physiopraxis 2019; 17(02): 30-34
DOI: 10.1055/a-0790-5747
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Damit Leitlinien keine Leidlinien werden – Leitlinie Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall (ReMoS)

Claudia Pott
,
Jakob Tiebel

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
15. Februar 2019 (online)

 

Seit 2015 gibt es die S2e-Leitlinie ReMoS zur Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall. Bis heute gelingt die Implementierung in die klinische Praxis nur schleppend. Für Praktiker scheint es schwierig, den über 250 Empfehlungen die für sie relevanten Infos zu entnehmen. Jakob Tiebel und Claudia Pott zeigen die für Therapeuten wichtigen Aspekte in übersichtlichen Tabellen.


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Claudia Pott, BA, arbeitet seit 1993 als Physiotherapeutin in der Neuroreha und ist seit 2015 Mitherausgeberin der Zeitschrift „physioscience“. Als Dozentin der Weiterbildung „Neurophysiothe-rapie“ gibt sie ihr Wissen über nachhaltig wirksame Therapieansätze weiter.

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Jakob Tiebel ist Ergotherapeut und leitender Produktmanager bei THERA-Trainer. Er hat langjährige Erfahrung in der neurologischen Frührehabilitation gesammelt, sich auf die Implementierung geräte-gestützter Therapiekonzepte in die klinische Praxis spezialisiert und eine Initiative gegründet, Leitlinien zukünftig auch als App anzubieten.

Die S2e-Leitlinie zur Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall, kurz ReMoS, gibt es seit knapp vier Jahren. Wie jeder Leitlinie liegen ihr viel Arbeit und ein großes Engagement der Autoren zugrunde. Es existiert eine 144-seitige Lang- und eine sechsseitige Kurzfassung, die die wichtigsten Empfehlungen in übersichtlicher Tabellenform zusammenfasst (INTERNET). Leider sind beide Versionen unter Therapeuten bis heute kaum bekannt. Das ist möglicherweise dem Verbreitungsweg von Leitlinien, ihrem Umfang und den knappen Ressourcen der Therapeuten geschuldet. Haben sie sich jedoch einmal damit befasst, hilft ihnen ReMoS, jeden Patienten nach Schlaganfall evidenzbasiert zu behandeln.

Setting kann über Wahl der Intervention entscheiden

Bei der Leitlinienerstellung orientierten sich die Autoren Christian Dohle, Reina Tholen, Heike Wittenberg, Susanne Saal, Jochen Quintern und Klaus Martin Stephan an wichtigen Zielkriterien für die Mobilität. Sie stellten sich zum Beispiel die Frage: „Wenn ich bei einem Patienten die Gehfähigkeit erreichen will, welche Intervention muss ich dann anwenden?“ Um schnell zur richtigen Empfehlung zu finden, ermöglicht die Leitlinie zwei Herangehensweisen: Entweder der Leser sucht für ein bestimmtes Zielkriterium (z. B. Verbesserung der Gehgeschwindigkeit) die dafür empfohlenen Therapieformen, oder er sucht nach Empfehlungen für eine bestimmte Intervention (z. B. intensives aerobes Ausdauertraining).

Wir haben in unseren Tabellen ebenfalls beide Varianten berücksichtigt, weil wir von vielen Therapeuten die Rückmeldung bekamen, dass beide Vorgehensweisen in ihren Clinical-Reasoning-Prozessen vorkommen (VON REMOS EMPFOHLEN INTERVENTIONEN S. 32–34). Therapeutin Eva* arbeitet beispielsweise in einer modern ausgestatteten Rehaklinik. Sie hat die ReMoS-Leitline schon vor einiger Zeit für sich entdeckt. Als sie Frau Dehner* zugewiesen bekommt, deren Schlaganfall fünf Wochen zurückliegt und die noch im Rollstuhl sitzt, zieht Eva die Leitlinie zurate. Frau Dehner befindet sich in der subakuten Phase. Ihr primäres Ziel ist es, wieder gehen zu können. Eva schaut auf die Tabellen und sieht, dass für initial nicht gehfähige Patienten ein intensives Gangtraining gemacht werden sollte, empfohlen mit Endeffektorgerät (VON REMOS EMPFOHLENE INTERVENTIONEN>„Verbesserung der Gehfähigkeit“, S. 34). Eva hat Glück, die Einrichtung hat kürzlich ein solches Gerät angeschafft. Ihre Freundin Lisa* arbeitet dagegen in einer Reha ohne Endeffektorgerät. Aber auch sie kann Patienten wie Frau Dehner leitliniengerecht behandeln. Die Freundinnen lesen in der Leitlinie, dass das Endeffektortraining einem konventionellen aufgabenorientierten Training nicht unbedingt überlegen sein muss. Entscheidend ist vor allem, dass Patienten in der Frühphase intensiv üben. Mit 500–800 Schritten pro Tag soll das Gehen geübt werden, sagt die Leitlinie. Zudem stellen die Therapeutinnen fest, dass Elemente der Bewegungsvorstellung die Therapie zusätzlich unterstützen können. Sie überlegen, wie sie das noch in ihre Behandlung integrieren.

Auch Physiotherapeut Christian* nutzt die ReMoS-Leitlinie, um Frau Eisenkraut* bestmöglich zu behandeln. Die alte Dame hatte vor acht Monaten einen Schlaganfall. Von Beginn an erhielt sie evidenzbasierte Physiotherapie und ist mittlerweile ohne therapeutische Hilfe mit Rollator gehfähig. Im Gespräch erzählt sie Christian, es sei ihr nicht so wichtig, ohne Rollator zu gehen. Sie möchte schneller und länger gehen können, um ihrem Ziel „alleine einkaufen“ näher zu kommen. Christian fragt sich, welche Maßnahmen er zusätzlich zum intensiven progressiven Gangtraining auf dem Laufband noch in seine Einzeltherapie und/oder als Hausaufgabenprogramm integrieren könnte. Nach dem Blick in die Tabelle (VON REMOS EMPFOHLENE INTERVENTIONEN > „Konventionelles Gehtraining“, S. 32) beschließt er, zusätzlich mentales Training als Eigentraining anzuleiten und mit Frau Eisenkraut das Rückwärtsgehen in der Einzeltherapie zu erarbeiten.

Damit jeder Therapeut in seinem Setting die für seine Patienten bestmöglichen Therapien schnell findet, haben wir aus der ReMoS-Leitlinie Tabellen extrahiert. Sie zeigen übersichtlich, welche Interventionen, abhängig von Schweregrad, Rehabilitationsphase, Zielkriterium und Geräteausstattung für verschiedene Einrichtungen empfohlen werden.


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1. Schritt: in Rehaphase einteilen

Zu Beginn muss der Therapeut überlegen, ob sich sein Patient in der subakuten oder chronischen Phase nach dem Schlaganfall befindet. Abhängig davon unterscheiden sich die Empfehlungen teilweise.

In der Leitlinie weisen die Autoren auf die Problematik der Phaseneinteilung in der neurologischen Rehabilitation hin, die international und selbst national nicht einheitlich definiert sind. Für die Leitlinie haben sie sich dann wie folgt festgelegt:

  • subakute Phase = das Schlaganfallereignis liegt weniger als 26 Wochen zurück (< 6 Monate)

  • chronische Phase = das Schlaganfallereignis liegt mehr als 26 Wochen zurück (> 6 Monate)


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2. Schritt: Mobilitätsgrad bestimmen

Im nächsten Schritt ordnet der Therapeut die Gehfähigkeit seines Patienten einer von drei Kategorien zu:

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3. Schritt: Zielkriterien gewichten

Der Therapeut gewichtet gemeinsam mit seinem Patienten die Ziele und notiert diese. Dabei berücksichtigt er folgende vier Zielkriterien:

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4. Schritt: Empfehlungsstärke in Tabelle suchen

Die Empfehlungsstärke geben die Autoren in der Leitlinie mit A (soll), B (sollte) oder 0 (kann) durchgeführt werden an. Daran kann sich der Therapeut gut orientieren. In unserer Tabelle arbeiten wir diesbezüglich mit den Symbolen ☺☺☺, ☺☺ und ☺.

Der Übersichtlichkeit halber enthalten unsere Tabellen keine Hinweise, was nicht gemacht werden sollte. Hier empfehlen wir Therapeuten, in der Langfassung nachzulesen, was sie zugunsten empfohlener Interventionen aus ihrem therapeutischen Werkzeugkoffer herausnehmen sollten. Beispielsweise steht dort: „Es kann keine Empfehlung gegeben werden, Bobath gegenüber einer spezifischen Therapie bei chronischen Patienten vorzuziehen, um die Gehgeschwindigkeit zu verbessern“, und „Es kann keine Empfehlung gegeben werden, Bobath zur Verbesserung der Gehfähigkeit gegenüber einer spezifischen Therapie bei subakuten Patienten vorzuziehen“.


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Mit Kurzversionen schneller handlungsfähig

Es ist schwierig, Leitlinien bekannt, zugänglich und nutzbar zu machen. Damit Therapeuten Leitlinien leichter nutzen können, sollten die Empfehlungen künftig in kondensierter und überschaubarer Kurzversion für Therapeuten z. B. in „Kitteltaschenversionen“ zugänglich gemacht werden. Eine andere Möglichkeit bietet eine App-basierte Version. Erste Bemühungen gehen bereits in diese Richtung.

Aus unserer Sicht scheint es sinnvoll, Übersichten immer an Zielkriterien und nach Rehaphase und Mobilitätsgrad auszurichten. Denn dies entspricht einem am Patientenziel orientierten Ansatz und adressiert nicht primär das Portfolio der zur Verfügung stehenden Techniken und Methoden.

Internet – ReMoS-Leitlinie zum Download

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