B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2008; 24: S28-S33
DOI: 10.1055/s-2008-1076925
B & G SUPPLEMENT

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Prävention im gesetzlichen Krankenkassensystem – gestern, heute, morgen

F. Schweiger1
  • 1ACSM-Ingolstadt, Internationale Niederlassung des ACSM am Klinikum Ingolstadt – Institut für physikalische und rehabilitative Medizin
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 September 2008 (online)

Entwicklung der präventiven Gesundheitsförderung im Rückblick

Abhängig von politischen Gegebenheiten und Lobbyismus wurde Prävention als Aufgabe der Krankenkassen ganz unterschiedlich definiert. Vor genau 125 Jahren wurde die Sozialversicherung geboren. Der deutsche Sozialstaat, der in seiner heutigen Ausprägung das Resultat der Bismarckschen Sozialgesetzgebung aus dem Jahr 1883 darstellt, machte sich u. a. die soziale Absicherung der Hilfsbedürftigen zum Ziel. Damals richtete Kaiser Wilhelm I. eine Botschaft an den Reichstag, die eine umfassende Gesetzgebung zur sozialen Sicherung der Arbeitnehmer einleitete. Soziale Sicherung als staatliche Aufgabe – das war weltweit neu. Der Weg zum sozialen Staat begann.

Das deutsche Gesundheitssystem ist – trotz mehrjähriger Anstrengung der Politik für ein verbessertes Instrumentarium gegen Qualitätsmängel und Verschwendungen – von mittelfristig fortbestehenden, ernst zu nehmenden Finanzierungsrisiken der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bedroht [34] . Vor dem Hintergrund der globalen ökonomischen Strukturkrise Anfang der 1970er-Jahre erfolgte in der Bundesrepublik eine gesundheitspolitische Neuorientierung. Diese Trendwende wurde bereits 1977 mit dem Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz der sozial-liberalen Regierung unter Bundeskanzler Schmidt eingeleitet.

Mit dem anhaltenden Anstieg der GKV-Ausgaben ab 1984 sah sich die Bundesregierung gezwungen, erneut kostendämpfend einzugreifen. Durch das am 01.01.1989 in Kraft getretene Gesundheitsreformgesetz (GRG) wurde die Gesundheitsförderung gemäß § 20 SGB V erstmals als Kassenleistung von der Sozialpolitik eingeführt und mit den Erprobungsregeln des § 67 SGB V Möglichkeiten für innovative Experimente an die Hand gegeben. Mit dem Auftrag an die gesetzlichen Krankenkassen, gesundheitsfördernde Maßnahmen durchzuführen, war die Basis für eine mögliche Entwicklung in der Gesundheitsförderung geschaffen. Gemäß § 1 Satz 1 SGB V in der Fassung vom 20.12.1988 heißt es hierzu: „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu verbessern.”

Bereits § 1 SGB V definiert für Krankenversicherungen eine dreifache Aufgabe:

Erhaltung Wiederherstellung Verbesserung der Gesundheit der Versicherten

Präventive Gesundheitsförderung kann im Sinne der Instrumentalfunktion betrachtet werden. Seewald und Plute [26] haben die breite rechtliche Fundierung von Präventionsaktivitäten der Sozialversicherungsträger herausgearbeitet und leiten hieraus eine Verpflichtung der Krankenkassen zur sog. Verhaltensprävention ab. Als Kernelement rechtlicher Kodifizierung der Präventionsaktivitäten von Krankenversicherungen kommt dem mehrfach geänderten § 20 SGB V dadurch ein zentraler Stellenwert für die primäre Prävention sowie für die Betriebliche Gesundheitsförderung zu.

Das Dilemma für die Krankenkassen bestand jedoch von Anbeginn darin, dass in einem Gesetzeswerk (GRG), das ausdrücklich auf verstärkten Wettbewerb und Konkurrenz unter den Kassen angelegt war, allein in dem Feld der Gesundheitsförderung an die Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit appelliert wurde.

Mit dem Gesundheitsreformgesetz 1989 im § 20 SGB V wurde auch die Grundlage für eine finanzielle Bezuschussung von Gesundheitsförderung durch Sport seitens der Krankenkassen geschaffen. Dies ermöglichte wiederum ein Gesundheitssportszenario, das durch ein vom politischen Prozess weitgehend ungestörtes friedliches Nebeneinander von Selbstprofessionalisierung der Krankenkassen einerseits und Kooperationsmodellen der Krankenkassen (kommerziellen Studios und Instituten, Sportvereinen, Landessportbünden und dem Deutschen Sportbund) andererseits gekennzeichnet war [24]. Die Angebote in den Sportvereinen und Sportverbänden wurden dabei von Sponsoren, aber auch von den Krankenkassen finanziell unterstützt [20].

Das hatte zur Folge, dass in verschiedenen Bereichen, zunächst bei kommerziellen Anbietern, Krankenkassen sowie in Kommunen und letztendlich auch bei Sportorganisationen und in Vereinen, gesundheitsfördernde Strukturen gebildet wurden. Die Gesundheitsförderung hat viele Menschen in Vereine, Volkshochschulen und Fitness-Studios gebracht und zur Entstehung eines neuen Marktes und neuen Berufsfeldern geführt. So sind auch an fast allen großen Universitäten neue sportwissenschaftliche Studiengänge für Prävention und Gesundheitsförderung entstanden, deren Absolventen in den darauffolgenden Jahren gute Arbeitsplatzchancen hatten [8].

Mit dem Wechsel der Verantwortung für die GKV vom Ministerium für Arbeit und Soziales zum neu strukturierten Bundesgesundheitsministerium wurde die Gesundheitsförderung im Rahmen des Beitragsentlastungsgesetzes 1996 wieder aus dem Pflichtkatalog der Kassen herausgenommen. Begründet auf dem Missbrauch präventiver Maßnahmen zu Marketingzwecken und daraus resultierenden hohen Kosten, verabschiedete der Deutsche Bundestag am 13.09.1996 eine sehr restriktive Neuverfassung des § 20 SGB V. Inhaltlich wurde das mit dem durch das Gesundheitsstrukturgesetz von 1993 neu etablierten Kassenwettbewerb und den daraus resultierenden, zunehmend mehr markt- als fachorientierten Angeboten der Gesundheitsförderung durch die Krankenkassen begründet [29]. Ab 01.01.1997 durften die gesetzlichen Krankenkassen keine Aktivitäten zur allgemeinen Gesundheitsförderung und Primärprävention durchführen, sondern lediglich noch sekundär- und tertiärpräventive Maßnahmen gemäß § 43 Abs. 2 SGB V im Sinne von ergänzenden Leistungen zur Rehabilitation anbieten.

Literatur

  • 1 Affemann R. Gesundheitserziehung in der Schule. Stuttgart: Landesarbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung, Baden-Württemberg; 1989
  • 2 Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen .Weiterentwicklung der Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland. Vorstellung der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 22. Mai 2002
  • 3 Badura B, Grande G, Janssen H et al.. Qualitätsforschung im Gesundheitswesen. Weinheim: Juventa; 1995
  • 4 Brehm W, Pfeifer K. Qualitätssicherung im Gesundheitssport. Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaften (dvs). „Kommission Gesundheit” – Jahrestagung 2000.  Gesundheitssport und Sporttherapie. 2000;  5 159
  • 5 Balz E. „Gesundheitssport” – ein Unwort.  Sportwissenschaft. 1993;  23 308-301
  • 6 Becker E, Brux A. Zur Definition von „Gesundheitssport”.  Sportwissenschaft. 1993;  23 312-314
  • 7 Bös K, Brehm W. Gesundheitsförderung Erwachsener im Erwerbsalter durch sportliche Aktivierung in der Kommune und im Betrieb. Grundlagen, Ist-Analysen, Programmentwicklung und Evaluationskonzepte.  Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften. 1995;  3 (1) 51-73
  • 8 Bös K. Brief der dvs-Kommission Gesundheit zur geplanten Streichung des § 20 des SGB V an den Bundesminister für Gesundheit. Gesundheitsförderung im und durch Sport – Aktuelle Standpunkte. dvs-Informationen. 1996; 3, 51.BMGS 2003
  • 9 Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation; WHO). 2008. Internetzugriff am 10.06.08. unter www.deutsche-rentenversicherung-bund.de
  • 10 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2001
  • 11 Diebschlag W. Von der reaktiven zur aktiven Gesundheitsförderung – Welchen Beitrag kann die Arbeitsmedizin und Arbeitswissenschaft leisten?.  Gesundheitssport und Sporttherapie. 1998;  2 37-40
  • 12 Drupp M. Gesundheitsförderung durch Krankenkassen. In: Walter U, Drupp M, Schwartz FW (Hrsg.): Prävention durch Krankenkassen. Weinheim: Juventa; 2002: 24–39
  • 13 Gesundheitsministerkonferenz der Länder 2004. Presseinformation auf der Webseite der Gesundheitsministerkonferenz der Länder. Internetzugriff am 19.08.04 unter www.gmkonline.de/index.php?PHPSESSID=68ef3e1bd02f68d25d151578ff797e63&nav=presse&id=77_8.4
  • 14 Gemeinsame und einheitliche Handlungsfelder und Kriterien der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Umsetzung von § 20 Abs. 1 und 2 SGB V. Spitzenverbände der Krankenkassen; 2001
  • 15 Grossmann R, Scala K. Gesundheit durch Projekte fördern. Weinheim: Juventa; 1996
  • 16 Knoll M. Sporttreiben und Gesundheit. Schorndorf: Hofmann; 1997
  • 17 Kolb M. Gesundheitsförderung im Sport.  Sportwissenschaft. 1995;  25 (4) 335-359
  • 18 Lagerstrøm D. Wellness – Perspektiven für einen Panoramawechsel.  Gesundheitssport und Sporttherapie. 2001;  5 175-181
  • 19 Münnich F E, Oettle K (Hrsg.). Ökonomie des technischen Fortschritts in der Medizin. Gerlingen: 1984
  • 20 Opper E. Soziale Indikatoren, sportliche Aktivität und Gesundheit. In: Bös K, Brehm W (Hrsg.): Gesundheitssport. Hofmann: Schorndorf; 1998: 63–81
  • 21 Pahmeier I. Bindung an Gesundheitssport. Eine Rahmenkonzeption und empirische Untersuchung zu Merkmalen für Abbruch und Bindung im Gesundheitssport unter Berücksichtigung der sportbezogenen Selbstwirksamkeit. [Habilitationsschrift] Universität Bayreuth: Universität Bayreuth; 1999
  • 22 Rosenbrock R. Wege zu einer effektiven Prävention. In: Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung e. V. (Hrsg.): 40 Jahre Gesundheitserziehung in der Bundesrepublik Deutschland: Rückblick – Ausblick – Perspektive. Bonn: B & T; 1989: 41–54
  • 23 Rossi P H, Freemann H E, Hofmann G. Programm Evaluation. Stuttgart: Enke; 1988
  • 24 Rütten A. (1998). Sportliche Aktivität und öffentliche Gesundheit (Publik Health). In: Bös K, Brehm W (Hrsg.): Gesundheitssport. Hofmann: Schorndorf; 1998: 52–62
  • 25 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Gutachten 2000 / 2001. Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Bd. I. Zielbildung. Prävention. Nutzerorientierung und Partizipation. Bonn / Berlin; 2001
  • 26 Seewald O, Plute G. Rechtliche Grundlagen der Gesundheitsförderung für Krankenversicherungs- und Unfallversicherungsträger. In: Müller R, Rosenbrock R (Hrsg.): Betriebliches Gesundheitsmanagement, Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung – Bilanz und Perspektiven. Sankt Augustin. Asgard; 1998: 62 ff
  • 27 Schmidt U. Neuausrichtung der Prävention. Die Krankenversicherung. 2002; März: 75–78
  • 28 Schlicht W. Sport und Primärprävention. Göttingen: Hogrefe; 1994
  • 29 Schwartz W, Walter U (Hrsg.). Altsein – Kranksein?. In: Das Public Health Buch – Gesundheit und Gesundheitswesen. München: Urban & Fischer; 2002: 163–180
  • 30 Stuppard R. Neuausrichtung der Gesundheitssicherung. Von der kurativen zur präventiven Medizin.  Soziale Sicherheit. 2001;  8/9 1-7
  • 31 Temple G. Der Return on Investment ist da.  Gesundheit und Gesellschaft. 2001;  3 8 ff
  • 32 Uexküll T (Hrsg.). Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin. München: Urban & Schwarzenberg; 1979
  • 33 Wagner P. Aussteigen oder Dabeibleiben? Determinanten der Aufrechterhaltung sportlicher Aktivität in gesundheitsorientierten Sportprogrammen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; 2000
  • 34 Walter U, Schwartz W (Hrsg.). Prävention durch Krankenkassen – Auf dem Weg zu mehr Zielorientierung und Qualität. In: Walter U, Schwartz W, Drupp M, Schwartz FW (Hrsg.): Prävention durch Krankenkassen. Weinheim: Juventa; 2002: 15–23
  • 35 Walter U, Schwartz W, Drupp M , et al.. Prävention durch Krankenkassen. Weinheim: Juventa; 2002
  • 36 AOK Bayern Rundschreiben 2005 „Kurnachsorgekonzept bei Mutter / Vater-Kind-Maßnahmen”. Informationsdienst 3 / 126 / 2005. Internetzugriff am 10.08.2006
  • 37 WHO 2008. Internetzugriff am 10.08.2006 unter www.who.int/classifications/icf/site/icftemplate.cfm
  • 38 World Health Organisation: International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF. Geneva 2001
  • 39 World Health Organisation: International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH). Geneva 1980 (Weltgesundheitsorganisation: ICIDH. Berlin: Ullstein Mosby; 1995.)
  • 40 Woll A. Gesundheitsförderung in der Gemeinde – eine empirische Untersuchung zum Zusammenhang von sportlicher Aktivität, Fitness und Gesundheit bei Personen im mittleren und späteren Erwachsenenalter. Neu-Isenburg: Lingua Med; 1996

Korrespondenzadresse

F. Schweiger

(Masters of Science in Bewegungswissenschaften – University of North Texas)
ACSM Workshop- und Certification Director · ACSM-Ingolstadt, Internationale Niederlassung des ACSM am Klinikum Ingolstadt – Institut für physikalische und rehabilitative Medizin

Krumenauerstr. 25

85049 Ingolstadt

Phone: 01 72 / 7 76 68 96

Email: info@acsm-ingolstadt.de

    >