Allgemeine Aspekte der Medikamentenentwicklung in der Pädiatrie
Das Fehlen von qualitativ hochwertigen und in klinischen Prüfungen in der pädiatrischen
Population getesteten Arzneimitteln hat dazu geführt, dass eine Vielzahl von (nur
für Erwachsene) zugelassenen Arzneimitteln im Kindesalter nicht angewendet werden
können und damit Kindern potenziell wirksame Arzneimittel vorenthalten werden [1], [2]. Gleichzeitig ist es jedoch ethisch schwer vertretbar, die für Kinder nicht zugelassenen
Arzneimittel, deren Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in der pädiatrischen Population
durch kontrollierte klinische Prüfungen nicht eindeutig belegt sind, Kindern vorzuenthalten,
wenn der Bedarf einer Arzneimitteltherapie medizinisch dringend angezeigt ist. [3]
Vor dem Hintergrund der unzureichenden Anzahl von zugelassenen Arzneimitteln, die
speziell für die Anwendung in der Pädiatrie geprüft wurden, wurde in der Europäischen
Union (EU) am 26. Dezember 2006 die Verordnung 1901/2006 (EG) vom Europäischen Parlament
und Europäischen Rat verabschiedet (nachfolgend „Kinderarzneimittelverordnung“). Sie
trat am 27. Januar 2007 in Kraft [4].
Ziel dieser Verordnung ist es, die Entwicklung von Kinderarzneimitteln zu fördern
und mehr Informationen über die Verwendung dieser Arzneimittel in den Zulassungsdokumenten
bereitzustellen.
Das Pädiatrische Komitee (PDCO) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und die
EMA selbst haben bei der Umsetzung der Verordnung eine zentrale Rolle [5]. Pharmazeutische Unternehmer müssen dem PDCO für jedes neue, bisher nicht in der
EU zugelassene Arzneimittel ein pädiatrisches Prüfkonzept (paediatric investigation
plan, PIP) vorlegen, in dem das Konzept der Arzneimittelentwicklung für die Anwendung
in der Pädiatrie zu beschreiben ist. Eine Ausnahme von der Verpflichtung der Arzneimittelentwicklung
für Kinder kann vom PDCO durch Genehmigung einer Freistellung (Waiver) in der beantragten
Indikation gewährt werden.
Ohne endgültige Zustimmung (Opinion) des PDCO zum entsprechenden Entwicklungskonzept
(PIP oder Waiver) und Beleg über die Einhaltung der Vereinbarungen (Compliance Check)
können diese Arzneimittel auch nicht für Erwachsene zugelassen werden [4].
Ferner schreibt die Kinderarzneimittelverordnung vor, dass die Ergebnisse der klinischen
Studien, die basierend auf den Vorgaben der genehmigten PIPs durchgeführt wurden,
veröffentlicht werden müssen. Die getroffenen Entscheidungen im Zulassungsverfahren
bezüglich Indikationen, Kontraindikationen oder Warnhinweisen müssen in Absprache
mit der zulassenden Behörde in der Produktinformation für diese Arzneimittel berücksichtigt
werden.
Die Veröffentlichung ist unabhängig vom Ausgang der Studien und der Bewertung im Sinne
der Zulassung für die pädiatrische Population. Damit soll Transparenz für alle Informationen
aus der pädiatrischen Arzneimittelentwicklung für die Bevölkerung und die behandelnden
Ärzten hergestellt werden.
Die Erfolge der Umsetzung der Kinderarzneimittelverordnung seit 2007 wurden in einem
Bericht der Europäischen Kommission am 26.10.2017 [6] veröffentlicht und sind in Kürze in den folgenden Abschnitten dargestellt.
Der Bericht gibt einen umfassenden Überblick über die Auswirkungen der Kinderarzneimittelverordnung
in Bezug auf die Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder zehn Jahre nach ihrem Inkrafttreten.
Darüber hinaus hat die EU-Kommission eine Untersuchung veranlasst, die den wirtschaftlichen
Effekt der Kinderarzneimittelverordnung für die pharmazeutische Industrie und in den
nationalen Gesundheitssystemen der EU-Mitgliedsländer untersucht hat.
Mit der Veröffentlichung des Berichts geht ein mehrjähriges Projekt zu Ende, das vom
PDCO und den Mitarbeitern der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) kontinuierlich
sowie durch die Zusammenstellung der Informationen für den EMA/PDCO 10-Jahresbericht
unterstützt wurde [7].
Auswertung 10 Jahre Kinderarzneimittelverordnung
Vom Juli 2007 bis Dezember 2016 wurden vom PDCO insgesamt 950 Entwicklungspläne (PIPs)
mit den jeweiligen Antragstellern diskutiert und in einer finalen PIP-Opinion (PIP-Entscheidung)
vereinbart. Als Ergebnis dieser PIPs wurden in der EU insgesamt 221 neue Arzneimittel
speziell für die Anwendung bei Kindern einschließlich einer geeigneten Darreichungsform
zugelassen.
Die nachfolgende [Tab. 1] zeigt deutlich den Einfluss, den eine gesetzliche Verpflichtung zur Durchführung
von Zulassungsstudien bei Kindern bewirkt hat.
Tab. 1 Vergleich von Regionen mit und ohne gesetzliche Verpflichtung zur Durchführung von
Zulassungsstudien für Kinder.
|
Region mit Referenzzeitraum 2007 – 2016
|
Neue Pädiatrische Zulassungen
|
Neue/zusätzliche Pädiatrische Indikationen (Änderungsanzeigen)
|
Gesamtzahl der pädiatrischen Zulassung und Änderungsanzeigen
|
|
EU
|
80
|
141
|
221
|
|
USA
|
76
|
173
|
249
|
|
Canada
|
38
|
107
|
145
|
|
Japan
|
12
|
38
|
50
|
Im Gegensatz zu Kanada und Japan haben die Regionen USA und EU gesetzlich geregelte
Verpflichtungen für Antragsteller einer Arzneimittelzulassung, entsprechende Zulassungen
auch für Kinder zu beantragen und daher deutlich mehr pädiatrische Zulassungen.
Abb. 1 Status der Arzneimittelentwicklungen gemäß PIP Opinion.
Gemessen an dem 10-jährigen Zeitraum wirken diese Zahlen auf den ersten Blick nicht
überwältigend. Berücksichtigt man aber eine durchschnittliche Entwicklungszeit von
der ersten Testung im Menschen bis zur Zulassung eines Arzneimittels von ca. sieben
Jahren [8], dann ist anzunehmen, dass in den nächsten Jahren die Anzahl der Arzneimittelzulassungen
für die Anwendung bei Kindern weiter steigt.
Fazit
Der 10-Jahres-Bericht der EU-Kommission beschreibt die positiven Auswirkungen der
Kinderarzneimittelverordnung auf die Entwicklung von Kinderarzneimitteln in der EU.
Die Verordnung hat dafür gesorgt, dass die Entwicklung der Kinderarzneimittel zu einem
integralen Bestandteil der Gesamtentwicklung von Arzneimitteln wurde.
Die Durchführung von klinischen Studien in der Pädiatrie zur Erforschung von Wirksamkeit
und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln ist seit Einführung der Kinderarzneimittelverordnung
ein verpflichtender Bestandteil für die Zulassung neuer Arzneimittel in der EU und
ist damit zu einem evidenzbasierten Bestandteil für die Bewertung der Nutzen-Risiko-Abwägung
im Zulassungsantrag geworden.
Darüber hinaus können basierend auf den Ergebnissen aus den kontrollierten klinischen
Studien bestehende Wissenslücken in der Behandlung von Kindern weiter geschlossen
werden und damit die Arzneimitteltherapie in der Pädiatrie sicherer gemacht werden.
Dieses Ergebnis wäre ohne eine spezifische Gesetzgebung nicht erreicht worden, was
aus dem Vergleich zwischen den Regionen mit Gesetzgebung (USA und EU) und ohne Gesetzgebung
(Japan und Kanada) deutlich wird.
Ferner wurde in einer separaten Untersuchung zur finanziellen Auswirkung der Kinderarzneimittelverordnung
beschrieben, dass auch aus sozioökonomischer Sicht die Kinderarzneimittelverordnung
insgesamt positive Ergebnisse für Zulassungsinhaber und die nationalen Gesundheitssysteme
geliefert hat [9].