Über Trauma- und Suchtstörungen sowie über Therapiemöglichkeiten sprach Prof. Dr.
Michael Klein (Köln) mit dem Experten Prof. Dr. Ingo Schäfer (Hamburg).
Wie kamen Sie in Ihrer Karriere persönlich auf das Thema Trauma und Sucht?
Wie kamen Sie in Ihrer Karriere persönlich auf das Thema Trauma und Sucht?
Prof. Schäfer: Zum Thema Trauma kam ich durch meine Doktorarbeit, die ich Ende der
90er Jahre zu Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen verfasste. Als ich etwas
später begann mit erwachsenen Patientinnen und Patienten in der Psychiatrie zu arbeiten
haben mich zwei Dinge überrascht. Zum einen deren hohe Belastung mit frühen Traumatisierungen,
zum anderen, wie wenig dies Thema in der Psychiatrie war. Zusammen mit einigen Kolleginnen
und Kollegen habe ich dann begonnen mich zunächst mit Traumatisierungen bei Menschen
mit Psychosen zu beschäftigen. Als ich später meinen Schwerpunkt in den Suchtbereich
verlagerte und als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Interdisziplinäre
Suchtforschung (ZIS) in Hamburg anfing zeigte sich wie groß die Bedeutung des Themas
auch bei Suchtkranken ist.
Welche Rolle spielt Traumatisierung bei der Entstehung von Suchtstörungen?
Welche Rolle spielt Traumatisierung bei der Entstehung von Suchtstörungen?
Es verhält sich wie mit allen Risikofaktoren hinsichtlich der Ätiologie einer psychischen
Störung. Bei einem Teil der Menschen mit Suchtstörungen spielen Traumatisierungen
überhaupt keine Rolle. Etwa ein Drittel bis die Hälfte aller Suchtkranken musste Erlebnisse
sexueller oder körperlicher Gewalt in der Kindheit machen, ein weiterer Teil erlebte
emotionale Vernachlässigung in der Vorgeschichte. Nicht bei allen Betroffenen müssen
die Folgen dieser Erlebnisse bei der Suchtentwicklung eine bedeutsame Rolle gespielt
haben. Bei einem großen Teil der Betroffenen haben sie deren Biografien aber so entscheidend
geprägt, dass der Einstieg in die Suchtkarriere und oft auch die aktuelle Problematik
stark mit den Folgen der traumatischen Erfahrungen zusammenhängt. Bei einer Untergruppe
von Betroffenen sind diese Zusammenhänge so eng, dass man die Suchtstörung eigentlich
als Traumafolgestörung verstehen sollte, mit Konsequenzen für den Umgang mit Betroffenen
und die notwendigen therapeutischen Ansätze.
Wie hängen diese beiden Störungsbilder (innerlich) zusammen?
Wie hängen diese beiden Störungsbilder (innerlich) zusammen?
Besonders augenfällig sind die Zusammenhänge im Falle sogenannter komorbider Störungen,
wie der Posttraumatischen Belastungsstörung, die sich bei 10 bis 30 Prozent aller
stationär behandelten Patientinnen und Patienten findet, wenn eine systematische Diagnostik
erfolgt. Der Begriff der Komorbidität ist dabei nicht nur hilfreich. Insbesondere
wenn er suggeriert, dass es sich um letztlich parallel entstandene Probleme handelt.
Es geht vielmehr um verschiedene Aspekte einer meist sehr komplexen Gesamtproblematik.
Dass es sich beim Substanzkonsum um einen Weg des Umganges mit Traumatisierungen handelt,
ist dann meist offensichtlich. Entgegen häufigen Stereotypen geht es dabei nicht immer
nur um Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung, die bei Suchtkranken zumeist
mit Erlebnissen körperlicher und sexueller Gewalt in der Kindheit zusammen hängen.
Oft dominieren Störungen der Emotionsregulation, Schwierigkeiten in Beziehungen und
ein sehr negatives Selbstbild, alles Beschwerden die typischer Weise nach frühen Traumatisierungen
auftreten, auch wenn es sich dabei um emotionale Gewalt oder Vernachlässigung gehandelt
hat.
Welche Therapiemöglichkeiten sind beim gleichzeitigen Auftreten von Sucht und Traumastörungen
wirksam und deshalb zu empfehlen?
Welche Therapiemöglichkeiten sind beim gleichzeitigen Auftreten von Sucht und Traumastörungen
wirksam und deshalb zu empfehlen?
Weil Gewalt und Vernachlässigung in den Biographien Suchtkranker so häufig sind, sollte
für den Umgang mit ihnen und in der Behandlung generell die Trauma-Perspektive eine
weit größere Rolle einnehmen als bisher. Wir wissen, dass Menschen, die in ihrer Kindheit
von nahen Bezugspersonen sehr Belastendes erleben mussten, häufig dadurch nachhaltig
geprägt sind. Dies spiegelt sich dann in ihren Interaktionen im Erwachsenenalter wieder.
Beim Umgang mit den Betroffenen sollten deshalb wichtige Aspekte berücksichtigt werden,
die allgemein bei Menschen mit Traumatisierungen wichtig sind. Dazu gehört es unter
anderem traumatische Erfahrungen anzusprechen und nicht abzuwarten ob Betroffene diese
spontan berichten, ihre Sicht darauf zu validieren und Informationen zu Hilfsmöglichkeiten
anzubieten. Weiter müssen in die Suchthilfe Interventionen integriert werden, deren
Wirksamkeit in Bezug auf die Folgen traumatischer Erfahrungen inzwischen gezeigt ist.
Bei Vorliegen von Traumafolgestörungen wie der PTBS gehören dazu auch traumafokussierte
Therapien, die bislang nur ein Bruchteil der Betroffenen erhält. Obwohl es auch gelingen
kann beide Problembereiche parallel durch jeweils spezialisierte Therapeutinnen zu
behandeln sollte einer integrativen Behandlung der Vorzug gegeben werden. Dabei geht
es aus meiner Sicht vor allem um die Integration von traumatherapeutischen Ansätzen
in die Suchthilfe, deren Kompetenzen schwerer an anderer Stelle zu implementieren
sind als das Wissen um den Umgang mit Traumatisierungen im Suchtbereich. Die Idee,
dass erst bei stabiler Abstinenz traumatherapeutische Interventionen sinnvoll sind
ist in jedem Fall obsolet.
Sie haben das bundesweite Forschungsprojekt CANSAS initiiert und koordiniert. Was
sind die wichtigsten Erkenntnisse daraus?
Sie haben das bundesweite Forschungsprojekt CANSAS initiiert und koordiniert. Was
sind die wichtigsten Erkenntnisse daraus?
Es ging bei diesem multizentrischen Forschungsprojekt unter Förderung des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung (BMBF) darum, die Zusammenhänge zwischen früher Traumatisierung
und Sucht und die Weitergabe beider Phänomene an die nächste Generation zu erhellen.
Außerdem sollten therapeutische und präventive Strategien für traumatisierte Suchtkranke
und ihre Kinder entwickelt und erprobt werden. Es ging also neben grundlegenden Erkenntnissen
zu den Mechanismen, wie Trauma und Sucht über Generationen zusammenhängen, vor allem
um neue Therapien und die traumaspezifische Weiterentwicklung des Hilfesystems. Es
zeigte sich, dass stabilisierende Therapien gut akzeptiert werden, sie aber bei Suchtkranken
mit PTBS nicht ausreichen und um expositionsbasierte Verfahren ergänzt werden sollten.
Das bereits vorliegende Programm „Sicherheit finden“ konnte erfolgreich evaluiert
und erweitert werden.
Im Bereich Kinderschutz ergab sich ein relevanter Bedarf an strukturierten Werkzeugen
zur Einschätzung von Risiken. Hier wurde mit dem „Hamburger Gefährdungsbogen“ ein
Screening-Instrument zur Risikoabschätzung entwickelt und evaluiert. Weiter ging es
darum, Fachkräften, die mit Suchtkranken arbeiten, mit dem Programm „Learning how
to ask“ ein brauchbares Werkzeug zur Erhebung von Traumatisierungen und zum richtigen
Umgang damit zur Verfügung zu stellen.
Gibt es Zusammenhänge zwischen bestimmten Traumatisierungsformen und einzelnen bevorzugten
Substanzen und dementsprechend verschiedenen Suchtformen?
Gibt es Zusammenhänge zwischen bestimmten Traumatisierungsformen und einzelnen bevorzugten
Substanzen und dementsprechend verschiedenen Suchtformen?
Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass dies so ist, dass etwa die vegetative Überregung
bei traumatisierten Menschen oder die sich aufdrängenden Erinnerungen zu einer Affinität
gegenüber sedierenden Substanzen führt. Dies ist auch oft der Fall, aber es ist keineswegs
ein zwingender Zusammenhang. Offenbar spielt die Verfügbarkeit von Substanzen eine
dominante Rolle und das generelle Bestreben nach Zustandsveränderung. So kann es nach
starker Traumatisierung genauso zu einem chronischen Alkoholmissbrauch wie zu einem
polyvalenten Konsum von Substanzen kommen. Auch Stimulantien können dabei beteiligt
sein, etwa um eine Stimmungsaufhellung zu erreichen.
Welche Empfehlungen gibt es für die traumainteressierte Suchthilfepraxis?
Welche Empfehlungen gibt es für die traumainteressierte Suchthilfepraxis?
Neben den schon erwähnten Innovationen zum Screening und der Behandlung der betroffenen
Patientinnen und Patienten in traumasensiblen Programmen ist es vor allem die Offenheit
für das Thema, welche Praktikern die Arbeit erleichtern, und nicht wie oft fälschlicherweise
angenommen, erschweren kann. Durch traumaspezifisches Wissen und Handeln können Therapeutinnen
und Therapeuten ihre Arbeit erleichtern und bereichern. Die Verhaltensweisen Betroffener
machen unter einer traumasensiblen Perspektive zumeist Sinn, finden dadurch eine andere
Bewertung und in der Folge andere therapeutische Reaktionen. Gerade bei Suchtkranken,
die immer wieder Probleme mit der Emotionsregulation, ihrer Abstinenzmotivation, einer
guten Selbstfürsorge, selbstverletzendem Verhalten und Rückfallvermeidung haben, stehen
häufig Traumatisierungen im Hintergrund. Wenn sie in die Fallkonzeption einbezogen
werden kann ein besseres Verständnis für die aktuellen Probleme auf beiden Seiten
und neue Motivation entstehen. Die oft geäußerte Befürchtung vor einer schwerwiegenden
Re-Traumatisierung ist zumeist unberechtigt. Die Risiken, die sich aus dem Unterlassen
therapeutischer Unterstützung ergeben sind meist viel schwerwiegender. Kurz lässt
sich zusammenfassen: Suchttherapeuten sollten keine Berührungsängste mit dem Thema
Trauma haben, spezifisches Wissen dazu ist leicht zu erwerben und es stehen effektive
Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung.
Wie sollte eine gemeinsame, koordinierte Therapie für Sucht- und Traumastörungen aussehen?
Wie sollte eine gemeinsame, koordinierte Therapie für Sucht- und Traumastörungen aussehen?
Inzwischen liegt eine Vielzahl von Therapiemanualen und -ansätzen für traumatisierte
Suchtkranke vor. Die verschiedenen Programme, sei es „Sicherheit finden“, „DBT-Sucht“
oder traumafokussierte Verfahren, wie die prolongierte Exposition oder die Narrative
Expositions-Therapie, sollten Standardangebote in jeder Suchttherapieeinrichtung sein.
Wichtig ist nunmehr, dass dieses Wissen und die vorhandene Kompetenz in die Fläche
kommen. Die Vielzahl der Suchtkranken, bei denen Traumatisierungen und ihre Folgen
einen bedeutsamen Einfluss auf die Suchterkrankung haben, wird davon profitieren.
Ist eine Prävention von Suchterkrankungen bei Menschen mit Traumaerfahrungen möglich?
Ist eine Prävention von Suchterkrankungen bei Menschen mit Traumaerfahrungen möglich?
Im Prinzip ist diese Perspektive entscheidend. Gerade im Bereich traumatisierter Kinder,
und hier ist nicht nur an sexuelle und physische Misshandlung, sondern auch an emotionale
Vernachlässigung zu denken, stellen sich im Vorfeld des Substanzkonsums bereits relevante
Störungen ein, etwa der Emotionsregulation. Diesen Kindern und Jugendlichen könnte
frühzeitig mit übenden Verfahren, wie z. B. „Gefühle im Griff“ von Prof. Sven Barnow
geholfen werden.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.