Weitreichende Fortschritte in der Medizin eröffnen Kindern und Jugendlichen mit chronischen
Gesundheitsstörungen neue Chancen zur Verbesserung ihrer Symptomlast, zur Reduktion
von Komplikationen und Langzeitfolgen sowie zur Steigerung der sozialen Teilhabe.
Der Erfolg der Therapien hängt jedoch wesentlich davon ab, ob es den Familien gelingt,
diese in ihrem Alltag konsequent umzusetzen.
Die Messung der Adhärenz, also des Ausmaßes, in dem das Verhalten eines Patienten
mit den Empfehlungen des Behandlers übereinstimmt, ist schwierig. Abhängig von der
Definition und den Erfassungsmethoden kommen Studien zu sehr heterogenen Ergebnissen
(vgl. DiMatteo 2004). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt jedoch, dass es
über verschiedene pädiatrische Erkrankungen nur durchschnittlich 50% der Patienten
gelingt, eine gute Adhärenz zu erzielen (Sabaté 2003). Wenn man davon ausgeht, dass
die verordneten Maßnahmen für ein optimales Therapieergebnis notwendig sind, bekommen
damit die Hälfte der Patienten keine optimale Therapie.
Sah man früher die fehlende Motivation des Patienten und seiner Familie als Hauptgrund
für Non-Adhärenz, geht man heute von einem komplexen Zusammenspiel vieler verschiedener
Faktoren aus (Sabaté 2003; [Tab. 1]). Personen, die das Therapieregime nicht einhalten, sind selten einfach unmotiviert,
sondern häufig ambivalent. D. h. sie kennen gute Gründe, die für die Therapie sprechen
(z. B. Verringern von Krankheitssymptomen, Vermeiden von Krankheitsfolgen), aber auch
viele Gründe gegen die dauerhafte Einnahme der Medikamente (z. B. fehlende Zuversicht
hinsichtlich des Therapieerfolgs, Angst vor Nebenwirkungen, Aufwand im Zusammenhang
mit der Einnahme, Einschränkung der Lebensqualität). Insbesondere bei komplexen Therapien
fehlen vielen Patienten auch das Wissen und die Fertigkeiten, die Therapie adäquat
umzusetzen (z. B. inkorrekte Berechnung der Medikamentendosis, fehlerhafte Injektion
von Medikamenten), oder die Therapieumsetzung scheitert an Barrieren im Alltag (z. B.
Widerstand des Kindes gegen die Therapie, Vergessen der Therapie durch konkurrierende
Aktivitäten, Weigerung von Kindertagesstätten, Medikamente zu verabreichen).
Tab. 1 Prädiktoren-Cluster der Adhärenz (angelehnt an WHO, Sabaté 2003).
1. Patientenbezogene Faktoren
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Kognitive Leistungsfähigkeit
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Emotionale Stabilität, psychische Gesundheit
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Akzeptanz der Krankheit, Verständnis für die Notwendigkeit der Behandlung
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Laienätiologie
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Vertrauen in die Therapie
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Krankheitsrelevante Kenntnisse und Fertigkeiten
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2. Krankheitsbezogene Faktoren
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3. Behandlungsbezogene Faktoren
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Komplexität der Therapiepläne
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Anzahl der täglichen Medikamenteneinnahmen
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Therapiedauer
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Spür-/sichtbare Wirkung, Latenz bis Wirkeintritt
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Nebenwirkungen sowie Angst vor Nebenwirkungen
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Beeinträchtigung anderer Lebensbereiche und der Lebensqualität
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4. Faktoren im Zusammenhang mit dem Gesundheitssystem und der Versorgung
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Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, Kommunikation
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Verfügbarkeit qualifizierter Angebote, Wartezeiten
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Finanzierung von Schulung und Beratung
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Einheitlichkeit von Empfehlungen
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5. Faktoren im Zusammenhang mit der sozioökonomischen Situation
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Alter
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Bildungsniveau
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Finanzielle Situation
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Familiäre/soziale Unterstützung
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Zusätzliche Belastungsfaktoren (z. B. alleinerziehend, Migrationsbiografie)
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Auch Faktoren, die nicht im Einflussbereich des Patienten liegen, sondern beim Behandlungsteam
oder dem Gesundheitssystem, können die Therapietreue beeinflussen. Fehlende Kostenübernahme,
Zuzahlungen, geringe Dichte qualifizierter Behandlungseinrichtungen und lange Wartezeiten
erschweren die adäquate Therapie.
Die Non-Adhärenz hat demnach vielfältige Ursachen. Entsprechend vielfältig und auf
die individuellen Ursachen abgestimmt müssen daher die Maßnahmen zur Verbesserung
der Adhärenz sein. Osterberg & Blaschke (2005) gliedern die Ansätze in vier Kategorien:
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Bessere Information und Schulung von Patienten
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Vereinfachung der Einnahmeschemata
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Leichterer Zugang zu klinischen Versorgungsangeboten und kürzere Wartezeiten
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Verbesserte Kommunikation zwischen Arzt und Patient
Maßnahmen, die sich auf die rein kognitive Vermittlung von Wissen konzentrieren, greifen
in der Regel zu kurz. Als erfolgreicher haben sich verhaltensbasierte und mehrere
Komponenten umfassende Maßnahmen erwiesen, die auf die Stärkung des Selbstmanagements
der Familien abzielen (Kahana et al. 2008). Dazu gehören neben am Empowerment orientierten
Patientenschulungen der altersangemessene Einbezug in die Therapie, das Einräumen
von Wahlmöglichkeiten, das Vereinbaren von Zielen, Token-Systeme, bei denen das Kind
nach jeder erfolgreichen Medikamenteneinnahme belohnt wird, und generelle Verstärkung,
um die Selbstwirksamkeitserwartung zu stärken.
Abhängig vom Zeitpunkt in der Therapie können folgende einfach in den klinischen Alltag
integrierbare Maßnahmen helfen:
1. Diagnosestellung
Wenn Familien erstmalig mit einer Diagnose oder neuen Therapie konfrontiert werden,
sind sie häufig überfordert angesichts der Fülle von Informationen. Insbesondere starke
Emotionen wie Angst und Verzweiflung erschweren das Verstehen von Informationen. In
diesen Situationen kann eine wiederholte, auf den Wissensbedarf der Familie abgestimmte
Information über die verschiedenen Therapieoptionen Erleichterung bringen. In mehreren
Gesprächen sollten realistische Ergebniserwartungen vermittelt und Befürchtungen hinsichtlich
der Einnahme und möglicher negativer Auswirkungen offen thematisiert werden. Gesprächstechniken
wie das Motivational Interviewing (Miller & Rollnick 2009) können beim Aufdecken und
Bearbeiten von Ambivalenzen hilfreich sein.
2. Planung der Therapiedurchführung und Schulung der Familien
Bei der konkreten Planung der Therapie sollte die Einfachheit des Therapieschemas
im Vordergrund stehen (u. a. wenige Tagesdosen, Verwendung von Kombinationspräparaten),
um den Therapieaufwand und mögliche Fehler zu minimieren. Dabei müssen die individuelle
Situation und die Bedürfnisse der Familie berücksichtigt werden.
Bei komplexeren Therapien brauchen die Familien zudem die notwendigen Kenntnisse und
Fertigkeiten, um die Therapie korrekt umzusetzen. Dazu gehört z. B. das praktische
Training zur Nutzung eines Pens oder Inhalators und zur Festlegung der Dosierung,
ebenso wie die Information, welche Probleme auftreten können und was dann zu tun ist.
Mögliche Barrieren, die eine Therapieumsetzung im Alltag erschweren könnten, sollten
offen diskutiert werden. Gemeinsam sollte überlegt werden, was der Familie helfen
kann, die Barrieren zu reduzieren.
Bei Typ-1-Diabetes, Asthma bronchiale, Neurodermitis und Adipositas, die ein intensives
Selbstmanagement der Familien erfordern, sind derartige Schulungen integraler Bestandteil
der Langzeittherapie (Ernst et al. 2013). Sie gehen über die reine Instruktion zum
Medikamentengebrauch hinaus und vermitteln alltagsrelevante Kenntnisse zur Therapie
und greifen auch emotionale und praktische Probleme der Krankheitsbewältigung im Familienalltag
auf.
3. Verstetigung der Therapie im Alltag
Viele Probleme bei der Therapieumsetzung fallen erst bei der Anwendung im Alltag auf.
Eine engmaschige Betreuung durch das Behandlungsteam in der Initialphase ist daher
notwendig. Aber auch im Langzeitverlauf sollte ein regelmäßiges Monitoring der Adhärenz
stattfinden. Das Auftreten von Nebenwirkungen oder Problemen bei der Therapieumsetzung
sollte dabei offen erfragt, und Erfolge sollten aufgezeigt werden. Langfristig ist
es hilfreich, wenn die Therapie Gewohnheitsstärke bekommt, indem sie z. B. an andere
Gewohnheiten wie das abendliche Zähneputzen gekoppelt wird.
Ziel all dieser Maßnahmen ist es laut Lange (2012), „… die notwendige Therapie so
im Alltag zur Routine werden zu lassen, dass alle Schritte zuverlässig bedacht und
durchgeführt werden, ohne dass es zu erheblichen Beeinträchtigungen anderer Lebensziele
und Aufgaben kommt.“ (S. 61). Dies wird nur im regelmäßigen Austausch zwischen Familie
und Behandlungsteam gelingen.