Was hat dazu geführt, dass Sie sich kritisch mit der Thematik Kastration auseinandergesetzt
haben?
Prof. Dr. Wehrend: Ich würde dies nicht als kritische Haltung bezeichnen, sondern
in meiner Funktion als Fachtierarzt und Leitung der klinischen Reproduktionsmedizin
ist eine offene Haltung und die ganzheitliche Sichtweise bei dem Thema Kastration
notwendig. Was bewirkt der Wegfall der Sexualsteroide? Dies kann nicht nur in Bezug
auf die Sexualorgane beurteilt werden, da dieser Einfluss auf den gesamten Organismus
haben. Das Tier in seiner Gesamtheit sollte im Fokus stehen.
Warum hat sich diese Sichtweise verändert?
Prof. Dr. Wehrend: Früher standen die Auswirkungen auf die Sexualorgane im Vordergrund,
im Rahmen des Erkenntnisgewinns ist das Wissen über die Wirkungen der Sexualsteroide,
z. B. auf das Immunsystem, Verhalten und auf die Zunahme von neoplastischen Erkrankungen,
sehr stark angestiegen. Außerdem haben Hundebesitzer in früheren Jahren nicht nach
den Folgen der Kastration gefragt, Tierärzte haben sich mit dieser Fragestellung wenig
beschäftigt. Heute hat der Bedarf an Aufklärung bei den Hundebesitzern stark zugenommen
und es ist notwendig, differenziertere Antworten zu geben.
In Ihrem Artikel in der „Tierärztlichen Praxis Kleintiere 4/2017 haben Sie viele Erkrankungen
beschrieben, die Folge der Kastration von Hündinnen sein können. Gibt es schon Erkenntnisse
über den Einfluss der Kastration beim Rüden?
Prof. Dr. Wehrend: Die wahrscheinlichen Auswirkungen der Kastration bei Rüden auf
andere Erkrankungen werden rechnerisch ermittelt, so ist für einen kastrierten Rüden
die Wahrscheinlichkeit, einen Diabetes mellitus zu entwickeln, um das 1,9-fache erhöht.
Allerdings sind andere Risikofaktoren noch höher, entscheidend ist dafür auch der
Kastrationszeitpunkt. Je früher Rüden kastriert werden, desto mehr steigt das Risiko.
Dazu gibt es viele neue Daten und es bleibt abzuwarten, ob diese in weiteren Studien
bestätigt werden können.Das Risiko für eine neoplastische Erkrankung (Blutzellen,
Osteosarkome, Übergangszellkarzinome) steigen bei kastrierten Rüden an. Das Risiko
für ein Prostatakarzinom steigt hingegen durch eine Kastration an, wenn auch diese
Erkrankung eher selten auftritt. Die Beratung in der Praxis im Hinblick auf das erhöhte
Risiko ist sehr schwierig. Bei einem Boxer, der an sich schon sehr tumorphil ist,
steigt durch die Kastration das Risiko, z. B. einen Mastzelltumor oder eine Inkontinenz
zu entwickeln.Bei einer therapeutischen Kastration besteht eine absolute Indikation,
wie z. B. ein Hodentumor oder Ovartumor. Anders verhält es sich bei einem relativen
Risiko. Hier gilt es abzuwägen, ob die Kastration indiziert ist oder ein nebenwirkungsarmes
Medikament zur Verfügung steht. Ein Beispiel soll dies erläutern: Ein Rhodesien Ridgeback
Rüde soll nach Wunsch des Züchters der Zucht erhalten bleiben und nimmt deswegen an
etlichen Ausstellungen erfolgreich teil. Im Alter von 4 Jahren entwickelt er eine
Prostatahyperplasie, der Besitzer lässt auf Anraten des Tierarztes den Hund sofort
kastrieren. Ein halbes Jahr später meldet sich der Züchter, da eine passende Hündin
gefunden ist, die er decken soll. Der Konflikt ist vorprogrammiert – wie ist diese
Situation zu klären? War die Kastration die einzige Lösung? Kastration als Therapie
kann auch eine schwierige Lösung sein.
Bei Katzen ist die Kastration lt. TSG erlaubt. Gibt es bei diesen Tieren Erkenntnisse
über die Auswirkungen der Kastration auf die Lebenserwartung und Folgeerkrankungen?
Wann ist hier der optimale Zeitpunkt für die Kastration?
Prof. Dr. Wehrend: Die Kastration bei Katzen hat deutlich weniger Nebenwirkungen als
bei Hunden. Je früher die Kastration stattfindet – zwischen 4. und 7. Monat –, desto
größer ist die Chance, dass die kastrierte Kätzin keine Mammatumore entwickelt. Kätzinnen
werden aus zwei Gründen kastriert: Es geht um die Vermeidung von unkontrollierter
Fortpflanzung, v. a. wenn die Kätzin in einem Mehrkatzenhaushalt mit unkastrierten
Katern lebt. Der Zeitpunkt ist dann abhängig von der Geschlechtsreife und sollte vor
Eintritt der Geschlechtsreife durchgeführt werden. Bei Einzelhaltung von Katzen kann
die Kastration solange hinausgezögert werden, bis sich die typischen sexuell motivierten
Verhaltensweisen einstellen. Nach der Kastration kommt es zu einer Umstellung im Stoffwechsel
und zur Gewichtszunahme. Viele Katzen neigen dazu und die Besitzer sind angehalten,
die Ernährung anzupassen.Die Überlebenszeit von kastrierten Kätzinnen (Freigang) ist
im Durchschnitt um 1 Jahr höher und die von kastrierten Katern um 4 Jahre. Es sind
die innerartlichen Aggressionen und Territorialkämpfe, verbunden mit Traumata und
Stress, die bei kastrierten Tieren deutlich zurückgehen. Infolgedessen sinkt auch
die Wahrscheinlichkeit, sich an einer der typischen Katzenviruserkrankungen zu infizieren
und zu sterben.
Ist die Kastration von Hunden mit dem Tierschutzgesetz und dem Codex veterinarius
vereinbar, wenn Besitzer wegen ihres sozialen Umfeldes (Zweithund, Tierpension, Bequemlichkeit,
Angst) dies verlangen?
Prof. Dr. Wehrend: Es gibt im TSG § 6 (1) 3 mögliche Gründe, wann Tiere kastriert
werden dürfen. Medizinische (tierärztliche Indikation), jagdliche Nutzung, Kontrolle
der Fortpflanzung und wenn keine tierärztlichen Bedenken der Unfruchtbarmachung zur
weiteren Haltung entgegenstehen. Je umfangreicher unser tierärztliches Wissen ist,
desto mehr spielen diese Bedenken eine Rolle. Bei Katzen gibt es deutlich weniger
Vorbehalte hinsichtlich einer Kastration als bei Hunden. Wenn Menschen Tiere in ihre
persönliche Obhut nehmen, ist stets die Frage zu stellen, ob ich es dem Tier gestatte
sich ganz auszuleben. Hier gibt es zwei Positionen. Aus Sicht der Tierrechtler gestehe
ich dem Tier gleiche Grundrechte zu wie Menschen. Die körperliche Unversehrtheit ist
zu erhalten, jede Kastration ist abzulehnen. Aus Sicht der Tierschützer leben Hund
und Katze mit Menschen zusammen und jeder macht dabei Kompromisse. Wenn ich der Kastration
einer Hündin zustimme, nehme ich in Kauf, dass die kastrierte Hündin eine Harninkontinenz
entwickelt. Ein Zustand, bei dem ich davon ausgehe, dass sich eine Hündin, die auf
Sauberkeit erzogen wurde, nicht wohl fühlt. Die Behandlung mit Sympathomimetika führt
häufig zu Herzrasen. Sie therapiert das Symptom Harninkontinenz, verursacht aber bei
dem kastrierten Tier einige Nebenwirkungen. Die Frage ist, darf ich diese Nebenwirkungen
einem Tier zumuten – ein ethisches Problem.An unserer Klinik werden viele Kastrationsberatungen
durchgeführt und 40% unserer Kunden entscheiden sich gegen eine Kastration. Ideal
wäre eine Beratung vor dem Kauf eines Hundes, damit die Kunden sich im Klaren sind,
was auf sie zukommt. Wenn ich mir z. B. einen Rüden anschaffe, sollte es mir von vorn
herein klar sein, dass Rüden markieren. Wenn ich das nicht will, kann ich alternativ
ein kastriertes Tier aus dem Tierheim wählen.Wenn in unserer Klinik Tiere mit Harninkontinenz
vorgestellt werden, empfehlen wir den Besitzern immer, wegen der Nebenwirkungen der
Therapie mit Sympathomimetika mit ganzheitlichen Therapien anzufangen und verweisen
sie an die Haustierärzte.
Können Sie sich vorstellen, in diesem Fall an Tierärzte aus der GGTM zu verweisen,
da viele Haustierärzte aufgrund ihrer Ausbildung über keine ausreichenden Kenntnisse
über ganzheitliche Therapieangebote verfügen?
Prof. Dr. Wehrend: Ja. Wir haben schon einige Vorträge mit der GGTM zusammen gestaltet,
was von den Studenten gut angenommen wurde.
Gibt es eine Dokumentationspflicht über die Aufklärungsgespräche mit den Besitzern?
Prof. Dr. Wehrend: Es ist notwendig, bei dem Beratungsgespräch auf die Nebenwirkungen
der Kastration hinzuweisen. Wer dies nicht tut und die Besitzer im Unklaren über die
möglichen Folgen lässt, hat seinen Job nicht gemacht. Dies sollte auch immer schriftlich
fixiert werden.
Frage: Wie häufig sind Ihrer Erfahrung nach Hypothyreosen nach Kastration? In der
Praxis beobachten wir dies sehr oft, besonders bei Labrador und Retriever.
Prof. Dr. Wehrend: Der Einfluss der Kastration auf Schilddrüsenerkrankungen ist aus
Sicht der Studien nicht sehr hoch. Aus Sicht des Praktikers scheint die Hypothyreose
häufiger bei kastrierten Hündinnen aufzutreten, allerdings auch bei Zuchthündinnen.
Labrador und Retriever machen einen großen Anteil der Patienten aus und scheinen eine
Prädisposition zu haben. Hundebesitzer lassen ihre Hündin wegen der Angst vor Gebärmutter-
und Ovartumoren kastrieren.
Was glauben Sie, hätte Mutter Natur sich dabei gedacht, wenn es zuträfe, dass bei
unkastrierten Hündinnen vermehrt Tumore und Erkrankungen rund um die Sexualorgane
auftreten?
Prof. Dr. Wehrend: Wir müssen zwischen dem Wildhund und dem Haustierhund unterscheiden.
Der Wildhund ist monoöstrisch, wird einmal im Jahr läufig, wird gedeckt und ist trächtig.
Die Lebenserwartung ist deutlich niedriger. Haustierhunde werden in der Regel zweimal
läufig pro Jahr, werden häufig nicht gedeckt, haben mehr Läufigkeiten als der Wildhund.
Mit der Anzahl der Zyklen steigt die Wahrscheinlichkeit für Entzündungen und neoplastische
Erkrankungen. Durch die Domestikation unterscheiden sich Haustiere auch im Bereich
der Sexualorgane von den Wildtieren, da eine erhöhte Fruchtbarkeit mit großen Würfen
und häufigem Zyklieren ein angestrebtes Zuchtziel war und ist. Um diesen neuen Erkenntnissen
über die möglichen Folgen einer Kastration Rechnung zu tragen, sind Hundehalter und
der Tierarzt gehalten, Hundeschulen auszuwählen und zu empfehlen, in denen eine Kastration
der Tiere nicht vorgeschrieben ist. Gleiches gilt für Hundepensionen. Wenn diese die
Kastration als Bedingung für die Aufnahme der Hunde stellen, ist dies aus Sicht der
Tiergesundheit abzulehnen. Die Tierhalter sollten sich ggfls. nach Alternativangeboten
umsehen.Die Kastrationspflicht, die manche Tierschutzvereine für Hunde fordern, ist
aus rechtlicher Sicht nicht haltbar.
Herr Professor Wehrend, wir bedanken uns für dieses informative und ausführliche Gespräch.