Schlüsselwörter
pädiatrisch - Beckenfraktur - Kindheit - Anatomie - Behandlung - Übersichtsartikel
Key words
pediatric - pelvic fracture - childhood - anatomy - treatment - review
Chirurgische und funktionelle Anatomie
Chirurgische und funktionelle Anatomie
Auch für die Beckenregion gilt, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Dies ist
bedingt durch eine Reihe anatomischer Besonderheiten:
-
die Y-Fuge, in der sich Schambein, Darmbein und Sitzbein vereinigen, und die sich
ungefähr mit dem 14. Lebensjahr schließt
-
die hohe Elastizität des Skelettes verbunden mit einem sehr dicken Periost [1]
-
die unterschiedliche Symphysenweite, die sich aber bereits mit 7 Jahren den Dimensionen
des Erwachsenenalters angleicht [2]
-
die hohe Festigkeit der Bänder und Sehnenansätze
-
die etwas erweiterten IS-Fugen
Das Becken dient auch im Kindesalter der Kraftübertragung vom Rumpf auf die unteren
Extremitäten, dem Ansatz von Muskeln und schützt die Organe des kleinen Beckens. Aus
den genannten Charakteristika ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen, die bei der
Behandlung beachtet werden sollten:
-
Die beobachteten Dislokationen sind aufgrund der hohen Rückstellkräfte häufig gering.
Cave: Unterschätzung der Verformung während des Unfalls, der Instabilität und von
Begleitverletzungen!
-
Die Klassifikation, insbesondere die Differenzierung zwischen rotatorischer und vertikaler
Instabilität, ist oft unsicher.
-
Es treten typische Apophysenabrisse (z. B. der Spina iliaca anterior inferior) auf.
-
Wachstumsstörungen durch Fugenschädigung sind möglich.
Die Apophyse des Os ilium ist zwar biomechanisch kaum beutend, wird aber für die Wachstumsprognose
als Risser-Zeichen verwendet.
Abb. 1 Beckenübersicht bei einem 7-jährigen Jungen, der zwischen 2 Pkw eingeklemmt wurde.
Deutlich zu sehen ist die rechtsseitige Femurschaftfraktur. Die Beckenfraktur ist
nicht sicher zu erkennen, wobei sich eine Aufweitung der rechten Iliosakralfuge vermuten
lässt. Außerdem zeigt sich eine Doppelkontur am linken Schambeinast und eine angedeutete
Knickbildung am linken Sitzbein.
Ätiologie und Epidemiologie
Ätiologie und Epidemiologie
Nach der Neugeborenenperiode sind Unfälle die Todesursache Nummer 1 im Kindesalter
[3]. Typische Unfallmechanismen sind Hochrasanztraumata, Quetschverletzungen („crush
injuries“) und Stürze aus großer Höhe. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes
(ICD10 S32) treten Beckenfrakturen in der Altersgruppe unter 15 Jahren mit einem jährlichen
Anteil von 5 – 7/100 000 Einwohner auf. Dies war trotz einer insgesamt sinkenden Anzahl
Verkehrstoter relativ konstant. Korrelierend mit der epidemiologischen Entwicklung
sank der Anteil der im Beckenregister der DGU dokumentierten Frakturen im Kindesalter
von 3,3% Anfang der 90er-Jahre auf 1,1% im Zeitraum zwischen 2004 und 2012 [4], [5]. Ein durchschnittlicher ISS von 16,7 Punkten weist auf den hohen Anteil an Polytraumen
hin [6], [7]. Bei den klassischen Überrolltraumata wurden bei 87% Begleitverletzungen beobachtet,
was mit einer Steigerung der Mortalität auf 20% und einer Komplikationsrate auf über
70% verbunden war [8].
Diagnostik und Klassifikation
Diagnostik und Klassifikation
Anamnese und Symptome stellen die Weichen für die sich anschließende Bildgebung, wobei
sich viele Fragestellungen anhand einer einfachen Beckenübersicht beantworten lassen
([Abb. 1]). Plötzlich einschießende Schmerzen beim Sprinten oder beim Fußball deuten auf die
meist gut konservativ therapierbaren Apophysenabrisse. Diese sind in den konventionellen
Röntgenaufnahmen gut sichtbar. Zur besseren Darstellung kann eine Schrägaufnahme hilfreich
sein, die Dislokation und der Verlauf lassen sich sehr gut mit der Sonografie beurteilen.
Es handelt sich um Tile-A-Verletzungen, die stabil sind. Das beutet, dass der Kraftfluss
von der Wirbelsäule zur unteren Extremität nicht gestört ist. Patienten, die über
den Schockraum aufgenommen werden, haben i. d. R. höherenergetische Traumen erlitten
und werden entsprechend den Algorithmen der Polytraumaversorgung diagnostiziert (ATLS:
Advanced Trauma Life Support [American College of Surgeons]). Hierzu gehört meist
das Ganzkörper-CT, mit dem sich die Beckenfrakturen natürlich auch sehr gut darstellen
lassen ([Abb. 2] und [3]).
Abb. 2 Die Vermutung bestätigt sich im CT, das die Asymmetrie und Lösung der rechten IS-Fuge
zeigt.
Abb. 3 Die Veränderungen am vorderen Beckenring sind dagegen recht unspektakulär. Zusätzlich
zur hier sichtbaren Fraktur am linken Schambein findet sich eine nicht gezeigte undislozierte
Sitzbeinfraktur.
Merke
CT und Röntgen sind Momentaufnahmen! Eine geringe Dislokation, gerade bei angelegtem
Beckengurt, kann über den eigentlichen Grad der Instabilität hinwegtäuschen!
Insofern haben auch Parameter wie Anamnese, Zeichen einer akuten Blutung, Hämatome
(auch im CT), andere, auch äußere Verletzungen und, sofern beurteilbar, Schmerzen
Bedeutung und können richtungsweisend sein ([Abb. 4]). Erwartet werden in diesem Zusammenhang Frakturen mit rotatorischer Instabilität
(Tile B) und zusätzlicher vertikaler Instabilität (Tile C). Die bereits genannte Elastizität
der anatomischen Strukturen bedeutet, dass im Vergleich zum Erwachsenen eine wesentlich
höhere Dislokation stattgefunden haben muss, bevor es zur Fraktur kommt. Hierdurch
erklärt sich die hohe Zahl der Begleitverletzungen, die sich aber auch im CT sehr
gut darstellen lassen. Das MRT hat im Kindesalter einen höheren Stellenwert, wobei
es sich zur elektiven Diagnostik und zu Verlaufskontrollen eignet. Die Grundsätze
der Strahlenhygiene sind im Hinblick auf die möglichen Langzeitfolgen besonders zu
beachten. MRT und Ultraschall sind dementsprechend eher einzusetzen, wobei hinsichtlich
Treffsicherheit der Untersuchung, Zeitfaktor, Verfügbarkeit und Untersuchererfahrung
abzuwägen ist. Studien konnten jedoch zeigen, dass kindertraumatologische Zentren
mit speziell angepassten Richtlinien weniger strahlenbelastend arbeiten, ohne mehr
Verletzungen zu übersehen [9].
Abb. 4 Klinisch zeigt sich die offene Läsion im Bereich der rechten Leiste, die bis ins
Skrotum reicht. Außerdem hatte der Junge schwere Quetschverletzungen an beiden Oberschenkeln
und eine Peroneusparese links. Diese war also eher bedingt durch die Quetschung der
Weichteile. Trotzdem machen die genannten Begleitverletzungen aus der Beckenfraktur
eine Komplexverletzung (Tile C1).
Therapie
Merke
Ziel der Therapie bei Beckenringfrakturen ist die Wiederherstellung der Kontinuität
und der Symmetrie. Im Unterschied dazu sind Azetabulumfrakturen Gelenkfrakturen, die
einer anatomischen Rekonstruktion bedürfen.
Die Therapie richtet sich nach dem Grad der Instabilität und dem funktionellen Anspruch.
Dieser kann, wenn es sich bspw. um Ausnahmeathleten handelt, ausschlaggebend bei der
Indikationsstellung zur operativen Versorgung bei den Apophysenabrissen sein. Diese
werden üblicherweise konservativ behandelt, d. h. Schonung des Beines und schmerzadaptierte
Belastung. Sportartspezifische Übungen können langsam nach etwa 6 Wochen begonnen
werden. Ambitionierte Fußballer müssen hier manchmal gebremst, vorsichtige Eltern
hingegen ermutigt werden. Bei stärker dislozierten Verletzungen dieser Art ist auf
die manchmal sehr eindrucksvolle Kallusbildung hinzuweisen, die sehr selten mechanisch
sowohl an den Spinae als auch am Sitzbein störend sein können. Andere Tile-A-Frakturen
werden ebenso konservativ behandelt.
Differenzierter ist die Behandlung bei den instabilen Frakturen. Da diese oft nach
Hochrasanztraumen auftreten, soll hier kurz auf die zu beachtenden physiologischen
Besonderheiten der Kinder hingewiesen werden:
Psychologisch untertreiben Kinder eher in der für sie einschüchternden Umgebung des
Krankenhauses generell und bei der Behandlung im Schockraum im Besonderen.
Die laterale Kompressionsverletzung (Typ B2) ist die stabilste der instabilen Verletzungen
und wird meist ohne Operation behandelt. In der Regel kann sofort schmerzadaptiert
belastet werden. Nur die im Kindesalter sehr seltene Zerreißung der Symphyse, die
dann mit erheblicher Dislokation verbunden ist, kann eine Ausnahme sein. Symphyseninstabilitäten
finden sich eher bei den B1- und B3-Frakturen, die einer „Open-Book“-Verletzung entsprechen.
Die üblicherweise angegebene Toleranz von 5 mm als Grenze zwischen operativer und
konservativer Therapie bei rotatorischer und vertikaler Instabilität ist nicht unkritisch
zu sehen [10]. Zum einen handelt es sich immer um eine Momentaufnahme, zum anderen können 5 mm,
je nach Alter des Kindes und Größe des Beckens, sehr unterschiedliche Bedeutung haben.
Leider sind deswegen generelle Standards schwierig zu etablieren. Empfehlenswert sind
im Zweifel der Versuch der Mobilisierung und die Einschätzung der Schmerzen. Man kann
davon ausgehen, dass Kinder nicht freiwillig im Bett bleiben wollen und oft sehr gut
angeben können, was wo weh tut. Dies ist in die Therapieentscheidung mit einzubeziehen.
Nach Entscheidung zur Osteosynthese lassen sich jedoch durchaus folgende generelle
Richtlinien festlegen:
-
kindgerechte Dimensionierung der Implantate
-
Respektierung der Wachstumsfugen soweit möglich
-
so minimalinvasiv wie möglich stabilisieren
Hierfür eignet sich der Fixateur externe, der nicht nur einen wichtigen Stellenwert
bei der Notfallbehandlung, sondern im Kindesalter auch bei der definitiven Versorgung
hat. Bei den kleineren Dimensionen des kindlichen Beckens stabilisiert er biomechanisch
durchaus auch im Bereich des hinteren Beckenringes sehr gut. Ist eine posteriore Fixierung
notwendig, stellt die perkutane iliosakrale Verschraubung mit einem Implantat eine
gute und wenig invasive Technik dar ([Abb. 5]). Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die Belastung des Beckens bei
der Mobilisierung aufgrund des Körpergewichtes der Kinder geringer ist. Auch das ist
bei der Auswahl der Stabilisierung zu beachten. Die Plattenosteosynthese hat durchaus
ihren Stellenwert im Versorgungsspektrum, wird aber aufgrund der genannten Prinzipien
eher selten verwendet. Mit zunehmendem Grad der Instabilität ergibt sich auch häufiger
die Indikation zur Operation. Allerdings hat sich hier in der praktischen Handhabung
in den letzten Jahrzehnten einiges geändert. Noch Anfang der 90er-Jahre wurden Kinder
fast ausnahmslos konservativ behandelt. Inzwischen liegt der Anteil der operativ fixierten
Frakturen fast genauso hoch wie bei den Erwachsenen [11]. Dies ist allerdings auch durch den höheren Anteil stabiler Verletzungen im fortgeschrittenen
Alter begründet. Damit ist diese Veränderung auch auf die sich wandelnde generelle
Altersstruktur unserer Gesellschaft zurückzuführen. Die im Kindesalter sehr seltenen
Komplexverletzungen des Beckens werden auch häufig operiert. Dabei handelt es sich
um offene Frakturen, Frakturen mit ausgedehntem Décollement (Morel-Lavallée-Läsion)
oder Verletzungen der Organe des kleinen Beckens oder Gefäß-Nerven-Verletzungen. Die
Indikation ergibt sich dann nicht nur durch die knöcherne Instabilität, sondern auch
durch die Organ- und Weichteilverletzungen.
Abb. 5 Die Versorgung erfolgte mit einer ISG-Schraube auf der rechten Seite, deren Lage
intraoperativ mit einem IsoC-3-D-Scan kontrolliert wurde. Die Qualität ist nicht gut,
aber ausreichend, um die Positionierung des Implantats beurteilen zu können. Ein zusätzliches
CT erfolgte deshalb aus strahlenhygienischen Gründen nicht.
Nachbehandlung
Die Behandlung sollte eine schnellstmögliche Mobilisierung gestatten. Kinder haben
dabei ein recht gutes Körpergefühl, d. h. Belastung und Bewegung orientieren sich
weniger an strengen Vorgaben, als vielmehr an natürlich limitierenden Faktoren wie
Schmerzen und Einschränkungen durch andere Verletzungen ([Abb. 6]). Krankengymnastik kann sich deshalb oft auf spielerische Anregung beschränken,
wobei die Eltern gern mit einbezogen werden können. Schmerzhafte Dehnungen sind zu
vermeiden und führen eher zu Vertrauensverlust als zur Besserung.
Abb. 6 Klinisches Verlaufsbild des verletzten Jungen. Die Wunde in der Leiste ist abgeheilt,
die Nekrosen am linken Oberschenkel haben sich demarkiert. Problemlose Heilung der
Stichinzision nach ISG-Schraube rechts. Mehrwöchige Katheterbehandlung.
Komplikationen und Ergebnisse
Komplikationen und Ergebnisse
Das Komplikationsspektrum von Kindern mit Beckenfrakturen unterscheidet sich von demjenigen
der Erwachsenen. Thrombosen und Embolien sind nicht ganz überraschend seltener, hier
ist die Abhängigkeit von der Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale hinreichend
bekannt. Allerdings finden sich auch seltener Komplikationen, die mit einer Dysregulation
des Immunsystems in Zusammenhang stehen. Dazu gehört das akute Lungenversagen (ARDS:
Adult respiratory Distress Syndrome) oder das septische Multiorganversagen (MOV).
Die dabei zugrunde liegenden Pathomechanismen sind hinreichend beschrieben [12], wobei zu vermuten ist hier, dass die Unreife des sich entwickelnden Immunsystems
einen gewissen protektiven Effekt hat. Neurologische Komplikationen waren im Kindesalter
seltener, wobei eine bessere Regenerationsfähigkeit ursächlich sein könnte [13]. Trotzdem sind es gerade Nervenverletzungen, die bleibende und beeinträchtigende
Folgen nach Beckenfrakturen hinterlassen ([Abb. 7]). Beckenasymmetrien können durch Heilung in Fehlstellung oder Wachstumsstörungen
nach vorzeitiger Verknöcherung der Epiphyse (Y-Fuge) entstehen. Insgesamt ist die
Prognose besser als bei Erwachsenen, allerdings waren sowohl Lebensqualitäts- als
auch Funktionsscores gegenüber einer alterskorrelierten Normalpopulation gemindert
[11].
Abb. 7 Beckenübersicht nach Konsolidierung. Sowohl die Beckenfraktur als auch die rechtsseitige
Femurfraktur sind symmetrisch und achsgerecht ausgeheilt. Vollbelastung ohne Probleme.
Beeinträchtigend war nach 6 Monaten die noch immer bestehende Peroneusparese.