Schlüsselwörter
Halswirbelsäule - Rückenmark - Halswirbelsäulenverletzung - Halsrückenmarkverletzung
- Halsrückenmarkstenose - Zervikalmyelopathie
Key words
cervical spine - spinal cord - cervical spine injury - cervical spinal cord injury
- cervical spinal canal stenosis - cervical myelopathy
Abkürzungsverzeichnis
ACCF:
Anterior Cervical Corpectomy and Fusion
ACDF:
Anterior Cervical Discectomy and Fusion
ASIA:
American Spinal Injury Association Impairment Scale
DTI:
Diffusion Tensor Imaging
ISP:
Intraspinal Pressure
MEP:
motorisch evozierte Potenziale
OLF:
Ossification of the Ligamentum flavum
OPLL:
Ossification of the posterior longitudinal Ligament
SCI:
Spinal Cord Injury
SCIWORET:
Spinal Cord Injury without radiological Evidence of Trauma
SCPP:
Spinal Cord Perfusion Pressure
SLIC:
Subaxial Cervical Spine Injury Classification
SSEP:
somatosensibel evozierte Potenziale
zRMV:
zervikale Rückenmarkverletzung
zSKS:
zervikale Spinalkanalstenose
Hintergrund
Die zervikale Rückenmarkverletzung (zRMV) ist eine extrem lebensqualitätseinschränkende,
komplikationsträchtige und kostenintensive Traumafolge. Betroffene Patienten und deren
Behandler kommen in der Akutsituation nicht selten in ein therapeutisches Dilemma,
das sich aufgrund der aktuell verfügbaren Datenlage zu den Behandlungsergebnissen
nur schwer auf hohem Evidenzniveau auflösen lässt. Die aktuelle AO-Spine-SLIC-Klassifikation
(SLIC: Subaxial Cervical Spine Injury Classification) sieht bei zusätzlich zur zRMV
vorliegender zervikaler Spinalkanalstenose (zSKS) den Verstärker „+“ (bei fortbestehender
Kompression neurogener Strukturen und inkompletter neurologischer Störung) sowie die
Modifikatoren „M2“ (bei relevanter Bandscheibenherniation) und „M3“ (bei OPLL und
OLF) vor [1]. Damit wird das negative prädiktive Potenzial einer begleitenden kompressionsrelevanten
degenerativen Spondylopathie bei der zRMV unterstrichen.
Mit der MRT existiert zwar ein Diagnostikum, welches über das Ausmaß einer zSKS und
den Umfang einer zRMV recht gut informieren kann. Jedoch lässt sich aus dem MRT allein
keine zweifelsfreie Behandlungsentscheidung ableiten. Diverse chirurgische Optionen
existieren für die zSKS und die zRMV, aber wir wissen weiterhin nicht mit hoher Sicherheit,
welche invasive Option zu welchem Zeitpunkt die beste ist. Die komplexen zellulären
und molekularen Veränderungen, die zu einer klinischen Verschlechterung einer zSKS
führen, sind ebenso wenig ausreichend verstanden, wie es die Erholungsmechanismen
nach einer Rückenmarkverletzung sind. Demzufolge sind auch die pathophysiologischen
Grundlagen für neuroprotektive Therapiekonzepte schwierig zu begründen und zu implementieren.
Der nachfolgende Übersichtsartikel soll die aktuellen Empfehlungen aus prospektiven
Studien und systematischen Reviews zusammenfassen.
Epidemiologie
Die zSKS ist in der erwachsenen Bevölkerung der westlichen Industrienationen weit
verbreitet, speziell mit zunehmendem Lebensalter (> 75% der > 65-Jährigen zeigen im
MRT eine zSKS). In den meisten dieser Fälle (speziell im Initialstadium) bestehen
jedoch erhebliche Diskrepanzen zwischen Bildgebung und neurologischer Symptomatik.
Nicht selten wird jedoch selbst asymptomatischen Patienten empfohlen, eine zSKS prophylaktisch
operieren zu lassen, da ein erhöhtes Risiko für eine unfallbedingte zRMV bestünde
(ca. 50% der SKS-Pat. werden vermutlich entsprechend beraten [2]). HWS-Verletzungen sind zwar eine typische Unfallfolge, die Häufigkeit einer zRMV
(in Zusammenhang mit Unfällen aller Art und Schwere) liegt jedoch bei unter 1% [2], [3]. In 10 – 15% der zRMV-Fälle finden sich keine Hinweise für knöcherne oder diskoligamentäre
Verletzungen, was als SCIWORET (Spinal Cord Injury without radiological Evidence of
Trauma) bezeichnet wird [4]. Circa ⅓ der SCIWORET-Fälle weisen jedoch eine zSKS auf [5], [6]. In Japan sind mittlerweile sogar 60% der zRMV-Fälle ältere Patienten mit zSKS ohne
Fraktur oder diskoligamentäre Verletzung [7], [8]. Die Inzidenz von Hospitalisierungen bei zRMV ist mit begleitender zSKS auf etwa
14 pro 1000 Personenjahre erhöht [9]. Das relative Risiko für eine zRMV bei begleitender Stenose ist zwar schwer detailliert
zu bestimmen, aber sicher höher als bei Personen ohne symptomatische zSKS (etwa 5-
bis womöglich 125-fach [10], [11], [12]). Jedoch ist das absolute Risiko nur sehr gering. Einer Studie von Takao et al.
folgend ließe sich somit nur bei 0,017% der Patienten mit zSKS eine zRMV durch eine
prophylaktische Dekompression verhindern [12]. Das entspräche einer Number-needed-to-treat von knapp 6000 Eingriffen. Die Häufigkeit
perioperativer Morbidität operativer Eingriffe zur Therapie der zervikalen spondylotischen
Myelopathie liegt bei etwa 14% mit einer Mortalität bei 0,3% [13], was eine Number-needed-to-harm von etwa 7 Eingriffen bedeuten würde.
Diagnostik und Prädiktoren für das Outcome
Bei der asymptomatischen zSKS stehen also das perioperative Risiko und der Profit
(im Sinne der Verhinderung einer zRMV) in einem massiven Missverhältnis zueinander.
Somit kann die asymptomatische zSKS auch nicht als signifikanter Negativprädiktor
für ein zRMV angenommen werden. Dennoch scheint es ganz offensichtlich Stenosen zu
geben, die zu einer zRMV disponieren. Die sichere Identifikation dieser Formen von
zSKS mit relevantem negativem Prädiktionspotenzial ist eine der bisher nicht gelösten
Aufgaben in der Diagnostik der zSKS.
Merke
Die Standarddiagnostik für die zSKS ist das MRT.
Sollte ein MRT nicht möglich sein, kann ersatzweise eine Myelografie mit Myelo-CT
der HWS helfen, um wenigstens am Abbruch des perimedullären Liquorsaumes eine medulläre
Kompression ableiten zu können. Welcher radiologische Parameter sich jedoch am besten
eignet, um Fälle mit hohem Gefährdungspotenzial für eine zRMV zu identifizieren, ist
unklar. Vielversprechend scheint die Bestimmung des SCOR (Spinal Cord Occupation Ratio)
zu sein, mit der die Größenverhältnisse von Myelon und verfügbarem freiem Spinalkanal
ins Verhältnis gesetzt werden. Bei einem Cord-Canal-Mismatch von > 70% (sagittal)
oder 80% (axial) steigt womöglich das Risiko für eine zRMV relevant an [14]. Prospektive randomisierte Studien zu diesem Grenzwert des SCOR liegen aber noch
nicht vor. Diskutiert wird zudem, ob sich auffällige 3-T-DTI-Befunde (DTI: Diffusion
Tensor Imaging) oder metabolitenfokussierte MRT-Wichtungen sowie bestimmte Biomarker
zukünftig in signifikante Korrelation zu einem höheren Risiko der neurologischen Verschlechterung
einer zSKS bringen lassen [15].
Nach einem HWS-Trauma ist die Standarddiagnostik zunächst nach aktuellen Empfehlungen
vorzunehmen [16], [17]. Bei einer Diskrepanz zwischen neurologischer Ausfallsymptomatik und im CT detektierbarer
knöcherner Verletzung empfiehlt sich immer ein HWS-MRT [18]. Dieses zeigt am besten das Ausmaß und die Lokalisation einer evtl. vorliegenden
begleitenden Stenose sowie den Umfang einer etwaigen Myelonläsion. Zudem deckt sie
am sichersten intraspinale Hämatome, medulläre Ödeme, Bandscheibenherniationen oder
sonstige Raumforderungen auf. Die MRT-Befunde haben nicht nur Einfluss auf die Wahl
des operativen Verfahrens (s. u.), sondern lassen in gewissen Grenzen wohl auch eine
Einschätzung der Prognose nach einer zRMV zu. Die Ausdehnung des Parenchymschadens
in der T2-Wichtung, der median-sagittale Durchmesser des Spinalkanals, das Ausmaß
der Verlegung des Spinalkanals sowie spezifische radiologische Parameter zur Bestimmung
der Stenose (z. B. Pavlov Ratio) haben sich in einzelnen Studien als gute Prognosemarker
erwiesen [19], [20], [21], [22]. Daneben haben aber auch demografische und neurologische Faktoren (Alter des Patienten,
anatomische Höhe der Verletzung, initialer ASIA Score) einen Einfluss auf das Behandlungsergebnis
[6].
Therapie
Indikation und Zeitpunkt einer Operation
Circa ⅔ der myelopathischen Patienten mit zSKS weisen im zeitlichen Verlauf eine relevante
Progression der neurologischen Störungen auf, wenn nicht chirurgisch interveniert
wird [23]. Patienten mit zSKS und moderater oder schwerer zervikaler Myelopathie sollten daher
einer elektiven OP zugeführt werden. Selbiges gilt für milde Formen der zervikalen
Myelopathie, wenn ein strukturierter konservativer Therapiezyklus keine Besserung
der Symptome erbringt [24]. Es existiert bisher jedoch kein sicherer Beweis für die positive Wirksamkeit einer
dekomprimierenden Operation bei asymptomatischer zervikaler Stenose, sie wird daher
(speziell im Sinne einer Prophylaxe einer zRMV) nicht empfohlen [24], [25]. Prophylaktische Dekompressionen werden (nach den oben dargelegten epidemiologischen
Maßzahlen) wahrscheinlich auch keinen signifikanten Beitrag zur Reduktion der globalen
zRMV-Inzidenz leisten können. Möglicherweise könnte man ein milderes neurologisches
Ausfallmuster oder evtl. eine schnellere und umfangreichere Regeneration nach zRMV
in der Subgruppe mit vorab dekomprimierter gegenüber der Gruppe mit nicht dekomprimierter
symptomatischer zSKS suspizieren [26] – prospektive Studien hierzu gibt es allerdings noch nicht. Trotzdem scheint eine
klinische Grauzone zwischen Patienten mit asymptomatischer zSKS und Fällen von zSKS
mit Myelopathie zu existieren, die womöglich ein höheres Risiko einerseits für die
schleichende Symptomprogredienz der Myelopathie und andererseits für eine akute traumatische
zRMV birgt. So wird für nicht myelopathische Fälle mit radiologischen Zeichen der
Myelonkompression und klinisch bestehender Radikulopathie sowie elektrophysiologischer
Beeinträchtigung der Myelonfunktion (SSEP-Verlängerung) ein höheres Risiko zur Ausbildung
einer zervikalen Myelopathie (und evtl. auch einer zRMV) gesehen. Diese Gruppe von
Patienten soll unter konservativer Therapie engmaschig kontrolliert und bei Auftreten
myelopathischer Symptome frühzeitig operiert werden [23], [24], [26].
Merke
Nach einem HWS-Trauma und erfolgtem Ausschluss von Instabilität und akuter intraspinaler
Raumforderung kann eine konservative Therapie und engmaschige neurologische Kontrolle
insbesondere bei milder Neurologie (ASIA D scheint hier evtl. die Grenze zu sein)
indiziert werden.
Es gibt bislang keinen zweifelsfreien Hinweis dafür, dass die neurologischen Ergebnisse
im Langzeitverlauf darunter schlechter sind als im Vergleich zu operierten Patienten.
Positive Effekte nach Gabe von Methylprednisolon (MP) sind nicht mit hoher Evidenz
belegt [27], [28]. Systematische Reviews fanden aber für die Subgruppe mit MP-Applikation innerhalb
von 8 Stunden nach Trauma (nicht später) und nur über einen Anwendungszeitraum bis
24 Stunden (nicht länger) bez. einer geringfügigen Verbesserung der motorischen Defizite
Hinweise für einen möglichen positiven Einfluss gegenüber dem Komplikationspotenzial
von Hochdosis-MP [29]. Die Anwendungen anderer sog. Neuroprotektiva, wie Nimodipin, Riluzol sowie Rho-Enzym-Inhibitoren
sind noch nicht hinreichend klinisch erprobt oder belegt und daher zunächst noch abzulehnen
bzw. nur unter spezifischen Studienkonditionen zu unterstützen [30], [31], [32]. Wenn eine Besserung unter konservativer Therapie ausreichend schnell (< 24 h) und
umfangreich (mindestens 1 ASIA-Grad) eintritt, kann weiter konservativ mit dann wahrscheinlich
auch gleich guten Besserungsraten wie mit Operation behandelt werden [33].
Die Wertigkeit einer dekomprimierenden Operation konnte lange Zeit nicht mit hochklassigen
Studien in klarer Evidenz über alle Gruppen von zRMV und alle Formen von zSKS hinweg
aufgezeigt werden. Mehrere prospektive Einzelstudien und die aktuellen systematischen
Reviews weisen mittlerweile aber eindeutig positive Effekte einer operativen Intervention
bei der zRMV mit zSKS aus, wenn man bestimmte Subgruppen herausfiltert.
Merke
Sollte eine hinreichend schnelle und umfangreiche Besserung (speziell bei höhergradigen
neurologischen Störungen) unter konservativer Therapie ausbleiben, dann sollte möglichst
eine Dekompression erfolgen.
Mag sein, dass die Rate an Patienten mit postoperativer neurologischer Verbesserung
nicht immer signifikant verschieden zum konservativen Vorgehen ist. So ist aber häufig
wenigstens eine deutlichere oder schnellere neurologische Besserung in den Gruppen
mit Operation erkennbar [34], [35], [36], [37].
An der primären Myelonschädigung (struktureller primärer Schaden) kann operativ nichts
verbessert werden. Das optimale therapeutische (chirurgische) Fenster für das sog.
sekundäre Verletzungsstadium (kaskadenartig innerhalb von Minuten bis Stunden durch
Ödem, Ischämie, Inflammation und Apoptose ausgelöst [38]) kann aber verpasst werden, wenn mit der OP zu lange gewartet wird. Daher mehren
sich Hinweise aus Grundlagenstudien (in vitro [39] und im Tiermodell [40]), dass eine (frühe) chirurgische Therapie relevante Verbesserungen bewirken könnte,
und zwar wirksamer als es die konservative Behandlung vermag. Die Ergebnisse früherer
klinischer Studien hierzu sind zwar zwiespältig (kontra: [41], pro: [42]). Systematische Reviews und aktuelle Metaanalysen sowie die prospektive STASCIS-Studie
favorisieren jedoch heute eindeutig die frühe OP (zwischen 8 und 24 h [34], [36], [43], [44]). Zur sicheren Klärung der Umstände für die Subpopulation von zRMV mit begleitender
Stenose und ohne Fraktur sind weitere prospektive und randomisierte Studien notwendig,
wie z. B. die OSCIS-Studie (Optimal treatment for Spinal Cord Injury associated with
cervical canal Stenosis), die aktuell noch rekrutiert [45]. Insgesamt gibt es derzeit noch keine ausreichende Anzahl an Studien der Evidenzklasse
1 zur Differenzialtherapie oder den optimalen Zeitpunkt einer chirurgischen Therapie
des SCI mit Stenose, aber ohne Fraktur, die Aussagen mit hohem Empfehlungsgrad zulassen
würden [46].
OP-Verfahren
Merke
Eine alleinige Osteosynthese ohne suffiziente intraspinale Dekompression des Rückenmarks
löst das Problem einer zRMV mit zSKS nicht.
Eine Fusion ist demgegenüber nach ausgedehnter Dekompression nicht selten erforderlich
und zur Ruhigstellung des verletzten Myelonabschnittes unserer Meinung nach durchaus
sinnvoll. Es müssen also operative Konzepte der Dekompression bei degenerativer zervikaler
Myelopathie mit denen der zervikalen Osteosynthese kombiniert werden. Damit wird auch
klar, warum diese Spezialfälle in eine Versorgungseinheit mit Expertise in allen ventralen,
dorsalen und kombinierten Dekompressions- und Osteosyntheseverfahren gehören.
In der S1-Leitlinie der AWMF aus dem Jahr 2008 (Registernummer 030-052; www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030-052_S1) werden hinsichtlich der chirurgischen Zugangswahl bei zervikaler Spinalstenose als
wesentliche Entscheidungskriterien die Lokalisation und das Längenausmaß der Stenose
sowie das sagittale HWS-Profil genannt. Dorsal dominierte Stenosen mit erhaltener
zervikaler Gesamtlordose sollten demnach eher von dorsal operiert werden. Für Stenosen
ventraler Genese über maximal 3 Segmente bei kyphotischer Stellung sollen hingegen
anteriore Techniken bevorzugt werden [47], [48]. Sofern die Stenosierung des Zervikalkanals nicht nur begrenzt retrodiskal liegt
(in solchen Fällen wird man eine mehrsegmentale ACDF indizieren), sondern auch retrovertebral
(in diesen Fällen kann die Stenosierung über das Bandscheibenfach häufig nicht ausreichend
abgetragen werden), kommt als Dekompressionsverfahren am besten die Korpektomie mit
anschließender Fusion in Betracht [49]. Nach der anterioren spinalen Dekompression ist eine ventrale Segmentfusion geboten.
Diese kann als intervertebrale Fusion (ACDF, [Abb. 1]), als Wirbelkörperersatz (ACCF, [Abb. 2]) oder einer Kombinationen beider Verfahren (sog. Hybridfusion) erfolgen. Es kristallisiert
sich zunehmend heraus, dass autologer Knochen nicht mehr als alleiniger „Goldstandard“
der ventralen Zervikalfusion zu bezeichnen ist. So gaben in einer weltweiten Umfrage
unter AO-Spine-Mitgliedern zur ACDF 64% der Operateure an, einen Cage zur Fusion zu
verwenden, nur 20% votierten für autologen Knochenspan [50]. Eine Umfrage unter deutschen und österreichischen Wirbelsäulenoperateuren zur ACCF
zeigte ähnliche Tendenzen. So nutzen nur noch etwa 16% der Operateure autologen Knochen
(Beckenkamm oder Fibula) zur Rekonstruktion von Halswirbelkörpern, während 84% der
Wirbelsäulenchirurgen unterschiedliche Cages verwenden [51]. Die weit überwiegende Mehrzahl der aktuellen Publikationen zu dieser Thematik beschreibt
mittlerweile vergleichbar gute klinische und radiologische Ergebnisse für die Zervikal-Cages
– aber eben ohne die zusätzliche Entnahmemorbidität bei Knochenautograft. Neben den
metallbasierten Cage-Materialien (heutzutage fast ausschließlich Titan) werden seit
einigen Jahren zunehmend auch gleich gut geeignete Kunststoff-Cages zur ACDF und ACCF
verwendet ([Abb. 1] und [Abb. 2]), deren radiologische Artefaktbildung jedoch geringer als bei Metall-Cages ausfällt
[52], [53].
Merke
Eine zusätzliche ventrale Plattenosteosynthese ist auch nach monosegmentaler Diskektomie
bei der zSKS mit zRMV eher empfehlenswert, nach Korpektomie ist sie sogar als Standard
zu bezeichnen.
Abb. 1 46-jähriger Mann nach einem Zusammenprall beim Fußball. Kurzzeitige initiale Bewusstlosigkeit
und nachfolgend milde armbetonte Tetraparese (ASIA Grad D). Vor dem Trauma seien keine
neurologischen Störungen vorhanden gewesen. Im sagittalen HWS-CT (a) sind die degenerativen Veränderungen der Segmente HWK V/VI und HWK VI/VII bereits
an den ventralen und dorsalen Spondylophyten erkennbar. Das sagittale HWS-MRT zeigt
in den sagittalen T2-Schichten (b) die osteodiskogene Stenose in diesen Höhen sowie den Myelopathieherd oberhalb des
Bandscheibenfaches HWK V/VI und den Abbruch des perimedullären Liquorsignals in der
Myelosequenz (c). Unter konservativer Therapie mit Zervikalorthese und Kortikosteroiden ergab sich
binnen 12 Stunden keine neurologische Besserung. Somit wurde die Indikation zur Dekompression
und Fusionierung gestellt. Da die hauptsächliche Raumforderung retrodiskal liegt,
reicht hier eine ACDF in den Segmenten HWK V/VI und VI/VII aus. Nach der Diskektomie
müssen auch die Retrospondylophyten suffizient abgetragen werden. Das intraoperative
seitliche Durchleuchtungsbild (d) zeigt dies exemplarisch mittels 4-mm-Fräse an HWK VI. Abschließend erfolgte eine
Segmentfusion mit PEEK-Cages und ventraler Schrauben-Platten-Osteosynthese von HWK
V – VII (e). Postoperativ deutliche und rasche Rückbildung der neurologischen Störungen. Das
postoperative HWS-CT (f) zeigt die ausreichende Resektion der Retrospondylophyten. Das postoperative HWS-MRT
zeigt in der sagittalen T2-Wichtung (g) die ausreichende Dekompression des Halsmarkes und in der Myelosequenz (h) die Wiederherstellung des perimedullären Liquorsignals. Bei Entlassung in die Häuslichkeit
nach 5 Tagen postoperativ bestehen nur noch dezente Kribbelparästhesien der linken
Hand. Nach 3 Monaten postoperativ ist der Patient beschwerdefrei und ohne neurologische
Ausfälle. Das ACDF-Konstrukt ist gut eingeheilt, keine weiteren HWS-Eingriffe notwendig.
Abb. 2 78-jähriger Mann nach einem Bagatellstolpersturz im Rahmen einer kardiogenen Synkope.
Der Patient sei zuvor mit Werkstattarbeiten an seinem Pkw beschäftigt gewesen und
habe sich nach dem Sturz vom Hals abwärts nicht mehr bewegen können. Erst Stunden
später wurde er bewegungsunfähig in seiner Werkstatt gefunden. Vor dem Sturz hätten
gelegentlich Kribbelparästhesien an den Fingerspitzen bestanden. Einlieferung mit
hochgradiger Tetraparese (ASIA Grad B) in eine auswärtige Klinik. Im HWS-CT (a) sind die massiven Spondylophyten erkennbar. Das HWS-MRT zeigt in der sagittalen
T2-Wichtung (b) eine mehrsegmentale osteodiskogene Enge von HWK III – VI mit mehreren kleinen Myelopathieherden
in allen 3 Segmenten. In der Myelosequenz (c) ist der Abbruch des perimedullären Liquorsaumes dargestellt. Nach bildgebender Primärdiagnostik
Beginn einer konservativen Therapie. Nach 1 Woche ergab sich nur eine minimale neurologische
Verbesserung, weshalb die Bilder zur konsiliarischen Mitbeurteilung vorgestellt wurden.
Angesichts der bildgebenden und neurologischen Befunde wurde OP-Indikation gestellt.
Da sich auch eine deutliche Raumforderung retrovertebral hinter HWK IV und V darstellt,
wurde eine Korpektomie dieser Wirbel empfohlen. Das intraoperative seitliche Durchleuchtungsbild
(d) zeigt exemplarisch die Resektion der Retrospondylophyten mittels 4-mm-Fräse an HWK
III. Abschließend erfolgte eine Segmentfusion mit einem PEEK-Cage und einer ventralen
Schrauben-Platten-Osteosynthese von HWK III – VI (e). Postoperativ erkennbare Rückbildung der neurologischen Störungen. Das postoperative
HWS-CT (f) zeigt die ausreichende Resektion der Retrospondylophyten. Das postoperative HWS-MRT
zeigt in der sagittalen T2-Wichtung (g) die ausreichende Dekompression des Halsmarkes und in der Myelosequenz (h) die Wiederherstellung des perimedullären Liquorsignals. Nach 10 Tagen postoperativ
Verlegung in ein Querschnittzentrum mit einem inkompletten Querschnitt entsprechend
ASIA Grad C. Nach 3 Monaten postoperativ ist der Patient wieder frei gehfähig und
verspürt nur noch geringfügige sensomotorische Störungen an den Händen (ASIA Grad
D). Das ACCF-Konstrukt ist gut eingeheilt, keine weiteren HWS-Eingriffe nötig.
Indikationen für den dorsalen Zugang bestehen, wenn längerstreckige Stenosen (> 3
Segmente, insbesondere bei lordotischer HWS-Gesamtstellung) vorliegen oder das kompressive
Element seinen Ursprung überwiegend von dorsal aus nimmt [49], [54]. Insbesondere multisegmentale Laminektomien sollten dann aber durch eine Osteosynthese
und Fusion ergänzt werden, um eine Spätdeformität zu vermeiden [55]. Am weitesten verbreitet dürfte die Osteosynthese mittels Massa-lateralis-Schrauben
sein. Eine Pedikelschraubenosteosynthese ist zwar resistenter hinsichtlich Schraubenausriss,
gleichzeitig ist sie aber auch etwas komplikationsträchtiger (insbesondere in den
Händen des Ungeübten) sowie aufwendiger (da meist eine intraoperative Navigation zur
Anwendung kommen dürfte). Laminaschrauben sind wegen fehlender oder teilresezierter
Lamina(e) meist nicht sinnvoll anzuwenden. Auch die dorsalen Dekompressionen selbst
haben in der Vergangenheit strukturerhaltende Verfeinerungen/Miniaturisierungen erfahren.
Prozeduren, wie bspw. die Laminoplastie, haben sich gegenüber der Laminektomie jedoch
bisher nicht als signifikant vorteilhaft erwiesen [56]. Die mikrochirurgische Dekompression über interlaminäre Fensterungen oder Hemilaminektomien
unter Funktionserhalt des dorsalen Band- und Gelenkapparates stellt für degenerative
Zervikalstenosen ebenfalls eine fusionslose minimalinvasive Behandlungsoption dar
[57].
Wenn die Indikationsstellung für ein geeignetes isoliertes ventrales oder dorsales
Dekompressionsverfahren korrekt war und eine zusätzliche Osteosynthese nach der Dekompression
erfolgt ist, so ergeben sich im Regelfall zumeist keine Indikationen für kombinierte
(360°-)Verfahren. Bei insuffizienter Dekompression oder posttraumatischer Deformität
und bei bestehendem (oder zu erwartendem) Materialversagen (speziell bei langstreckiger
Fusion) kann ein zusätzlicher Eingriff von der Gegenseite aber gelegentlich notwendig
werden. Dies ist besonders bei Fällen mit Tetraparese (ohne suffiziente Rumpfkontrolle)
u. U. sinnvoll, da diese Patienten häufig unkoordiniert Gleichgewichtskompensationsmanöver
mit dem Kopf vornehmen und bei passiven Mobilisationen nicht selten an deren Kopf
bzw. Hals angesetzt wird.
Duraerweiterung nach SCI
Der optimale Spinal Cord Perfusion Pressure (SCPP) liegt bei 90 – 100 mmHg. Der intraspinale
Druck (ISP) liegt nach einer zRMV erfahrungsgemäß bei 20 – 40 mmHg. Der MAP (mittlerer
arterieller Druck) sollte daher bei zRMV über 110 – 130 mmHg gehalten werden [58]. Eine Messung des ISP macht dabei nur auf der Höhe der Verletzung Sinn. Der intrathekale
Druck an der LWS ist bspw. zur Bestimmung von ISP und SCPP auf Höhe eines verletzten
Zervikalsegmentes insuffizient. Allenfalls kann anhand nachweisbarer Liquorpulsationswellen
ein indirekter Hinweis für eine ausreichende Dekompression gewonnen werden. Die (weniger
invasive) subdurale und die intraparenchymatöse spinale Druckmessung zeigen vergleichbare
Werte [59]. Für die intraspinale Druckmessung und ein gezieltes ISP- und SCPP-Management (ISP
< 10 mmHg; SCPP > 90 mmHg) ergeben sich nach systematischem Review bereits erste Hinweise
für ein besseres neurologisches Ergebnis nach Rückenmarkverletzung [60], [61]. Auch ließ sich darunter eine Amplitudensteigerung von MEP und per Mikrodialyse
eine 3-fach höhere Gewebepenetration von Dexamethason, eine bessere Versorgung mit
Stoffwechselprodukten und weniger Anfall von toxisch-ischämischen Metaboliten zeigen
[62].
Durch eine isolierte Laminektomie kann der intradurale Druck nicht effektiv gesenkt
und der SCPP nicht effektiv gesteigert werden. Mittels zusätzlicher Durotomie und
ggf. Duraerweiterungsplastik kann dies jedoch bewerkstelligt werden. Nach einem systematischen
Review wurden randomisierte Studien gefordert, die den Einfluss von Duraerweiterungen
auf das neurologische Ergebnis nach einer Myelonläsion untersuchen sollen, da aktuell
nicht genügend Daten vorliegen, die eine Entlastungsdurotomie am Rückenmark mit starkem
Empfehlungsgrad unterstützen [61].
Gutachterliche Aspekte
Einer zRMV geht in aller Regel ein Unfallereignis voraus. Sofern vor dem Unfall Beschwerdefreiheit
bestanden hat (Diagnosemitteilungen der Krankenkasse können hier informativ sein),
gilt es zunächst, die Kausalität zu klären. Ist ein dokumentiertes Unfallereignis
überhaupt geeignet, den nachweisbaren Schaden zu verursachen? Es ist heute akzeptiert,
dass Geschwindigkeitsveränderungen δv < 10 – 15 km/h am ehesten nicht in der Lage
sein dürften, relevante strukturelle Schäden an der HWS (wie Frakturen oder diskoligamentäre
Rupturen) zu bewirken [63]. Wie oben geschildert, ist bei einer vorbestehenden zSKS eine gewisse (individuelle)
Prädisposition für eine zRMV gegeben. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass
derart Betroffene schon bei geringeren Bewegungsmomenten und auch ohne Nachweis von
Frakturen und Bandrupturen eine relevante Halsmarktangierung erlitten haben könnten
(Stichwort: SCIWORET).
Bei vorbestehender/begleitender zSKS ergibt sich, neben der schwierigen Klärung der
Kausalitätsfragen, zudem die nicht weniger komplexe Problematik der Einschätzung der
überwiegenden Verursachung einer zRMV (Unfall vs. Vorerkrankung). Bei vorbestehender
symptomatischer zSKS, die sich durch ein minimalstes Unfallereignis nicht oder nur
marginal verändert hat, wird man eher zu dem Schluss kommen, dass die überwiegende
Ursache die vorbestehende Degeneration sein dürfte. Bei nachweislich prätraumatisch
asymptomatischer zSKS mit einem relevanten Unfallereignis und nachfolgend höhergradiger
zRMV, kann man hingegen eher eine Hauptverursachung durch den Unfall suspizieren.
Die Schwierigkeit liegt sicher nicht in der Entscheidung zwischen diesen beiden geschilderten
Extremsituationen, sondern in der Beurteilung von (womöglich häufiger auftretenden)
Fällen aus der Grauzone dazwischen (also z. B. bei relevanter Vorschädigung kombiniert
mit relevantem Unfallereignis).
Da speziell in Deutschland eine zunehmende Neigung zur versicherungsrechtlichen und
auch gerichtlichen Verhandlung von HWS-Distorsionen zu verzeichnen ist, kommt insbesondere
der initialen Befundung eine erhebliche Bedeutung zu. Je genauer der allgemeine körperliche
Status und je detaillierter eine neurologische Grunduntersuchung nach einem Unfall
mit vermeintlicher HWS-Beteiligung ausfallen, umso sicherer kann auch zeitversetzt
noch eine gerechte abschließende Beurteilung getroffen werden.
Merke
In diesem Zusammenhang empfehlen sich (bereits in Erwartung zukünftiger gutachterlicher
Fragen) eine möglichst lückenlose Befunddokumentation (nicht nur initial, sondern
auch im Verlauf nach dem Unfall) sowie eine suffiziente Untersuchung, ggf. sollte
eine neurophysiologische Untersuchung zur Befundobjektivierung inkludiert werden.
Sofern operative Eingriffe erfolgen, sollten auffällige Veränderungen (wie z. B. eingeblutete
Muskeln, gerissene Bänder etc.) intraoperativ fotodokumentiert und/oder im OP-Bericht
eindeutig niedergelegt werden. Zudem empfiehlt sich möglichst die Einsendung von Material
zur histologischen Begutachtung auf erfolgte Einblutungen.