B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2008; 24: S11-S13
DOI: 10.1055/s-2008-1076921
B & G SUPPLEMENT

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Sport- und Bewegungstherapie aus biografischer Sicht

G. Hölter1
  • 1TU Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Lehrgebiet Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. September 2008 (online)

Meine berufliche Sozialisation war zunächst eine sportpädagogische, dann später eine sportpsychologische und psychotherapeutische, jeweils verbunden mit Lehr- und Forschungsaufgaben an der Deutschen Sporthochschule in Köln (1974–1977), an den Universitäten Bonn und Marburg (1978–1993) und seit 1993 an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund.

1976 wurde – zunächst als eine Art Interessenvereinigung – in Hamm der „Aktionskreis Psychomotorik” gegründet. Er verband die Ideen von mehr leibeserzieherisch-sportlich geprägten Gründungsvätern und -müttern wie E. J. Kiphard, G. Kesselmann und I. Schäfer mit Konzepten aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, u. a. durch den Psychiater H. Hünnekens und den klinischen Psychologen F. Schilling repräsentiert. Besonders im Hinblick auf Diagnostik und Therapie für die klinische Anwendung, später dann aber auch als Arbeitsprinzip in der Heil- und Sonderpädagogik, gewann die praxeologische Psychomotorik (wie ich sie 1998 zur Abgrenzung zum international gebräuchlichen Psychomotorikbegriff in der Kognitiven Psychologie bzw. zur Psychiatrie am Anfang des letzten Jahrhunderts genannt habe) in kurzer Zeit eine große Anerkennung [1]. Die Weiterverbreitung und Stabilisierung dieses Ansatzes erfolgte u. a. durch die zwei Fachzeitschriften „Motorik” und „Praxis der Psychomotorik” sowie durch die mittlerweile elf Fachschulen für Motopädie und durch den 1984 in Marburg gegründeten akademischen Aufbaustudiengang Motologie. Heute ist die Psychomotorik als eigenes Bewegungskonzept in der Vorschulpädagogik, der allgemeinen Pädagogik, der Sonderpädagogik und in der klinischen Arbeit mit Kindern und Erwachsenen allgemein anerkannt.

In der Anfangsphase des „Aktionskreises Psychomotorik” war eine Verbindung zu den damaligen Instituten für Leibesübungen bzw. später den sportwissenschaftlichen Instituten eher randständig. Dennoch gehörten seit Ende der 1970er-Jahre eine Reihe von renommierten Sportwissenschaftlern, z. B. Gudrun Doll-Tepper (heute u. a. Vorstandsmitglied des DOSB und Professorin an der FU Berlin), Hermann Rieder (u. a. ehemaliger Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft in Köln und Emeritus des Sportwissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg) sowie Sigrid Dordel (u. a. Dozentin an der Sporthochschule Köln und Repräsentantin des Kompensatorischen Schulsports) frühzeitig zu Mitgliedern und Unterstützern der Psychomotorik. Die Genannten waren später ebenfalls Mitglieder des DVGS, der sein anfängliches Profil v. a. durch den Aufbau von Herzsportgruppen gewonnen hatte.

Im Gründungsjahr des DVGS, 1983, studierte ich mit einem Forschungsstipendium der DFG in Los Angeles. Ich interessierte mich dort besonders für den Zusammenhang zwischen Bewegung und psychischer Entwicklung und fand in dieser Hinsicht professionelle Anregungen in dem MA-Studiengang Dance / Movement-Therapy an der Loyola Marymount University. Dort unterrichteten v. a. Bewegungsfachfrauen, die gleichzeitig über langjährige klinische Erfahrungen als Psychotherapeutinnen verfügten. Sie öffneten mir die Augen für eine „Psycho-Motorik”, die so in Deutschland nicht bekannt war. 

Es handelte sich hierbei um eine Verbindung von Bewegungstheorien und ihrer Praxis zu (tiefen-) psychologischen Persönlichkeits- und Entwicklungstheorien mit einer psychotherapeutisch geprägten Behandlungspraxis. Beispielgebend waren hierzu u. a. die Arbeiten der ehemals aus Österreich stammenden Psychiaterin J. Kestenberg, die das Bewegungsbeobachtungssystem von Laban mit der Freudschen Entwicklungstheorie verband. 

Mit diesem „Ausbildungsgepäck” bekam ich 1984 einen Lehrstuhl für Motopädagogik und Mototherapie im Aufbaustudiengang Motologie in Marburg. Dort traf ich zum einen auf Studierende mit einem Diplom- oder Staatsexamensabschluss in Sport, darunter auch einige, die während des Studiums in Köln, Heidelberg, München oder Saarbrücken schon Herzsportgruppen betreut hatten; zum anderen lehrten an der dortigen Universitätsklinik u. a. die renommierten Psychiater und Psychoanalytiker W. Blankenburg und M. Pohlen, die mir in ihren klinischen Abteilungen erlaubten, meine in den USA gewonnenen Erfahrungen auf deutsche Patienten zu übertragen.

Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus das Konzept einer Mototherapie für Erwachsene [2], das schon damals genauso gut Klinische Bewegungstherapie oder Sport- und Bewegungstherapie hätte heißen können. Während dieser Zeit war der Austausch mit den in der Sportwissenschaft in diesem Bereich tätigen Kollegen, v. a. H. Deimel in Köln und dem mehr als Mentor wirkenden H. Rieder in Heidelberg, nie abgerissen. Mittlerweile hatte sich der DVGS Ende der 80er-Jahre soweit entwickelt, dass über den Herzsport hinaus andere klinisch relevante Gruppen in den Blick genommen wurden. Meine Verbindung zum Verband bestand zu dieser Zeit v. a. darin, dass ich mehrere Jahre lang Mitglied der sog. Zulassungskommission war. In dieser Kommission ging es im Wesentlichen darum, die Ausbildungscurricula für unterschiedliche Krankheitsbilder zu prüfen und zu entscheiden, welche Ausbildungsstätten hierfür eine Ausbildungszulassung bekommen sollten. Ein für mich besonders interessantes „Nebenprodukt” dieser Tätigkeit war neben der Begegnung mit anderen Fachkollegen die Auseinandersetzung um folgende zwei Fragen:

Wie akademisch soll eine Sporttherapie sein? Ist die enge Bindung an den Sportbegriff günstig, um ein eigenständiges Berufsprofil in Prävention und Versorgung auf die Dauer zu entwickeln?

In der ersten Frage wurde – nicht mit einem einheitlichen Votum – entschieden, Fachschul- und Fachhochschulabsolventen den Erwerb der Bezeichnung Sporttherapeut zu ermöglichen. Aus heutiger Sicht brachte dies auf der einen Seite den Vorteil, dass sich die Idee der Sporttherapie verbreiterte. Der Nachteil war und ist, dass sich das Berufsbild (u. a. repräsentiert durch die Höhe der Bezahlung) nicht einheitlich „verkaufen” lässt. Dies ist z. B. bei körperpsychotherapeutischen Zusatzausbildungen auf der Basis eines Diplomabschlusses in Psychologie anders.

In der zweiten Frage, der Bindung an den Sportbegriff – was ja nicht nur eine terminologische Spitzfindigkeit war –, hat sich ein Wandel in Richtung Bewegungstherapie (vgl. den jetzigen Zeitschriftentitel „Bewegungstherapie und Gesundheitssport”) vollzogen. Ich habe mich immer für die Bezeichnung „Bewegungstherapie” eingesetzt, v. a. auch deshalb, um das Gemeinsame vieler unterschiedlicher körper- und bewegungsorientierter therapeutischer Ansätze nach außen hin deutlich zu machen, aber auch, um eine Abgrenzung zu der öffentlichen Wahrnehmung und Interpretation des Sports vorzunehmen. Mein persönlicher Beitrag zur Verhinderung einer weiteren Zersplitterung war, die Marburger Motologen als Vertreter einer akademischen Psychomotorik an einem gemeinsam getragenen Ausbildungskonzept des DVGS für den Bereich Psychiatrie, Psychosomatik und Sucht zu beteiligen. Dieses Curriculum ist bis heute mit einigen Erweiterungen und Variationen gültig.

Rückblick und Zukunft sind in meiner Wahrnehmung in den letzten 25 Jahren eng miteinander verwoben. Nach einer herzsportlich physiologisch geprägten Gründungsphase öffnete sich der damalige Sporttherapeutenbund für andere Adressatengruppen und auch für andere theoretische Begründungsmodelle und Interventionsformen. Eine ähnliche Entwicklung hatte ein paar Jahre vorher die ursprünglich in Kinder- und Jugendpsychiatrie geprägte Psychomotorik durchgemacht. Ich gehörte in beiden Verbänden eher zu der sportpädagogisch und psychotherapeutisch geprägten „Fraktion”, und in dieser Hinsicht traf ich in der Psychomotorik weniger, im DVGS mehr auf Skepsis. In der Psychomotorik hat sich in den letzten zehn Jahren ein enormer Wandel in Richtung auf eine Psychologisierung vollzogen, sodass hier eher wieder an die Sport- und Bewegungsgrundlagen zu erinnern ist.

Für die Sport- und Bewegungstherapie erlebe ich eher eine Spaltung: Es existiert auf der einen Seite ein vermeintlich medizinisch sicheres Terrain, das sich auch durch die schon früh geäußerten Befunde zur Bedeutung psycho-sozialer Determinanten bei Herzerkrankungen (vgl. [3] [4]) in seiner funktionellen Grundsicht nicht erschüttern lässt.

Auf der anderen Seite wächst die Einsicht, dass eine Reihe von Erkrankungen mit einer großen Relevanz für die Gesundheit der Bevölkerung schwer mit einem physiologischen Grundmodell in Einklang zu bringen ist. Hierfür bedarf es andere psycho-sozial und psychologisch geprägte Erklärungstheorien sowie andere Kompetenzen seitens der Therapeuten.

Für die Zukunft sehe ich zwei Entwicklungsperspektiven der Sport- und Bewegungstherapie in Deutschland:

Die Sport- und Bewegungstherapie könnte sich auf die adjunktive Behandlung medizinisch definierter Erkrankungen im engeren Sinne beschränken und in dieser Hinsicht neue Spezialisierungen und Berufsfelder erschließen. Mein Wunsch für die Zukunft wäre ein anderer, und hier beschränke ich mich zunächst auf den Adressatenkreis der Menschen mit psychischen Erkrankungen, den ich einigermaßen überblicke: In der Prävention und auch in der Nachsorge sind für solche Gruppen gut ausgebildete Sportlehrer mit Kenntnissen psycho-sozialer Determinanten dieser Erkrankungen von Nöten, die nicht Psychotherapeuten sein müssen, sondern die in der Lage sind, eine Stärkung der vorhandenen Ressourcen in den Blick zu nehmen.

Für eine Behandlung im engeren Sinne stelle ich mir eine Klinische Bewegungstherapie vor, in der sich unterschiedliche Berufsgruppen, sei es sport- und bewegungswissenschaftlicher, psychotherapeutischer oder medizinisch geprägter Art, zusammenfinden und je nach therapeutischen Erfordernissen tätig werden. Geht es um eine allgemeine Aktivierung und Rehabilitation körperlicher Erfahrungen in einem mehr übungszentrierten Sinne, dann ist ein eher sportwissenschaftlich oder physiotherapeutisch geprägter Akzent gefragt. Stehen neue Erfahrungen mit Bewegung oder in der Gruppe in einem erlebniszentrierten Sinne im Vordergrund, dann ist hier ein gruppenpädagogisch gut ausgebildeter Bewegungstherapeut notwendig. Geht es um die individuelle Erarbeitung von Konflikten und Problemlagen, die sich somatisch äußern, dann muss der Akzent eher ein psychotherapeutischer sein. Dass sich diese Kompetenzen in einer Person vereinen, wird eher selten sein. Gelingt es jedoch, unter der einheitlichen Fachbezeichnung „Klinische Bewegungstherapie” unterschiedliche Kompetenzen in einem Team im gegenseitigen Respekt und nicht als Konkurrenzveranstaltung zusammenzuführen, dann wäre dies ein enormer Fortschritt für das Anliegen, der menschlichen Bewegung in ihren vielfältigen Facetten als Heilmittel einen größeren Stellenwert in der Gesellschaft zu verschaffen.

Literatur

  • 1 Hölter G. Entwicklungslinien der Psychomotorik im deutschsprachigen Raum.  Motorik. 1998;  21 (2) 43-49
  • 2 Hölter G. Mototherapie für Erwachsene. Sport, Spiel und Bewegung in Psychiatrie, Psychosomatik und Suchtbehandlung. Schorndorf: Hofmann; 1993
  • 3 Siegrist J. Lehrbuch der medizinischen Soziologie. 3. Aufl. München: UTB; 1977
  • 4 Knobloch J. Wahrnehmung kardiovaskulärer Prozesse und Gesundheit. München: Profil; 1990

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. G. Hölter

TU Dortmund · Fakultät Rehabilitationswissenschaften · Lehrgebiet Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung

Emil-Figge-Str. 50

44227 Dortmund

Telefon: 02 31 / 7 55 45 54

eMail: gerd.hoelter@tu-dortmund.de

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