunehmend auch in unvollständigen Familien und unter einem stärkeren Einfluss von Erwachsenen. Hinzu kommt, dass die Eltern im Durchschnitt älter sind, was sich auch auf das Eltern-Kind-Verhalten auswirkt. Es ist davon auszugehen, dass 40-jährige Eltern tendenziell etwas weniger bewegungsaktiv und spontan sind als 30-jährige Eltern.

Es gibt eine ganze Reihe von Untersuchungen zu Motorik und Aktivität seit den 1980er-Jahren. Dabei wurde allerdings erst 2007 die Lücke einer fehlenden Baseline zu Gesundheit, motorischer Leistungsfähigkeit und körperlich-sportlicher Aktivität geschlossen. Im Rahmen des Nationalen Gesundheitssurveys des RKI (KIGGS) wurden deutschlandweit rund 17 000 und im Rahmen des Motorikmoduls (MoMo) rund 4 500 Kinder und Jugendliche ärztlich untersucht, befragt und getestet. Die Ergebnisse bestätigen eine Zunahme von Übergewicht sowie die Abnahme von körperlich-sportlicher Aktivität und motorischer Leistungsfähigkeit.

Heute sind prozentual wesentlich mehr Kinder im Sportverein als früher. Sie treten auch zwei Jahre früher in den Sportverein ein (Eintrittsalter heute im Durchschnitt 5,9 Jahre) als vor 20 Jahren (Eintrittsalter 7,8 Jahre). Allerdings entsteht dennoch wenig Bindung zu einer bestimmten Sportart oder einem bestimmten Verein, weil bereits im Grundschulalter die Sportart und der Verein schon häufig gewechselt werden. Heute haben 52 % der Grundschulkinder schon mal den Verein gewechselt, 15 % sogar zweimal und öfter. Vor 20 Jahren gab es 48 % Wechsler. Diese haben in der Regel allerdings nur einmal den Verein oder die Sportart gewechselt, nur 3 % haben das zweimal oder öfter getan.

Fataler als die Wechsel sind allerdings die frühen Vereinsaustritte. Die MoMo-Studie zeigt, dass der Höhepunkt der Vereinspartizipation bereits bei zehn Jahren erreicht ist. Ab zwölf Jahren ist der Prozentsatz der Sportvereinsmitglieder geringer als im Grundschulalter. Neue schulische Entwicklungen wie G8 und Ganztagesschule werden diesen Trend eher noch verstärken. Dennoch ist, insgesamt betrachtet, das Vereinsangebot gut, und die Mitgliedschaft bewegt sich auf einem hohen Niveau. Laut DOSB-Statistik sind im Alter von 7–14 Jahren 79 % der Jungen und 60 % der Mädchen Mitglied eines Sportvereins. 

Dass die motorische Leistungsfähigkeit trotzdem abnimmt, liegt an den oben beschriebenen Lebensstilveränderungen. Der organisierte Sport in Schule und Verein kann die fehlende Alltagsaktivität nicht kompensieren.

Abb. 3 Leistungsvergleich von Kindergenerationen.

[Abbildung 3] zeigt einen Leistungsvergleich von Kindergenerationen vor 30 Jahren mit heutigen Kindern im Standweitsprung. Danach hat die prozentuale Sprungweite um 14 % abgenommen. Ein genauerer Blick zeigt, dass die Leistungsabnahme im Grundschulalter geringer zu sein scheint als die Leistungsabnahme im Jugendalter (vgl. Bös u. a. im 2. Kinder- und Jugendsportbericht 2008 i. Dr.). Auch das spricht dafür, dass sich mit zunehmendem Lebensalter der passive Lebensstil immer stärker auswirkt.

Kinder sind heute auch übergewichtiger als früher. Der Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher ist von 10 auf 16 % angestiegen, dabei hat sich der Anteil der Adipösen von 3 auf 6 % sogar verdoppelt. KIGGS zeigt auch einen Anstieg von psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen, wobei Übergewicht und andere gesundheitliche Risiken v. a. bei Kindern aus sozial schwächeren Familien und von Migranten zunehmen.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. K. Bös

Institut für Sportwissenschaft · Uni Karlsruhe · Geb. 40.40

Kaiserstr. 12

76131 Karlsruhe

Telefon: 07 21 / 6 08 26 11

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