B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2008; 24: S22-S24
DOI: 10.1055/s-2008-1076926
B & G SUPPLEMENT

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Messen und Testen in der Sporttherapie

G. Wydra1
  • 1Sportwissenschaftliches Institut der Universität des Saarlands
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. September 2008 (online)

Messen und Testen sind sowohl aus handlungstheoretischer als auch aus kybernetischer Sicht unverzichtbar, um zielgerichtet handeln zu können. Die sog. TOTE-Einheit (Test-Operate-Test-Exit) der Handlungstheorie [10] stellt die elementarste Einheit jeder Handlung dar. Keine Heizung, kein Kühlschrank und kein biologisches System arbeitet ohne Sensoren, die dem System Informationen über die zu regulierende Größe liefern [7]. Vor diesem Hintergrund sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass insbesondere im pädagogischen und erst recht im therapeutischen Milieu Testverfahren zur täglichen Routine gehören. Die Realität in Sport und Gesundheitssport und Sporttherapie wird jedoch durch eine weitestgehende Testabstinenz geprägt. Dass wir heute nicht in der Lage sind, wissenschaftlich gesichert sagen zu können, ob sich die Fitness von Kindern und Jugendlichen in den letzten drei Jahrzehnten tatsächlich in dem Maße verschlechtert hat, wie es von einigen Autoren angenommen wird [2], liegt auch daran, dass es bisher nicht gelungen ist, ein einheitliches Testsystem für die Schulen auf den Weg zu bringen. Die derzeitige Initiative der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft zur Implementierung eines einheitlichen Fitnesstests ist deshalb nur zu begrüßen. Wenn in der Vergangenheit in der Praxis des Gesundheitssports und der Sporttherapie keine große Testeuphorie festzustellen war, so liegt das sicherlich in hohem Maße an der allgemeinen Testabstinenz im Sport.

Das Thema „Messen und Testen” war von Anfang an ein fester Bestandteil des Curriculums Sporttherapie des Deutschen Verbandes für Gesundheitssport und Sporttherapie (DVGS). Und auch in den „Grundlagen der Sporttherapie” von Schüle und Huber [11] fehlen entsprechende Kapitel nicht.

Diagnostik insbesondere im therapeutischen Bereich darf niemals Selbstzweck sein, sondern sollte in einem bestimmten Verwertungszusammenhang durchgeführt werden. Für den Therapiebereich bedeutet dies, dass die diagnostischen Daten zur Steuerung der Behandlungsstrategie verwendet werden sollten. Abschließendes Ziel der therapiebezogenen Diagnostik stellt eine Entscheidung über die Auswahl einer Behandlungsmethode dar. Dieser Entscheidungsprozess wird als Indikation bezeichnet. Diagnostik und Indikation zu einer Behandlungsmethode bilden eine Einheit und bedingen sich gegenseitig. Um zu therapiebezogenen Informationen zu gelangen, ist es notwendig, Informationen über den Patienten zu erhalten, die in einem direkten Zusammenhang mit der geplanten Therapie stehen. Diagnose, Indikation und Behandlung sind Bestandteil jedes therapeutischen Handelns.

Schon 1992 haben Bös, Wydra und Karisch eine umfassende sequenzielle Diagnosestrategie für den Bereich der Sporttherapie einer Reha-Klinik vorgestellt. Am Anfang der sequenziellen Diagnosestrategie ([Abb. 1]) steht die medizinische Diagnostik, deren Anliegen in der Bestimmung der Art und Schwere des Krankheitsgeschehens besteht. Aufgrund der Art und Schwere des Krankheitsgeschehens kann der Arzt eine Entscheidung für oder gegen die Anwendung bestimmter Therapiekonzepte vornehmen. Da krankheitsbezogene Informationen oftmals keine direkte Relevanz für die Gestaltung bewegungstherapeutischer Programme besitzen, müssen diese Informationen um bewegungsbezogene Daten ergänzt werden. So lässt die Diagnose „Zustand nach Herzinfarkt” noch keine Aussage über die Belastbarkeit im Rahmen sporttherapeutischer Programme zu. Angaben zur symptomlimitierten Leistungsfähigkeit (Watt / kg Körpergewicht bei der Fahrradergometrie) hingegen präzisieren die Diagnose auf der Ebene der impairments um Informationen auf der Ebene der disabilities bzw. des functioning.

Abb. 1 Sequenzielle Diagnosestrategie für den Gesundheitssport [13, S. 101].

Auf der zweiten Stufe der sequenziellen Diagnosestrategie steht ein Screening-Test (Motorische Basisdiagnostik), dessen Ziel die Aufdeckung von motorischen Auffälligkeiten ist. Auf der Basis dieser Informationen ist eine Aussage über die Sporttauglichkeit der Patienten möglich. Patienten mit motorischen Auffälligkeiten werden mithilfe weitergehender spezieller motorischer Diagnoseverfahren untersucht, um den Schweregrad der motorischen Auffälligkeit zu bestimmen. Auf der Basis dieser Informationen ist eine Aussage über die Indikation zu sportbezogenen Methoden zur Therapie der motorischen Auffälligkeiten möglich [13].

Während in den 1990er-Jahren kaum Anfragen an die Autoren wegen der Testdurchführung gerichtet wurden, erhöhten sich die Anfragen seit der Jahrtausendwende. Durch den Druck des Gesetzgebers, Maßnahmen zur Qualitätssicherung durchzuführen, wuchs auch bei den Therapeuten vor Ort das Bedürfnis nach adäquaten praxisorientierten, den wissenschaftlichen Gütekriterien genügenden Testverfahren.

Während vor drei Jahrzehnten, als die ersten Sporttherapeuten in den Kliniken tätig wurden, so gut wie keine speziellen sporttherapiebezogenen Diagnoseverfahren zur Verfügung standen, kann heute doch auf eine Vielzahl von Verfahren zurück gegriffen werden. Ein Überblick findet sich im Testhandbuch von Bös [3] und auch in der Datenbank des Instituts für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation (IQPR, [9]). Einen weiteren Überblick bot die Jahrestagung der Sektion Gesundheit der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft im Jahr 2004 in Saarbrücken, die unter dem Titel Assessmentverfahren stand [14].

Unter einem Assessment versteht man einen multidimensionalen und interdisziplinären diagnostischen Prozess mit dem Ziel, die medizinischen, psycho-sozialen und funktionellen Probleme und Ressourcen eines Patienten zu erfassen und einen umfassenden Behandlungs- und Betreuungsplan zu entwickeln. Darüber hinaus sollen Assessmentverfahren, dadurch, dass sie die Behandlungseffekte oder Outcomes auf eine möglichst objektive und überprüfbare Basis stellen, einen Beitrag im Rahmen der Evidenced Based Medicine leisten [1] [8]. Von Assessmentverfahren sollte nur gesprochen werden, wenn sie in ein Gesamtsystem von diagnostischen Maßnahmen eingebettet sind. Sinnvoll erscheint es, die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der WHO für solche Betrachtungen heranzuziehen. Ein Instrumentarium, das in diesem Sinne versucht, Gesundheit mehrdimensional zu erfassen, stellt beispielsweise der Fragebogen „Indikatoren des Reha-Status” (IRES) dar [5]. Im internationalen Raum hat sich der SF-36-Fragebogen zum Gesundheitszustand [6] etabliert.

Gerade das Krankheitsfolgenmodell als auch die ICF machen deutlich, dass eine ganzheitliche Betrachtungsweise die sozialen Lebensbezüge des Menschen mit in den Blick nehmen muss. Wenn man davon ausgeht, dass es das Ziel bewegungsorientierter Maßnahmen in der Prävention und der Rehabilitation ist, über Bewegung, Spiel und vielleicht auch Sport einen Beitrag zur Gesundheit zu leisten, so müssen Fragen nach der körperlichen und eventuell sportlichen Aktivität und deren Veränderung im Rahmen von Therapieprogrammen gestellt werden [12].

Für die Bewegungstherapie besteht in der Zukunft die Aufgabe, adäquate Verfahren zu entwickeln, die dem umfassenden Charakter von Assessmentverfahren gerecht werden. Hierbei ist sowohl der Mehrdimensionalität von Gesundheit als auch der Verkettung von impairment, functioning und participation Rechnung zu tragen. Gerade die Berücksichtigung dessen, was ein Mensch noch kann (functioning) und der gesellschaftlichen Teilhabe (participation) eröffnet für bewegungsbezogene Strategien neue Wege. Gerade Aspekte des Wohlbefindens und der Fitness können mit Methoden der Bewegungstherapie hervorragend angegangen werden.

Um die Implementierung von Assessmentverfahren in der Bewegungstherapie zu gewährleisten, müssen die Anwender von der Notwendigkeit solcher Maßnahmen überzeugt werden. Der Gesetzgeber wird hier sicherlich ein Übriges tun. Hierbei ist der Tendenz entgegen zu wirken, hoch spezialisierte Verfahren zu bevorzugen, die einen hohen apparativen und personellen Aufwand erfordern. Für die Implementierung erscheint es günstiger, einfache, praktikable und testökonomische Verfahren (Screenings) zu entwickeln. Auch um der Gefahr von unbearbeiteten Datenbergen zu entgehen, sollte man sich von folgender Leitidee führen lassen: So viel testen wie nötig, aber so wenig wie möglich.

Die Entwicklung und Implementierung von Assessmentverfahren sollte sowohl für die Bewegungstherapeuten vor Ort als auch die Bewegungs- und Sportwissenschaftler als eine besondere Herausforderung angesehen werden.

Literatur

  • 1 Biefang S, Potthoff P, Schliehe F. Assessmentverfahren für die Rehabilitation. Göttingen: Hogrefe; 1999
  • 2 Bös K. Motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. In: Schmidt W, Hartmann-Tews I, Brettschneider WD: Erster Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Schorndorf: Hofmann; 2003: 85–107
  • 3 Bös K (Hrsg.). Handbuch Motorische Tests. Göttingen: Hogrefe; 2001
  • 4 Bös K, Wydra G, Karisch G. Gesundheitsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport. Erlangen: perimed; 1992
  • 5 Bührlein B, Gerdes M, Jäckel W H. IRES – Indikatoren des Reha-Status. In: Schumacher J, Klaiberg A, Brähler B (Hrsg.): Diagnostische Verfahren zu Lebensqualität und Wohlbefinden. Schorndorf: Hofmann; 2003: 180–183
  • 6 Bullinger M, Kirchberger I. SF-36 – Fragebogen zum Gesundheitszustand. In: Schumacher J, Klaiberg A, Brähler B (Hrsg.): Diagnostische Verfahren zu Lebensqualität und Wohlbefinden. Schorndorf: Hofmann; 2003: 276–279
  • 7 Hassenstein B. Biologische Kybernetik. Heidelberg: Quelle & Meyer; 1970
  • 8 Huber G. Sporttherapeutisches Assessment. In: Schüle K, Huber G (Hrsg.): Grundlagen der Sporttherapie. 2. Aufl. München: Urban & Fischer; 2004: 121–133
  • 9 Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation (GmbH) an der Deutschen Sporthochschule Köln (IQPR); 2004 .Online-Datenbank „Assessmentinstrumente”. Zugriff am 26. Dezember 2005 unter www.assessment-info.de/assessment/seiten/default.asp
  • 10 Nitsch J. Zur handlungstheoretischen Grundlegung der Sportpsychologie. In: Gabler H, Nitsch JR, Singer R (Hrsg.): Einführung in die Sportpsychologie. Schorndorf: Hofmann; 1986: 188–270
  • 11 Schüle K, Huber G (Hrsg.). Grundlagen der Sporttherapie. 2. Aufl. München: Urban & Fischer; 2004
  • 12 Welk G J. Physical activity assessments for health-related research. Champaign: Human Kinetics; 2002
  • 13 Wydra G. Eine problemorientierte Diagnosestrategie für die Sporttherapie. Prävention, ambulante und stationäre Rehabilitation. In: Schüle K, Huber G (Hrsg.): Grundlagen der Sporttherapie. 2. Aufl. München: Urban & Fischer; 2004: 99–108
  • 14 Wydra G, Winchenbach H, Schwarz M et al.. Assessmentverfahren im Gesundheitssport. Messen, Testen, Bewerten, Beurteilen. Hamburg: Czwalina; 2006

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. G. Wydra

Sportwissenschaftliches Institut der Universität des Saarlands

Postfach 15 11 50

66041 Saarbrücken

    >