Schlüsselwörter
amyotrophe Lateralsklerose - ALS - Motoneuron - Neuropathologie - neue Therapieansätze
Abkürzungen
ALS:
amyotrophe Lateralsklerose
ALS-FRSr:
ALS-Functional Rating Scale Revised-Score
ASO:
Anti-Sense-Oligonukleotid
BSG:
Blutsenkungsgeschwindigkeit
bvFTD:
behaviorale Variante der frontotemporalen Demenz
BWS:
Brustwirbelsäule
CIDP:
chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie
CK:
Creatinkinase
CRP:
C-reaktives Protein
DNA:
Desoxyribonukleinsäure
DTI:
Diffusions-Tensor-Bildgebung
EMG:
Elektromyografie
ENG:
Elektroneurografie
fALS:
familiäre ALS
FTD:
frontotemporale Demenz
GOT:
Glutamat-Oxalacetat-Transaminase
GPT:
Glutamat-Pyruvat-Transaminase
HIV:
humanes Immundefizienzvirus
HMNS:
hereditäre motorisch-sensible Neuropathie
HSP:
hereditäre spastische Paraparese
HTLV:
humanes T-lymphotropes Virus
HWS:
Halswirbelsäule
IBM:
Einschlusskörperchenmyositis
LDH:
Laktatdehydrogenase
MAO:
Monoaminooxidase
Nf:
Neurofilament
NIV:
nichtinvasive Beatmung
pCO2
:
Kohlendioxidpartialdruck
PEG:
perkutane endoskopische Gastrostomie
PLS:
primäre Lateralsklerose
PMA:
progressive Muskelatrophie
RNA:
Ribonukleinsäure
sALS:
sporadisch auftretende ALS
SMA:
spinale Muskelatrophie
TPA:
Treponema-Pallidum-Hämagglutinations-Assay
TSH:
Thyreoidea-stimulierendes Hormon (Thyreotropin)
ZNS:
zentrales Nervensystem
Einleitung
Die ALS ist eine neurodegenerative Erkrankung und gehört zum Formenkreis der Motoneuronerkrankungen.
Der Begriff wurde durch J. M. Charcot Ende des 19. Jahrhunderts geprägt. Er beschrieb
aufgrund von autoptischen Befunden eine Erkrankung, die mit einer Sklerosierung der
Seitenstränge des Rückenmarks (Lateralsklerose) und einer Amyotrophie der Skelettmuskulatur
einhergeht – die amyotrophe Lateralsklerose.
Im Seitenstrang verlaufen vor allem efferente motorische Bahnen, welche die oberen
Motoneurone des motorischen Kortex mit den bulbären Motoneuronen und Vorderhornzellen
im Rückenmark verbinden. Die Axone der Vorderhornzellen bilden dann die motorischen
Fasern des peripheren Nervensystems und innervieren über die motorische Endplatte
die Skelettmuskulatur. Die neuropathologische Beschreibung von Charcot weist somit
auf das für die ALS charakteristische gleichzeitige Auftreten von Zeichen einer Schädigung
des 1. und des 2. Motoneurons hin.
Die ALS ist im frühen und mittleren Krankheitsstadium ein klinisch durchaus facettenreiches
Krankheitsbild. Je nach Ort der Erstmanifestation und nachfolgendem Ausbreitungsmuster
der Erkrankung treten für den Patienten unterschiedliche Einschränkungen auf. Anhand
der Region der Erstmanifestation werden unterschiedliche Phänotypen definiert – diese
gehen im weiteren Verlauf häufig ineinander über, unterscheiden sich jedoch prognostisch.
Gemeinsam sind alle Verläufe durch fokal beginnende und sich dann kontinuierlich ausbreitende
Paresen gekennzeichnet. Diese führen letztlich durch Beteiligung der Atemmuskulatur
zum Tod durch respiratorische Insuffizienz. Je nach Familienanamnese unterscheidet
man zwischen sporadisch auftretenden Erkrankungen (sALS) und der familiären ALS (fALS).
Die Pathogenese der ALS ist bisher nur teilweise verstanden. Fehlfunktionen bei Kontrollmechanismen
der Proteinbiosynthese, bei Mechanismen der Zytoskelettdynamik, der RNA-Homöostase
und der DNA-Reparatur wird aktuell eine tragende Rolle zugeschrieben. Diese Prozesse
führen über noch weitgehend ungeklärte Wege zum Untergang von Neuronenpopulationen.
Motoneuronen scheinen hierbei gegenüber diesen Veränderungen besonders anfällig zu
sein.
Fokal beginnende und sich dann kontinuierlich ausbreitende Paresen kennzeichnen die
ALS und führen durch Beteiligung der Atemmuskulatur zum Tod durch respiratorische
Insuffizienz.
Ein 62-jähriger Patient berichtet über eine rechtsseitige Fußheberparese, die vor
ca. 1 Jahr aufgetreten sei. Seit ca. 3 Monaten sei nun auch die Fußhebung links beeinträchtigt.
In den letzten 2 – 3 Wochen habe er das Gefühl, dass nun auch das Öffnen von Hemdknöpfen
und das Drehen des Schlüssels mit der rechten Hand beeinträchtigt seien.
Es liegen eine zerebrale und spinale Bildgebung ohne wegweisende Befunde vor. Eine
Labordiagnostik und Liquordiagnostik waren bis auf eine Erhöhung der CK im Serum auf
das 1,5-Fache unauffällig.
Klinische Untersuchung
Bestätigung der geschilderten Paresen mit Myatrophie der betroffenen Regionen. Muskeleigenreflexe
ubiquitär gesteigert; Faszikulationen an allen Extremitäten.
Diagnose
Der Patient schildert ein klassisches Ausbreitungsmuster einer ALS mit Beginn an der
rechten unteren Extremität.
Epidemiologie
Das Alter bei Erstmanifestation liegt bei der sALS klassischerweise bei 60 – 65 Jahren.
Die Erkrankung kann auch im frühen Erwachsenenalter und im hohen Lebensalter auftreten.
Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Die Überlebensdauer liegt durchschnittlich
bei 3 – 5 Jahren, einige Subformen weisen deutlich langsamere Krankheitsverläufe auf.
Die Inzidenz liegt in Deutschland bei ca. 3/100 000; die Lebenszeitprävalenz bei ca.
1 : 400. Aufgrund des rasch letalen Krankheitsverlaufes wird die Prävalenz in Deutschland
aber nur auf ca. 6000 – 8000 Erkrankte geschätzt [1].
Trotz der geringen Prävalenz aufgrund des rasch letalen Krankheitsverlaufs ist die
ALS mit einer Lebenszeitprävalenz von ca.1 : 400 eine relativ häufige neurodegenerative
Erkrankung.
Tab. 1 Verteilung der Phänotypen bei der klassischen ALS [1].
Phänotyp
|
Häufigkeit
|
bulbär
|
ca. 35%
|
thorakal
|
ca. 3%
|
obere Extremität
|
ca. 27%
|
untere Extremität
|
ca. 30%
|
nicht ermittelbar
|
ca. 5%
|
Klinische Charakteristika der ALS
Klinische Charakteristika der ALS
Die ALS zeichnet sich klinisch durch drei Besonderheiten aus, die allein durch sorgfältige
Anamnese und die klinische Untersuchung erarbeitet werden können.
-
Gleichzeitiges Auftreten von Zeichen einer Schädigung des 1. und 2. Motoneurons,
-
das Spreading,
-
die typischen Paresemuster.
Zeichen des 1. und 2. Motoneurons
Bei der ALS sind nebeneinander kortikale und spinale Neuronen geschädigt. Kortikale
efferente Motorneurone innervieren mit ihren Axonen die α-Motoneurone in den Vorderhörnern
des Rückenmarks und die motorischen Hirnnervenkerne. Der Untergang der kortikalen
Motoneurone führt zum Verlust der Feinmotorik und zu zentralen Paresen. α-Motoneurone
innervieren über die motorische Endplatte die Skelettmuskulatur. Ein Absterben von
α-Motoneuronen führt zu peripheren Paresen. Das gleichzeitige Auftreten beider Paresetypen
ermöglicht die differenzialdiagnostische Abgrenzung der ALS gegenüber rein zentralen
und rein peripheren Pathologien.
Initial können Zeichen des 1. und 2. Motoneurons isoliert sowie in Kombination vorliegen.
Im weiteren Krankheitsverlauf sind bei der klassischen ALS nebeneinander Zeichen des
1. und 2. Motoneurons zu finden. Wenn die Symptome des 2. Motoneurons – vor allem
in späteren Krankheitsstadium – überwiegen, können diese die Zeichen des 1. Motoneurons
maskieren.
Zeichen des 1. Motoneurons
-
erhöhter Muskeltonus bis hin zu Spastik/Rigor mit spastisch/rigiden Paresen
-
Muskelkrämpfe
-
Feinmotorikstörung
-
gesteigerte Reflexe und Auftreten pathologischer Reflexe
-
normales Reflexniveau bei gleichzeitigem Vorliegen von Amyotrophie in der gleichen
Region
Zeichen des 2. Motoneurons
Eine Schädigung der kortikalen und spinalen/bulbären Motoneurone führt bei der ALS
zu einem Nebeneinander von Merkmalen zentraler und peripherer Paresen und ermöglicht
bereits eine Abgrenzung gegenüber einer Vielzahl von Differenzialdiagnosen.
Spreading (engl.: Ausbreitung)
Der Begriff bezeichnet den fokalen Beginn der Erkrankung mit anschließender kontinuierlicher
Ausbreitung auf benachbarte Regionen. Beginnt die ALS beispielsweise mit einer Fußheberparese
links, folgen im Anschluss meist Paresen des rechten Beines oder des linken Armes.
Gekreuzte Verläufe (z. B. Beginn an der rechten Hand, nachfolgend Manifestation am
linken Bein) kommen nur äußerst selten vor und legen Zweifel an der Verdachtsdiagnose
nahe.
Spreading ist ein Charakteristikum, das gezielt während des Anamnesegespräches erfragt
werden sollte. Ein typisches Spreading-Muster macht die Diagnose einer ALS bereits
sehr wahrscheinlich.
Typische Paresemuster
Paresen und Atrophien treten bei der ALS distal betont auf. Es liegt fast immer ein
asymmetrischer Beginn und Verlauf vor. Bestimmte Muskelgruppen sind deutlich früher
und häufiger betroffen als andere. Ein passendes lokales Verteilungsmuster der Paresen
ist ein wichtiger Hinweis für das Vorliegen einer ALS. Die α-Motoneurone der vorwiegend
betroffenen Muskulatur erhalten viele monosynaptische Verbindungen von kortikalen
Motoneuronen. Es wird vermutet, dass hierdurch prionenartige Eigenschaften des Ausbreitungsmusters
in diesen Zellen schneller zum Tragen kommen.
Paresen treten bei der ALS distal betont und asymmetrisch auf. Die typischen Paresemuster
([Tab. 2]) stellen einen wichtigen Hinweis für das Vorliegen einer ALS dar.
Unabhängig vom Ort der Erstmanifestation kommt es selbst im fortgeschrittenen Krankheitsstadium
nicht zu höhergradigen Paresen der Augenmuskulatur. Auch die Harnblasen- und Analsphinktermuskulatur
ist in der Regel nicht in relevantem Ausmaß betroffen. Einen Sonderfall stellt der
imperative Harndrang bei der primären Lateralsklerose (PLS) dar.
Klinisch sichtbare Augenmuskelparesen oder die Beeinträchtigung von Harnblasen- und
Analsphinkterfunktion sind für die ALS äußerst untypisch und sollten zu einer Überprüfung
der Diagnose führen. Sonderfall: imperativer Harndrang bei der PLS.
Tab. 2 Typische Paresemuster bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS).
|
vorwiegend betroffen
|
weniger/spät betroffen
|
spezielle Phänomene
|
frühe klinische Symptome
|
obere Extremität
|
|
|
|
|
untere Extremität
|
-
Fußheber
-
Flexion im Kniegelenk
|
-
Fußsenker
-
Extension im Kniegelenk
|
|
|
thorakal
|
|
|
|
|
zervikal
|
|
|
|
|
bulbär
|
|
|
|
-
gestörte Artikulation
-
gehäuftes Verschlucken
-
Hypersalivation
|
pseudobulbär
|
|
|
|
|
Spreading auf neuropathologischer Ebene
Ein Spiegelbild des Spreadings stellt auf neuropathologischer Ebene die ebenfalls
kontinuierliche Ausbreitung von intrazellulären hyperphosphorylierten Aggregaten des
TAR DNA-binding Protein 43 (TDP-43) im ZNS dar.
TDP-43-Proteinaggregate werden bei neuropathologischen Studien bei ALS- und Tau negativen
FTD-Patienten nachgewiesen und scheinen darüber hinaus mit einer Funktionsstörung
und dem Zelluntergang betroffener Neuronenpopulationen in Verbindung zu stehen. Zudem
wird die TDP-43-Pathologie bei der Einschlusskörperchenmyositis gefunden, welche interessanterweise
auch eine genetische Überlappung mit der ALS aufweist.
Auch bei einer Subgruppe von Parkinson- und Alzheimer-Patienten wurden TDP-43-Aggregate
als sekundäre Pathologie gefunden. TDP-43 gehört zur Proteinfamilie der heterogeneous
nuclear Ribonucleoproteins (hnRNPs). Diese regulieren den RNA-Metabolismus in allen
Stadien des RNA-Lebenszyklus. Eine Mutation im TARDBP-Gen, welches für TDP-43 codiert,
führt zu einer genetischen ALS-Variante. Mit FUS und hnRNPA1 gibt es zwei weitere
Mitglieder dieser Proteinfamilie, die im Falle einer Genmutation zu einer ALS führen
können.
Anhand der von der TDP-43-Pathologie betroffenen Regionen konnten nach Braak und Brettschneider
4 Stadien der ALS definiert werden [2]. Die Ausbreitung der Proteinpathologie im ZNS läuft bei ALS-Patienten in einer definierten
Reihenfolge ab. Dabei sind die sequenziell betroffenen Regionen teils durch relativ
große räumliche Distanzen getrennt – z. B. kortikale Motoneurone und α-Motoneurone
im Rückenmark. Sie sind jedoch durch Fasertrakte funktionell und damit über Synapsen
auch physisch eng miteinander verbunden. Eine Propagation der Proteinpathologie über
anterograden axonalen Transport wird angenommen. Hierbei scheint es zu einer prionenartigen
Ausbreitung schadhafter Proteinaggregate von Neuron zu Neuron zu kommen. Prionenartig
bedeutet bei der ALS: Schadhafte Proteinaggregate initiieren über Synapsen in benachbarten
Neuronen die Bildung weiterer schädlicher Proteinablagerungen.
Neuropathologische Studien zeigen, dass der Ursprung der TDP-43-Pathologie bei der
ALS in kortikalen Regionen liegt, insbesondere dem Motorkortex. Neben einer Affektion
der kortikalen Motoneurone sowie der von diesen direkt innervierten bulbären und spinalen
Motoneurone kommt es zu pathologischen Veränderungen in nicht motorischen kortikalen
Regionen und in subkortikalen Arealen: z. B. in den Basalganglien, in präfrontalen
Kortexarealen, im Hypothalamus und Thalamus, der Formatio reticularis und in präzerebellären
Kernen [3]. Andere Regionen sind kaum oder gar nicht betroffen.
Die unterschiedliche Vulnerabilität von subkortikalen Neuronenpopulationen gegenüber
der ALS-Pathologie könnte mit dem Ausmaß an direkten (monosynaptischen) Verbindungen
der betroffenen Kortexareale und dem unterschiedlichen Aufbau von Axonen zusammenhängen.
Möglicherweise spielt hier auch das Verhältnis an löslichem und nicht löslichen TDP-43
im axonalen Kompartiment eine wichtige Rolle [3].
Eine Ausbreitung von kortikalen Regionen entlang von Fasertrakten in Richtung der
Peripherie prägte den Begriff des kortikofugalen axonalen Spreadings [3]. Dieses neuropathologische Phänomen konnte mittlerweile auch in vivo mittels Magnetresonanztomografie
via Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) nachvollzogen werden. In einem longitudinalen
Ansatz ergab sich hierbei eine sequenzielle Beteiligung definierter Fasertrakte. Somit
konnte gezeigt werden, dass die 4 neuropathologisch gefundenen ALS-Stadien zeitlich
nacheinander durchlaufen werden und das Voranschreiten der Erkrankung widerspiegeln
[4]. Durch technische Fortschritte in der Bildakquisition könnte sich das DTI-Verfahren
in Zukunft auch als Biomarker bei der ALS eignen.
Neuropathologisch lässt sich die ALS anhand der sequenziellen Ausbreitung der TDP-43-Protein-Pathologie
in 4 Stadien einteilen. Der Begriff kortikofugales axonales Spreading beschreibt eine
prionenartige Ausbreitung von kortikal nach peripher entlang von Fasertrakten.
Nicht motorische Manifestation der ALS
Nicht motorische Manifestation der ALS
Generalisierte Faszikulationen und Muskelkrämpfe sind bei der ALS häufig und gehen
dem Auftreten von Paresen oft zeitlich voraus, sind aber weder ALS-spezifisch noch
Voraussetzung für die Diagnose. Bei isoliertem Auftreten ohne zeitgleiche oder nachfolgende
Paresen sind diese Symptome meist als benigne einzuordnen. Betroffene konsultieren
aus Sorge, an einer ALS zu leiden, häufig einen Neurologen.
Bei einer bulbären Beteiligung kommt es häufig zu einer veränderten Speichelsekretion
mit Hypersalivation. Diese scheinbare Überproduktion von Speichel (Pseudohypersalivation)
hat aber ihre Ursache in einer Schluckstörung: Der spontane Schluckvorgang gelingt
nicht mehr. Ein im Krankheitsverlauf zunehmendes Problem ist zudem zähes Sekret im
respiratorischen Trakt – in Zusammenhang mit einem abgeschwächten Hustenstoß ist es
aufgrund der Häufung respiratorischer Infekte mitbestimmend für die Prognose.
Im Rahmen der Pseudobulbärparalyse – bulbäre Affektion mit vorwiegender Beteiligung
des 1. Motoneurons – treten eine erhöhte Affektdurchlässigkeit mit pathologischem
Lachen und Weinen, gehäuftem Gähnen und Laryngospasmen auf. Die Laryngospasmen können
durch Geruchsreize provozierbar sein und stehen in Zusammenhang mit gastroösophagealem
Reflux.
Sensible Ausfälle und Schmerzen sind keine krankheitsspezifischen Zeichen einer ALS.
Sie stehen nicht im Vordergrund, können jedoch bei 20 – 30% der Patienten in milder
Form auftreten. Vor allem in der Initialphase schildern Patienten häufiger sensible
Reizerscheinungen in Körperregionen, die im Anschluss von Paresen betroffen sind [5].
Außerhalb des ALS/FTD-Subtyps kommt es bei etwa 30% der Patienten zu leichtgradigen
kognitiven Veränderungen. In der neuropsychologischen Testung zeigen sich hierbei
vor allem die Domänen Wortflüssigkeit und exekutive Funktionen signifikant verändert
[6], [7].
Multisystemerkrankung ALS
Im von der TDP-43-Pathologie regelhaft betroffenen präfrontalen Kortex ist unter anderem
das frontale Augenfeld lokalisiert. Obwohl klinisch bis zum Endstadium der ALS keine
höhergradigen Augenmuskelparesen auftreten, lässt eine neuropathologisch nachgewiesene
Affektion des frontalen Augenfeldes eine okulomotorische Beteiligung erwarten. Eine
Videookulografie ermöglicht über die exakte Verfolgung von Augenbewegungen Einblicke
in höhere neuronale Netzwerkstörungen. So können sowohl exekutive okulomotorische
Funktionsstörungen als auch subklinische Blickparesen detektiert werden.
Für die ALS konnten zwei videookulografische Stadien definiert werden, die konsistent
zu den neuropathologischen Veränderungen sind:
Ein nicht motorisches Phänomen der ALS stellt der Katabolismus mit deutlicher Gewichtsabnahme
im Krankheitsverlauf dar. Das Ausmaß des Gewichtsverlustes ist dabei nicht allein
durch die Myatrophien oder durch reduzierte Kalorienzufuhr zu erklären. Verantwortlich
hierfür ist auch eine katabole Stoffwechsellage mit erhöhtem Grundumsatz. Neuropathologisches
Korrelat hierzu ist der Nachweis der TDP-43-Pathologie im Hypothalamus – einer wichtigen
Schaltstelle bei der Regulierung des Stoffwechsels [8]. In MR-tomografischen Untersuchungen des Hypothalamusvolumens konnte eine deutliche
Korrelation zwischen Katabolismus und Grad der hypothalamischen Atrophie hergestellt
werden [9].
Die ALS gilt aufgrund der vorwiegend motorischen Klinik als Motoneuronerkrankung.
Bei genauerer Betrachtung handelt es sich aber um eine Multisystemerkrankung mit vorwiegend
motorischen Defiziten.
Eine 70-jährige Patientin berichtet, dass sie seit ca. 4 Monaten während längerer
Gespräche und nach Genuss von geringen Mengen Alkohol undeutlicher spreche. Ihre Freundin
habe gesagt, sie klinge dann, als ob sie betrunken sei. Die Symptomatik werde langsam
schlechter. Auf Nachfrage gibt sie an, sich seit Kurzem auch gehäuft zu verschlucken.
Klinische Untersuchung
In der klinischen Untersuchung zeigt sich eine diskrete Einschränkung der Zungenmotilität.
Die Zunge wirkt etwas schmächtig – keine sichere Atrophie. Der übrige neurologische
Untersuchungsbefund ist unauffällig.
Diagnose
Die Anamnese ist typisch für eine beginnende bulbäre ALS. Eine weiterführende Diagnostik
ist zu empfehlen.
Subtypen der ALS
Flail-Arm-Syndrom
Es handelt sich um eine Variante mit deutlich überwiegender Beteiligung des 2. Motoneurons,
die in der Regel nach fokalem Beginn zu einer schlaffen Paraparese der oberen Extremitäten
führt. Seltener ist eine Paraparese der unteren Extremitäten ohne Zeichen der Läsion
des 1. Motoneurons (Flail Leg). Proximal und distal beginnende Formen treten gleichermaßen
auf. Die Prognose ist meist günstiger als bei der klassischen ALS – jedoch nicht immer
[10].
Primäre Lateralsklerose (PLS)
Hier treten lediglich Zeichen des 1. Motoneurons auf. Wie bei klassischer ALS imponieren
charakteristisch:
Die von Patienten beschriebene Schwäche ist meist eine Kombination aus spastisch-rigider
Tonuserhöhung, beeinträchtigter Koordination und leichtgradiger zentraler Parese.
Höhergradige Paresen deuten eher auf eine ALS mit vorwiegender Beteiligung des 1. Motoneurons
hin – der Übergang ist jedoch fließend. Eine Dranginkontinenz ist ein häufiges Merkmal
bei der PLS.
Der Verlauf der Erkrankung ist in der Regel deutlich langsamer als bei der klassischen
ALS und die Prognose damit günstiger.
Die PLS wird von einigen Seiten als eigene Entität angesehen – Neuropathologie und
DTI-Bildgebung zeigen eine Affektion der gleichen kortikalen Regionen und Fasertrakte
wie bei der ALS, sodass wir von einer ALS-Variante mit vergleichsweiser Resistenz
der Vorderhornzellen ausgehen [3], [11].
Progressive Muskelatrophie (PMA)
Es handelt sich um eine Variante, bei der klinisch nur Zeichen der Affektion des 2. Motoneurons
nachzuweisen sind. Wie bei der klassischen ALS findet sich ein asymmetrischer Beginn
und Verlauf, Spreading und das typische Paresemuster. Die Prognose ist mit der klassischen
ALS vergleichbar.
Die PMA wird ebenfalls von einigen Seiten als eigene Entität angesehen – Neuropathologie
und DTI-Bildgebung zeigen auch hier, dass es sich eher um eine Subform der ALS handelt
[12], [13].
ALS/FTD
Hier treten gleichzeitig Merkmale der behavioralen Variante der frontotemporalen Demenz
(bvFTD) und einer ALS auf, die kognitiven Einschränkungen gehen dabei in der Regel
den motorischen Einschränkungen voraus. Die Erkrankung hat eher eine schlechte Prognose,
auch aufgrund von Malcompliance im Rahmen der frontalen Verhaltensstörung.
Das Flail-Arm-Syndrom, die primäre Lateralsklerose (PLS), die progressive Muskelatrophie
(PMA) und die ALS/FTD sind Subtypen der ALS. Die PLS hat meist einen wesentlich langsameren
Verlauf und damit eine bessere Prognose; häufig, aber nicht immer, trifft dies auch
auf das Flail-Arm-Syndrom zu.
Amyotrophe Lateralsklerose und frontotemporale Demenz – zwei Varianten einer Pathologie?
Schon lange ist bekannt, dass in Familien von ALS-Patienten auch gehäuft FTD-Fälle
beobachtet werden. Zudem zeigt die ALS/FTD eindrücklich Aspekte beider Erkrankungen.
2006 konnte mit dem Nachweis von TDP-43-Proteinaggregaten eine neuropathologische
Brücke zwischen den beiden Erkrankungen geschlagen werden [14]. Eine zusätzliche Verbindung besteht über genetische Mutationen, die sowohl zu einer
ALS auch zu einer FTD führen können – die wichtigsten Vertreter sind Mutationen im
Chromosome 9 open Reading Frame 72 (C9ORF72). Eine Repeat-Expansion in C9ORF72 stellt
die häufigste genetische Ursache der ALS und der bvFTD dar.
Welche Faktoren letztlich den klinischen Phänotyp bestimmen, wird noch erforscht –
interessant ist, dass Genträger je nach Phänotyp unterschiedliche neuroinflammatorische
Profile aufweisen. Vielversprechende Biomarker sind Chitotriosidase 1 (CHIT1) und
das glial fibrillary acidic Protein (GFAP) [15].
Genauere neuropsychologische Studien an ALS/FTD- und bvFTD-Patienten zeigen deutlich
Unterschiede im Muster der kognitiven Veränderungen und Verhaltensstörungen. Die beiden
Erkrankungen sind zwar pathogenetisch verwandt, klinisch stellen sie jedoch eher kein
kontinuierliches Spektrum dar [16].
Genetische Aspekte
Ein Ehepaar stellt sich in der Sprechstunde vor. Die Ehefrau berichtet, dass es in
den letzten 2 Jahren bei ihrem 61-jährigen Ehemann zu einem moderaten kognitiven Abbau
und zu aggressivem Verhalten gekommen sei. Im letzten halben Jahr sei ihr Mann mit
seiner rechten Hand zunehmend ungeschickter, sodass ihm öfters Gegenstände herunterfielen.
Ihn störe das alles nicht, zum Arzt habe er auch nicht gehen wollen.
Klinische Untersuchung
Klinisch imponiert der Patient im Kontakt enthemmt. Es zeigen sich Paresen an der
rechten Hand sowie Myatrophien im Sinne eines Split-Hand-Phänomens.
Diagnose
Die Anamnese legt den Verdacht auf eine ALS/FTD nahe. Eine ALS-Basisdiagnostik ist
ebenso wie eine neuropsychologische Untersuchung zu empfehlen.
In Deutschland weisen etwa 5%aller ALS-Patienten eine positive Familienanamnese auf
(fALS) [1]. Die restlichen 95% der ALS-Patienten haben keine positive Familienanamnese und
werden unter dem Begriff sporadische ALS (sALS) zusammengefasst. In den betroffenen
Familien werden wie bereits erwähnt neben weiteren Fällen von ALS gehäuft auch Fälle
von frontotemporaler Demenz (FTD) beobachtet.
Insgesamt kann aktuell bei bis zu 10% aller ALS-Fälle – sprich: fALS- und sALS-Patienten
– eine genetische Mutation identifiziert werden. Die häufigsten Gendefekte sind dabei
in absteigender Häufigkeit
Zusammengenommen sind diese drei Mutationen in Deutschland für etwa 50% der fALS-Fälle
verantwortlich [17].
Bei der sALS werden in Mitteleuropa vor allem Veränderungen im C9ORF72- und SOD-1-Gen
gefunden; andere Genmutationen sind hier selten. Ein Großteil der genetischen Mutationen
sind Miss-Sense-Mutationen. Eine Ausnahme stellt die C9ORF72-Pathologie da: Hier handelt
es sich um eine Repeat-Expansion.
In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl weiterer Genmutationen entdeckt, die zu
einer ALS führen, das Risiko, an einer ALS zu erkranken, erhöhen oder die Erkrankungsprogression
beeinflussen. Diese sind deutlich seltener als die drei o. g. Mutationen. Darüber
hinaus gibt es noch eine Reihe von Familien mit gehäuften ALS-Fällen, für die auch
mit neuesten genetischen Methoden bisher keine Mutation identifiziert werden konnte.
Es ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren noch weitere mit ALS assoziierte
Gendefekte entdeckt werden. Aufgrund von Zwillingsstudien wird der Anteil genetischer
Faktoren bei der ALS auf etwa 60% geschätzt [18]. Eine zusammenfassende Übersicht wichtiger ALS-Gene zeigt [Tab. 3] (nach [19]).
Tab. 3 Übersicht wichtiger ALS-Gene.
Physiologische Funktion
|
Gen
|
Protein
|
RNA-Homöostase
|
TARDBP
|
TDP-43
|
FUS
|
FUS
|
HNRNPA1/HNRPA2B1
|
HNRNPA1/A2B1
|
MATR3
|
Matrin 3
|
Autophagie, Proteostasis und Vesikeltransport
|
TBK1
|
TBK1
|
OPTN
|
Optineurin
|
SQSTM1
|
p62
|
C9ORF72
|
Protein C9orf72
|
UBQLN2
|
Ubiquilin 2
|
VCP
|
Valosin-containing Protein
|
VAPB
|
Vesicle-associated Membrane Protein
Associated Protein B/C
|
ALS2
|
Alsin
|
CHMP2B
|
Charged multivesicular Body Protein 2
|
Zytoskelettdynamik
|
PFN1
|
Profilin 1
|
DCTN1
|
Dynactin Subunit 1
|
NEFH
|
Neurofilament
heavy Polypeptide
|
MAPT
|
Tau Protein
|
TUBA4A
|
Tubulin A 4 alpha
|
KIF5A
|
Kinesin Family Member 5A
|
DNA-Reparaturmechanismen
|
FUS
|
FUS
|
NEK1
|
Never in Mitosis A-related Kinase 1
|
C21ORF2
|
Protein C21orf2
|
SPG11
|
Spatacsin
|
andere
|
SOD1
|
Superoxiddismutase 1
|
GRN
|
Granulin
|
Die Entdeckung neuer ALS-Gene und die Forschung an den physiologischen Funktionen
der Proteinprodukte haben in den letzten Jahren zu zahlreichen neuen Erkenntnissen
geführt. Die identifizierten Gene spielen eine wichtige Rolle bei Kontrollmechanismen
der Proteinbiosynthese, bei Mechanismen der Zytoskelettdynamik, der RNA-Homöostase
und der DNA-Reparatur. Diese Eigenschaften sind auf zellulärer Ebene miteinander funktionell
verbunden. Eine Störung in einem Teilbereich zieht häufig auch Störungen in den anderen
Bereichen nach sich. Es wird vermutet, dass diese Veränderungen letztlich in einer
gemeinsamen Endstrecke zur ALS führen.
Trotz intensiver Forschung sind die genauen Wege vom Gendefekt bis zur ALS-Pathologie
weiterhin unzureichend bekannt. Ein vollständiges genetisches Modell der ALS müsste
neben der Krankheitsentstehung auch plausible Wege für die Entstehung der heterogenen
klinischen Subtypen aufzeigen.
Die physiologischen Funktionen bekannter ALS-Gene prägen die pathophysiologischen
Hypothesen zur Entstehung der ALS. Schlüsselfaktoren sind:
-
Kontrollmechanismen der Proteinbiosynthese,
-
Mechanismen der Zytoskelettdynamik,
-
Mechanismen der RNA-Homöostase und der DNA-Reparatur.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die ALS einige Charakteristika aufweist,
die bei vielen Krebsarten ebenso beobachtet werden. Hierzu zählen:
-
Erkrankungsbeginn häufiger in höherem Alter,
-
schneller Krankheitsprogress,
-
Erkrankung betrifft spezifischen Zelltyp,
-
komplexe Vererbung.
Eine Anwendung von epidemiologischen Berechnungen, die ursprünglich aus der Krebsforschung
stammen, auf verschiedene ALS-Register lässt den Schluss zu, dass es sich auch bei
der ALS um einen mehrschrittigen Prozess handelt. Bei ALS-Patienten liegt möglicherweise
ein genetisches Risikoprofil vor, welches allein noch nicht zum Auftreten der Erkrankung
führt. Eine weitere erworbene Schädigung im Laufe des Lebens, im Sinne eines „second
Hit“, kann dann jedoch eine Kaskade in Gang setzten, die zum Ausbruch der Erkrankung
führt [20].
Neuropathologische Veränderungen im Rahmen von Genmutationen
Ein Großteil der Patienten mit genetischen Mutationen weist die bereits beschriebene
TDP-43-Pathologie auf. Einige Mutationen zeigen jedoch besondere neuropathologische
Veränderungen:
-
SOD1 und FUS: Vergleichbare Veränderungen wie bei TDP-43; jedoch durch SOD1- oder
FUS-Protein-Aggregate.
-
C9ORF72: Hier kommt es zusätzlich zur TDP-43-Pathologie zu intranukleären RNA-Foki,
ausgeprägten zytoplasmatischen Einschlüssen durch Dipeptide Repeat Proteins und zu
p62-Protein-positiven, weitgehend TDP-43-negativen Einschlüssen vor allem im Zerebellum
und Hippocampus.
-
Verschiedene Mutationen können zusätzlich zu Veränderungen führen, die nicht nur in
Neuronen, sondern auch in anderen Zelltypen auftreten, z. B. in Astrozyten, Oligodendrozyten
und Mikroglia. Die Beteiligung von Gliazellen könnte eine Rolle in der Entstehung
der ALS-Subtypen und bei der unterschiedlich raschen Krankheitsprogredienz spielen.
Neben Neuronen treten bei der ALS auch Veränderungen in Gliazellen auf. An der Bedeutung
der glialen Beteiligung in der Krankheitsentstehung, Ausbreitung, klinischen Manifestation
und dem Verlauf wird geforscht.
Ein 68-jähriger Patient stellt sich mit seit ca. 3 Jahren bestehenden Schluck- und
Sprechbeschwerden sowie einer Steifheit der Beine vor. Angefangen habe es mit immer
beschwerlicher werdendem Sprechen. Im Verlauf sei dann vor allem das rechte Bein betroffen
gewesen, später sei auch das linke Bein hinzugekommen. Klinisch zeigt sich eine deutlich
verlangsamte Zungenmotilität, ein rechtsbetontes spastisch-rigides Syndrom mit allseits
gesteigerten Muskeleigenreflexen. Atrophien lassen sich nicht feststellen. Elektrophysiologisch
ergeben sich keine wegweisenden Befunde.
Auf Nachfrage berichtet der Patient, dass er sehr schnell lachen und weinen müsse,
dies sei früher nicht der Fall gewesen. Zudem störe ihn ein plötzlich auftretender
Harndrang, der ihn dann zwinge, sehr schnell zur Toilette zu gehen. Da er es aufgrund
der zunehmenden Einschränkung beim Gehen nicht immer rechtzeitig zur Toilette schaffe,
trage er nun Einlagen und traue sich immer seltener zu gesellschaftlichen Veranstaltungen.
Diagnose
Anamnese und Befund sind typisch für eine primäre Lateralsklerose (PLS) mit zusätzlich
vorliegender Affektlabilität bei Pseudobulbärparalyse und imperativem Harndrang.
Diagnostik
Diagnosekriterien
Die Diagnosestellung bei der ALS erfolgt nach den El-Escorial-Kriterien der World
Federation of Neurology. Sie beruht vorwiegend auf Anamnese, elektrophysiologischem
und klinischem Befund. Im Verlauf wurden die El-Escorial-Kriterien um die Awaji-Kriterien
erweitert, wodurch passende elektrophysiologisch nachgewiesene neurogene Veränderungen
gleichwertig mit klinischen Befunden gesetzt wurden, sofern der klinische Verdacht
auf das Vorliegen einer ALS besteht.
Voraussetzung für die Diagnosestellung ist zunächst der Ausschluss anderer Pathologien,
die die Symptome ursächlich erklären. Hierzu zählen prinzipiell alle nicht-ALS-Pathologien,
die zu klinischen und elektrophysiologischen Zeichen der Schädigung des 1. oder 2. Motoneurons
führen.
Die ALS ist eine vorwiegend klinische Diagnose. Der Großteil der apparativen Diagnostik
dient dem Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen.
Falls keine andere Pathologie ursächlich für die Symptomatik ist, wird die Anzahl
der klinisch betroffenen Regionen bestimmt. Unterteilt wird in 4 Regionen:
-
bulbär,
-
zervikal,
-
thorakal,
-
lumbosakral.
Hierbei können die in [Tab. 4] dargestellten Konstellationen auftreten.
Tab. 4 Befundkonstellationen in der Diagnosestellung der ALS nach den El-Escorial-Kriterien
[21].
Konstellation
|
… das entspricht
|
isolierte Zeichen des 1. oder 2. Motoneurons in einer oder mehreren Regionen
|
vermutete ALS
|
Zeichen des 1. und 2. Motoneurons in einer Region
|
mögliche ALS
|
|
sichere familiäre laborgestützte ALS
|
Zeichen des 1. und 2. Motoneurons in einer Region oder 1. Motoneuron in mehr als einer
Region ohne klinische Zeichen des 2. Motoneurons plus zusätzlich vorliegende Zeichen
des 2. Motoneurons im EMG in mindestens zwei Regionen
|
wahrscheinliche ALS, laborgestützt
|
Zeichen des 1. und 2. Motoneurons in zwei Regionen
|
wahrscheinliche ALS
|
Zeichen des 1. und 2. Motoneurons in mehr als zwei Regionen
|
sichere ALS
|
Diese Kriterien wurden ursprünglich für klinische Studien entwickelt. Ein erheblicher
Nachteil besteht darin, dass die Kriterien für eine „sichere“ ALS in frühen Krankheitsstadien
nicht erfüllt werden. Zunächst müsste demnach häufig eine „mögliche“ oder „wahrscheinliche“
ALS diagnostiziert werden. Zudem werden die Subtypen der ALS nur unzureichend erfasst.
Der Einsatz im klinischen Alltag führt darüber hinaus zu einer Verzögerung der Diagnosestellung
und aufgrund der vagen Terminologie bei Patienten und den weiterbehandelnden Ärzten
häufig zu Unsicherheit und Missverständnissen. Retrospektive Daten zeigen, dass die
Rate an Fehldiagnosen auch bei „möglicher“ oder „wahrscheinlicher“ ALS äußerst gering
ist. Nicht zuletzt aufgrund zunehmender therapeutischer Möglichkeiten wurde zuletzt
immer wieder eine Überarbeitung diskutiert, denn aus pathophysiologischer Sicht scheint
es sinnvoll, Therapien möglichst früh nach Erstmanifestation einzusetzen, um den kontinuierlichen
irreversiblen Schaden an Motorneuronen zu beeinflussen.
Die El-Escorial-Kriterien wurden ursprünglich für klinische Studien entwickelt. Die
Termini „möglich“ oder „wahrscheinliche“ ALS in Arztbriefen führen häufig zu Unsicherheit
und Missverständnissen und sollten vermieden werden.
Ein Alternativvorschlag ist, die Diagnosestellung nach der „1 + 1-Regel“ zu vereinfachen:
Dabei spielt sowohl die Präsenz von Zeichen des 1. Motoneurons als auch von Zeichen
des 2. Motoneurons eine Rolle. Auch hier ist die Voraussetzung zunächst der Ausschluss
relevanter nicht-ALS-Pathologien.
Nach der „1 + 1-Regel“ kann die Diagnose gestellt werden, wenn in einer Region gleichzeitig
klinische Zeichen einer Schädigung des 1. und 2. Motoneurons vorliegen. Wenn in einer
Region nur Zeichen des 1. oder nur Zeichen des 2. Motoneurons vorhanden sind, gilt
das Betroffensein einer weiteren Region, der Nachweis eines eindeutigen genetischen
Befundes oder ein eindeutiger EMG-Befund in einer zweiten Region als zweites Argument
[22].
Von der Klinik zur Diagnose
Wie bereits erwähnt, ist die ALS eine vorwiegend klinische Diagnose. Das Hauptaugenmerk
sollte bei der Diagnostik auf den klinischen Merkmalen – Schädigung des 1. und 2. Motoneurons,
Spreading, Paresemuster – liegen.
Die zusätzliche Diagnostik kann in zwei Gruppen unterteilt werden:
-
Ausschlussdiagnostik,
-
supportive Diagnostik.
Die Elektrophysiologie als wichtigstes Diagnosewerkzeug ist dabei beiden Gruppen zuzuordnen.
Da es sich bei der ALS um eine vorwiegend klinische Diagnose handelt, ist bei Erstdiagnose
eine Vorstellung in einem spezialisierten Zentrum anzuraten.
Elektrophysiologische Diagnostik
Die Elektromyografie (EMG) dient zum Nachweis einer Schädigung des 2. Motoneurons: Typische Befunde bei
der ALS sind das Nebeneinander akuter und chronisch neurogener Veränderungen, die
den zeitlichen Ablauf der Veränderungen der α-Motoneurone widerspiegeln. Ein passender
Befund zeigt letztlich auf, dass eine Erkrankung mit einer progredienten Degeneration
peripherer motorischer Nervenfasern vorliegt.
Zeichen einer akuten Denervierung sind dabei Fibrillationspotenziale und positive
scharfe Wellen. Zeichen einer chronischen Denervierung sind polyphasische Potenziale
und ein gelichtetes Interferenzmuster. Die Diagnostik sollte in den unterschiedlichen
Regionen (bulbär, zervikal, thorakal, lumbosakral) erfolgen und kann hier auch die
subklinische Manifestation eines Befalls des 2. Motoneurons aufzeigen. Wichtig sind
in den verschiedenen Regionen klinische Kenntnisse, die zur Abgrenzung der ALS gegenüber
radikulären oder peripher neurogenen Läsionen hinzugezogen werden müssen.
Eine Elektroneurografie (ENG) dient dem Ausschluss von Pathologien an den peripheren Nerven. Mittels sensibler
Neurografie erfolgt die Abgrenzung gegenüber einer Polyneuropathie. Die motorische
Neurografie dient dem Ausschluss von Leitungsblöcken zur Abgrenzung gegenüber der
sehr selten auftretenden multifokalen motorischen Neuropathie, einer asymmetrischen,
rein motorischen Variante einer demyelinisierenden Neuropathie.
Eine EMG kann über den Nachweis von akut- und chronisch neurogenen Veränderungen die
ALS-Diagnose stützen. Eine ENG dient zur Abgrenzung der ALS gegenüber verschiedenen
Formen von Polyneuropathien. Beide Untersuchungen sind Teil der Basisdiagnostik.
Weitere Basisdiagnostik
-
Laborchemische Standarddiagnostik inklusive Lues-Suchtest, Vitaminscreening, Serumproteinelektrophorese
und Immunfixation. Die Creatinkinase (CK) kann bei der ALS aufgrund des Untergangs
denervierter Muskelfasern erhöht sein. Sehr hohe Werte sollten an die Differenzialdiagnose
einer primären Myopathie/Myositis denken lassen.
-
MRT-Bildgebung von Neurokranium und spinaler Achse. Dient vor allem dem Ausschluss
von Myelopathien und polyradikulären Läsionen.
-
Bei Verdacht auf respiratorische Beteiligung: Lungenfunktionsuntersuchung, ggf. arterielle
Blutgasanalyse oder nächtliche transkutane Kapnografie.
-
Gewicht, Körpergröße und Body-Mass-Index.
-
Erhebung des ALS-Functional Rating Scale Revised (ALS-FRSr): klinischer Score, der
mittels 12 Items die Beeinträchtigung von Patienten im täglichen Leben misst. Der
Score sollte bei jeder Vorstellung erhoben werden, um die Progressionsgeschwindigkeit
der ALS beurteilen zu können.
Fakultative Zusatzdiagnostik
Diese sollte gezielt und selektiv anhand der Anamnese und des klinischen Befundes
eingesetzt werden. Dabei sollten anhand der Beteiligung des 1. und 2. Motoneurons,
der Paresemuster, der Zusatzsymptome sowie der weiteren klinischen, laborchemischen
und bildgebenden Befunde relevante Differenzialdiagnosen identifiziert werden.
In der Frühphase manifestiert sich die ALS häufig noch fokal begrenzt, sodass eine
Reihe relevanter Differenzialdiagnosen abgeklärt werden muss. In späteren Krankheitsstadien
ist bei typischer Anamnese und klinischer Symptomatik meist die Beschränkung auf die
Basisdiagnostik ausreichend. Bei fehlender Progredienz, atypischen Verläufen oder
atypischen Manifestationsmustern sollte jedoch in jedem Stadium eine Überprüfung der
Diagnose erwogen werden.
Die laborchemische, bildgebende und erweiterte Diagnostik sollte sich nach der vorliegenden
Klinik richten und hypothesenbasiert erfolgen.
Sollten insbesondere in der Frühphase der ALS nach Abschluss einer adäquaten Diagnostik
noch Zweifel an der Diagnose bestehen, ist eine Wiedervorstellung zur Verlaufskontrolle
nach 3 – 6 Monaten sinnvoll.
Einen Überblick über Basis- und Zusatzdiagnostik fasst die Infobox „Basisdiagnostik“
zusammen (nach [23]).
Basisdiagnostik
Labor:
-
BSG, CRP
-
Differenzialblutbild
-
GOT, GPT, LDH
-
TSH
-
Vitamin B12 (Methylmalonsäure)
-
Serumproteinelektrophorese, Immunfixation
-
Creatinkinase (CK), Kreatinin
-
Elektrolyte, Glukose
-
TPHA
Elektrophysiologie:
-
Elektromyografie
-
Elektroneurografie
Bildgebung:
Sonstiges:
Fakultative Diagnostik
Sonstiges:
-
ggf. erweiterte Lungenfunktion, Peak Cough Flow, Schluckdiagnostik (ggf. Videoendoskopie),
HNO-Konsil
Neurofilamente als Biomarker für die ALS
Nach wie vor handelt es sich bei der ALS um eine klinische Diagnose, die maßgeblich
von der Expertise und Erfahrung des Untersuchers abhängt. Unter anderem deshalb werden
valide Biomarker zur Unterstützung der Diagnose, Vorhersage des Krankheitsverlaufs
und Evaluation eines Therapieansprechens gesucht.
In den letzten Jahren hat sich vor allem die Bestimmung von Neurofilamenten (Nf) bei
der ALS etabliert. Nf sind Intermediärfilamente in Neuronen und gehören neben Aktinfilamenten
und Mikrotubuli zur Klasse der Zytoskelettproteine. Sie determinieren Axonkaliber
und Leitungsgeschwindigkeit von Neuronen. Mutationen in den für Nf codierenden Genen
können neben hereditären Neuropathien (vor allem Charcot-Marie-Tooth) auch zur ALS
führen. Dies macht Nf für die ALS besonders interessant.
Anhand ihres Molekulargewichtes werden 3 Nf-Subtypen unterschieden:
-
NfL („light“),
-
NfM („medium“) und
-
NfH („heavy“).
Darüber hinaus spielt der Grad der Phosphorylierung eine wichtige Rolle. Als Biomarker
für die ALS eignen sich NfL und phosphorylierte NfH (pNfH). Nf stellen generell einen
Marker für axonalen Schaden dar und sind bei verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen
erhöht; sie sind nicht ALS-spezifisch.
Es konnte gezeigt werden, dass sowohl NfL als auch pNfH bei ALS-Patienten im Liquor
und im Serum bereits in der Frühphase der Erkrankung massiv erhöht sind und im weiteren
Krankheitsverlauf weitestgehend konstant bleiben. Hierdurch können sie zur Unterstützung
der Diagnose in der Frühphase der Erkrankung herangezogen werden [24], [25]. Zudem korreliert die Höhe der Nf mit der Progressionsgeschwindigkeit [25], [26], [27]. Im SOD1-Mausmodell konnten die pNfH durch eine Therapie mit Anti-Sense-Oligonukleotiden
(ASO) zumindest deutlich gesenkt werden [28] – ob sich dies auf den Menschen übertragen lässt, bleibt abzuwarten.
Für eine andere Motoneuronerkrankung, die spinale Muskelatrophie (SMA), gibt es bereits
ein zugelassenes ASO-Präparat. Hier konnte kürzlich bei früh behandelten Kindern unter
Therapie eine Absenkung der Nf gezeigt werden [29]. Auch bei der Multiplen Sklerose korrelieren Nf-Level mit dem Therapieansprechen
[30]. Ob und wie sich Nf zum Therapiemonitoring bei der ALS eignen, muss noch weiter
untersucht werden.
Neurofilamente sind zunehmend valide Biomarker und können die ALS-Diagnose bei passendem
klinischem Befund unterstützen – sie korrelieren zudem mit der Progressionsgeschwindigkeit,
sind jedoch nicht ALS-spezifisch.
Differenzialdiagnostik
Eine ganze Reihe von Erkrankung kann zu einer Schädigung des 1. oder 2. Motoneurons
führen und unter gewissen Umständen einer ALS in der Frühphase sehr ähnlich sein.
Die wichtigsten Differenzialdiagnosen mit nützlichen Informationen und hilfreicher
Diagnostik sind in [Tab. 5] zusammengefasst.
Tab. 5 Differenzialdiagnostik der ALS.
Pathologie
|
weitere Informationen
|
hilfreiche Diagnostik
|
strukturelle Läsionen
|
Insbesondere im Myelon: führen zu Schäden des 1. Motoneurons (kaudal der Läsion) und
des 2. Motoneurons (auf Läsionshöhe).
Häufig sind vor allem Spinalkanalstenosen, darüber hinaus stellen Syringomyelien sowie
intra- und extramedulläre Tumoren und Zysten seltenere Ursachen dar.
Engpasssyndrome (z. B. Karpaltunnelsyndrom) und Wurzelkompressionen: führen zu lokalen
Radikulopathien oder Ausfällen von peripheren Nerven – können klinisch wie eine Schädigung
des 2 Motoneurons imponieren.
Myelopathien und Radikulopathien treten auch als Komplikation einer Bestrahlung auf.
|
Myelonläsionen können mittels MR-Bildgebung gut identifiziert werden.
Radikuläre oder peripher neurogene Läsionen lassen sich klinisch über neuroanatomische
Kenntnisse zumeist abgrenzen.
|
metabolische Erkrankungen
|
Metabolische Erkrankungen können sowohl Schäden am 1. als auch am 2. Motoneuron auslösen.
In absteigender Häufigkeit sind Vitamin-B12-Mangel, Hyper-/Hypothyreose, GM-2-Gangliosidose (Hexoaminidase-A-Mangel) zu nennen.
Periphere metabolische Neuropathien können vor allem durch Diabetes mellitus, Amyloidose
und Porphyrie verursacht werden.
|
Diese Erkrankungen sind meist klinisch und laborchemisch gut abzugrenzen.
|
infektiöse Erkrankungen
|
Infektiöse Erkrankungen können zu Enzephalitiden, Myelitiden und Radikulitiden führen.
Die wichtigsten infektiösen Erkrankungen sind hierbei Borreliose, Lues und Infektionen
mit neurotropen Viren inkl. HIV.
Je nach Ort der Schädigungen kann es zu einer Beeinträchtigung beider Motoneurone
kommen.
Seltene Erkrankungen sind die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung sowie die Poliomyelitis
und das Post-Polio-Syndrom.
Eine tropische spastische Paraparese, verursacht durch eine HTLV1-Infektion, ist in
Europa eine Rarität, kann jedoch ebenfalls zu Schäden am 1. und 2. Motoneuron führen
|
Durch Labor-, Liquordiagnostik und MR-Bildgebung lassen sich Infektionen meist gut
erkennen.
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immunologische Erkrankungen
|
Zeichen beider Motoneurone: durch Paraproteine, paraneoplastische Erkrankungen und
Vaskulitiden.
Zeichen des 2. Motoneurons: im Rahmen von chronisch inflammatorisch demyelinisierenden
Polyradikulitiden (CIDP) und multifokaler motorischer Neuropathie (rein motorische
Variante einer demyelinisierenden Neuropathie).
|
Erweiterte Labordiagnostik.
ENG bei demyelinisierenden Erkrankungen.
Tumorsuche bei entsprechenden Hinweisen.
|
weitere neurodegenerative Erkrankungen
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Für das 2. Motoneuron:
Für das 1. Motoneuron:
|
Diese Erkrankungen zeichnen sich klinisch durch ein anderes Paresemuster aus.
Genetische Untersuchung bei entsprechendem Verdacht.
|
Muskelerkrankungen
|
Muskelerkrankungen können klinisch wie eine Pathologie des 2. Motoneurons imponieren.
Einschlusskörperchenmyositis (IBM): Klinisch unterscheidet sie sich von der ALS durch
eine Primärmanifestation an den Fingerflexoren, wohingegen sich die ALS zunächst an
den Fingerextensoren und Fingerspreizern manifestiert.
|
In der Regel elektrophysiologisch gut abzugrenzen.
Bei fraglichen Befunden kann eine Muskelbiopsie sinnvoll sein.
|
Therapie
Zum aktuellen Zeitpunkt fehlen kurative Therapieansätze für die ALS, sodass die symptomatische
Therapie von Krankheitssymptomen und die Hilfsmittelversorgung im Vordergrund stehen.
Durch die Fortschritte im Verständnis der Pathogenese der ALS haben sich in den letzten
Jahren jedoch neue Angriffspunkte für zukünftige Therapien ergeben.
Aufgrund der schlechten Gesamtprognose gilt es, mögliche Therapieschritte in Abwägung
des individuellen Krankheitsverlaufs und des Patientenwillens möglichst frühzeitig
und offen zu kommunizieren; in der Praxis spielt dies für das Selbstverständnis der
Patienten, die Akzeptanz der Erkrankung und die Lebensqualität eine wichtige Rolle.
Krankheitsmodifizierende medikamentöse Therapie
Riluzol
Für über 20 Jahre galt Riluzol als die einzige krankheitsmodifizierende Therapie bei
der ALS. Riluzol hemmt über spannungsabhängige Natriumkanäle am präsynaptischen Neuron
den Kalziumeinstrom und damit die Freisetzung von Glutamat. Riluzol soll einem Mechanismus
entgegenwirken, der bereits früh als zum neuronalen Schaden bei der ALS beitragend
angenommen wurde: der Glutamat-Exzitotoxizität. Durch Versagen einer schnellen Entfernung
von Glutamat aus dem synaptischen Spalt kommt es zur Destabilisierung des Membranpotenzials
und langfristig zu einem Zusammenbruch des neuronalen Energiehaushaltes.
Riluzol ist bisher die einzige Substanz, für die in Studien ein verlängertes Überleben
bei der ALS gezeigt wurde; es gilt als medikamentöse Standardtherapie für ALS.
Edaravone
In den letzten zwei Jahren wurde der Wirkstoff Edaravone in einigen Ländern zur Behandlung
der ALS zugelassen, darunter Japan, die USA, Kanada und die Schweiz. In der EU besteht
bisher noch keine Zulassung. Im Rahmen eines individuellen Heilversuchs werden auch
in Deutschland bereits Patienten behandelt.
Edaravone ist eine antioxidative Substanz, die über die Reduktion von oxidativem Stress
den Untergang von Neuronen verlangsamen soll. In einer Phase-III-Studie zeigte sich
für eine Subgruppe von ALS-Patienten in einem frühen Krankheitsstadium eine moderate
Verlangsamung der Krankheitsprogression [31]. Langzeitdaten bezüglich einer möglichen Verlängerung des Überlebens stehen noch
aus.
Bisher liegt nur eine intravenöse Formulierung vor, was die Therapie für Patienten
sehr zeitaufwendig macht. Erste Studien mit einem oralen Präparat sind für 2019 geplant.
Rasagilin
Auch für Rasagilin – ein Monoaminooxidase-B-(MAO-B)-Hemmer – gibt es seit 2018 Hinweise,
dass bei einer Subgruppe von ALS-Patienten mit raschem Fortschreiten der Erkrankung
eine Verlangsamung der Krankheitsprogression erreicht werden kann [32]. Bisher ist nur eine Off-Label-Anwendung möglich. Sowohl Edaravone als auch Rasagilin
werden als Add-on-Therapie zu Riluzol eingesetzt.
Zahlreiche weitere pharmakologische Therapieansätze zeigten seit der Zulassung von
Riluzol trotz therapeutischer Erfolge im Mausmodell keine Wirksamkeit beim Menschen
[33], [34].
Weitere, innovative Therapieansätze
Aktuell wird die gezielte Therapie genetischer Ursachen der ALS mittels Anti-Sense-Oligonukleotiden
(ASO), insbesondere bei der SOD1-Mutation, in ersten Studien untersucht. Ergebnisse
stehen noch aus. Solche Therapieansätze werden jedoch nur für Patienten mit einer
entsprechenden Genmutation verfügbar sein.
Kurative Therapieansätze stehen für die ALS bisher nicht zur Verfügung. Riluzol stellt
die medikamentöse krankheitsmodifizierende Standardbehandlung dar.
Nicht medikamentöse Therapieansätze
Eine wichtige und häufig unterschätzte Rolle spielen Physio- und Ergotherapie sowie
Logopädie. Sie tragen dazu bei, Restfunktionen zu fördern und sinnvoll einzusetzen.
Darüber hinaus gilt es, Immobilisationsfolgen wie z. B. Kontrakturen zu vermeiden.
Bei zunehmender Immobilisation ist die Hilfsmittelversorgung ebenso wie die Organisation
personeller Unterstützung mitentscheidend für eine gute Lebensqualität. Behandelnde
Ärzte nehmen in diesen Bereichen eine wichtige Rolle ein. Ein offenes Ohr für die
Sorgen und kleinen Probleme von Patienten und Angehörigen, Zeit für Rückfragen und
eine ehrliche und realistische Kommunikation von Prognose und Therapieeffekten sind
hier der Grundstein einer guten Arzt-Patienten-Beziehung.
Von Krafttraining in höherem Ausmaß ist Patienten aufgrund negativer Auswirkungen
auf das vorgeschädigte neuromuskuläre System dringend abzuraten.
Respiratorische Insuffizienz
Da die meisten ALS-Patienten im Endstadium der Erkrankung an Komplikationen einer
respiratorischen Insuffizienz versterben, sollten die medizinisch möglichen Maßnahmen
bereits früh mit dem Patienten besprochen werden. Nach Erläuterung von Therapieoptionen,
möglichen Komplikationen und den Konsequenzen einer Therapie sollte der Einsatz dieser
Maßnahmen anhand des Patientenwillens festgelegt werden.
Typische Zeichen einer beginnenden respiratorischen Insuffizienz bei der ALS sind
-
die nächtliche Hyperkapnie mit gestörtem Schlaf, Tagesmüdigkeit und morgendlichen
Kopfschmerzen,
-
respiratorische Beschwerden beim flachen Liegen und
-
Belastungsdyspnoe.
Eine Bestimmung der forcierten Vitalkapazität sollte regelmäßig erfolgen, um eine
respiratorische Verschlechterung frühzeitig zu erkennen. Bei bulbärer Beteiligung
ist eine Lungenfunktionsuntersuchung aufgrund eines unzureichenden Mundschlusses oft
nicht aussagekräftig. Eine sensitive Untersuchung, um die Einschränkung der Atempumpfunktion
einzuordnen, stellt die pCO2-Messung über eine nächtliche transkutane Kapnografie dar.
Aus therapeutischer Sicht sollte eine nichtinvasive Beatmung (NIV) bei Zeichen einer
respiratorischen Beeinträchtigung eingesetzt werden. Die primären Ziele einer NIV
sind die symptomatische Therapie und die Erhöhung der Lebensqualität – aktuelle Studien
zeigen jedoch auch einen positiven Einfluss auf das Überleben. Eine frühzeitige Eingewöhnung
bei relevanter respiratorischer Beeinträchtigung kann zu einer besseren Toleranz beitragen.
Eine hochdosierte Sauerstoffzufuhr ohne gleichzeitige NIV-Therapie kann bei einer
vorbestehenden respiratorischen Insuffizienz bei ALS-Patienten zur Abschwächung des
Atemantriebs führen.
Bei fortgeschrittener Ateminsuffizienz steht als letzter Schritt auch eine Tracheotomie
und invasive Ventilation zur Verfügung. Die Indikation hierfür bei Insuffizienz der
NIV sollte unter Berücksichtigung des individuellen Krankheitsverlaufs, des Wertegefüges
und der psychosozialen Ressourcen des Patienten wohlüberlegt erfolgen.
Bei terminaler respiratorischer Insuffizienz ist eine palliative Begleitung im Sterbeprozess
obligat.
Neben der alveolären Hypoventilation durch Beeinträchtigung der Atemmuskulatur spielt
zähes Sekret in den Atemwegen eine wichtige Rolle bei der ALS. Es tritt aufgrund der
Veränderungen der Speichelsekretion, des Schluckaktes, der Vitalkapazität und des
Hustenstoßes auf. Zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Pneumonieprophylaxe
können eine ausreichende Trinkmenge, Mukolytika und der Einsatz eines mechanischen
Hustenassistenten beitragen. Bei zusätzlicher obstruktiver Komponente ist eine entsprechende
medikamentöse Therapie sinnvoll. Darüber hinaus sind generelle Maßnahmen zur Pneumonieprophylaxe,
wie eine Grippeimpfung, zu empfehlen.
Die respiratorische Insuffizienz bei der ALS ist eine alveoläre Hypoventilation in
Folge einer abgeschwächten muskulären Atempumpe. Eine nichtinvasive Maskenbeatmung
(NIV) stellt die Therapie der Wahl dar.
Dysarthrie, Dysphagie
Bei fortschreitender Bulbärsymptomatik kommt es zu Dysarthrie und Dysphagie. Eine
ausreichende Kalorienzufuhr über die Nahrung ist dann ein häufiges Problem – ein Gewichtsverlust
gilt als negativer prognostischer Marker. Bei Dysphagie kann zur Vermeidung von Gewichtsabnahme
zunächst eine hochkalorische Trinknahrung zum Einsatz kommen.
Bei Fortschreiten der Symptomatik besteht die Möglichkeit einer perkutanen endoskopischen
Gastrostomie (PEG). So kann die Zufuhr einer ausreichenden Kalorienmenge teilweise
oder komplett über eine Magensonde erfolgen. Eine erhöhte Kalorienzufuhr und eine
fettreiche Ernährung wirken der katabolen Stoffwechsellage entgegen und haben einen
positiven Effekt auf die Prognose [35], [36].
Die Dysarthrie mit Einschränkung der Kontaktfähigkeit beeinflusst die Lebensqualität
der Patienten stark. Bei zunehmender Verständigungsproblematik ist die Versorgung
mit einem Kommunikator deshalb essenziell. Durch eine Steuerung via Eye-Tracker ist
die Aufrechterhaltung der Kommunikation auch bei fortgeschrittener Dysarthrie/Anarthrie
und hochgradigen Paresen möglich.
Hauptprobleme bei einem bulbären Verlauf der ALS sind zunehmende Dysarthrie und Dysphagie.
Die Versorgung mit einer PEG-Sonde und einem Kommunikator sichern Ernährung und soziale
Teilhabe.
Zu den häufigen Problemen einer Bulbäraffektion zählt auch die (Pseudo-)Hypersalivation,
welche durch Scopolamin-Pflaster oder alternativ durch trizyklische Antidepressiva
(z. B. Amitriptylin) und Atropin-Tropfen beherrscht werden kann. Bei dauerhafter Hypersalivation
ohne Phasen mit zu trockenem Mund stellen Botulinumtoxin-Injektionen eine therapeutische
Option dar.
Eine Hypersalivation bei bulbärer ALS führt häufig zu einer Einschränkung der Lebensqualität
und lässt sich medikamentös meist gut behandeln.
Im Rahmen einer Pseudobulbärparalyse kann es zu Laryngospasmen kommen. Diese sind
in der Regel selbstlimitierend und nicht lebensbedrohlich. Eine entsprechende Aufklärung
und das Erlernen gezielter Atemtechniken ist dabei hilfreich. Aufgrund des Zusammenhangs
mit gastroösophagealem Reflux können Protonenpumpenhemmer und Prokinetika die Häufigkeit
der Laryngospasmen reduzieren.
Muskuläre Tonuserhöhung
Im Rahmen einer ausgeprägten Beteiligung des 1. Motoneurons kommt es häufig zu einer
spastisch-rigiden Tonuserhöhung. Therapeutisch hilfreich sind hier regelmäßige physiotherapeutische
Maßnahmen. Zudem kommen Antispastika wie Baclofen zum Einsatz. Falls die Muskeltonuserhöhung
eine rigide Komponente enthält, insbesondere bei der PLS, kann auch die Gabe von L-Dopa
hilfreich sein.
Krämpfe und ausgeprägte Faszikulationen können mit Magnesium behandelt werden. Ist
dies nicht ausreichend, kommen Chininsulfat, Mexiletin und Carbamazepin als Off-Label-Anwendung
in Frage.
Psychologisch-psychotherapeutische Betreuung von Patienten und Angehörigen
Bei depressiven Episoden und starken Ängsten sind eine psychotherapeutische Mitbetreuung
und eine entsprechende medikamentöse Therapie zu empfehlen. Trotz der schlechten Prognose
treten diese Symptome eher seltener als bei anderen chronischen Erkrankungen auf.
Es zeigte sich sogar, dass sich die Lebensqualität von ALS-Patienten auch im fortgeschrittenen
Krankheitsstadium nicht wesentlich von gesunden Kontrollen unterscheidet; dies trifft
auch auf beatmete Patienten zu [37].
Die Mitbetreuung der Angehörigen ist bei der ALS von großer Bedeutung. Selbsthilfeangebote
gibt es z. B. bei der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke und über das Deutsche
Netzwerk für Motoneuronerkrankungen.
Die Therapieempfehlungen wurden in Anlehnung an die ALS-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft
für Neurologie erstellt [23].
Ausblick
Die Fortschritte, die in den letzten Jahren beim Verständnis neuroanatomischer und
molekulargenetischer Ursachen der ALS erzielt werden konnten, eröffnen Angriffspunkte
für neue Therapieansätze. Der durchschlagende Erfolg der ASO-Therapie bei der spinalen
Muskelatrophie (SMA) lässt darauf hoffen, dass sich auch bei genetischen ALS-Varianten,
insbesondere bei der SOD-1-Mutation, die Ergebnisse aus den Tiermodellen zeitnah auf
den Menschen übertragen lassen. Welche Ergebnisse bei der Therapie der sporadischen
ALS in naher Zukunft erzielt werden können, bleibt abzuwarten.
Weitere Fortschritte sind auch in der Entwicklung von Biomarkern zu erwarten. Noch
sensitivere Verfahren könnten die Diagnosestellung vereinfachen und eine bessere Abschätzung
der individuellen Prognose ermöglichen. Noch bedeutender wäre jedoch ein biomarkergestütztes
Therapiemonitoring. Hierdurch ließen sich neue Medikamente in kurzer Zeit auf ihre
Wirksamkeit testen. Eine Kombination von neuen Therapien und verbessertem Monitoring
könnte in Zukunft möglicherweise eine individualisierte ALS-Therapie ermöglichen.
Rückschläge bei der Entwicklung neuer Therapien für andere neurodegenerative Erkrankungen,
wie etwa beim Morbus Alzheimer, sollten uns jedoch vor zu großer Euphorie warnen.
-
Mit einer Lebenszeitprävalenz von ca. 1 : 400 handelt es sich um eine relativ häufige
neurodegenerative Erkrankung.
-
Fokal beginnende, sich kontinuierlich ausbreitende Zeichen einer Schädigung des 1.
und 2. Motoneurons kennzeichnen die ALS.
-
Trotz eines rasch letalen Verlaufs mit einer durchschnittlichen Überlebenszeit von
nur 3 – 5 Jahren kommt der medikamentösen und supportiven Therapie zur Beeinflussung
der Krankheitsprogression und Verbesserung der Lebensqualität eine wichtige Bedeutung
zu. Die krankheitsmodifizierenden Medikamente Edaravone und Rasagilin (beide in Deutschland
Off-Label) können bei bestimmten Subgruppen die Standardtherapie mit Riluzol erweitern.
-
Mit Voranschreiten der Erkrankung sind Katabolismus, Dysphagie und respiratorische
Insuffizienz die prognostisch entscheidenden Faktoren. In erster Linie stehen hier
als Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung:
-
eine nichtinvasive Maskenbeatmung (NIV),
-
eine hochkalorische Ernährung und
-
die Anlage einer Magensonde via perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG).
-
Neben diesen Maßnahmen bilden Hilfsmittelversorgung, Physio- und Ergotherapie sowie
Logopädie, die Einbeziehung der Angehörigen und die Förderung der psychosozialen Ressourcen
des Patienten Stützpfeiler der Versorgung.
-
Aktuelle Fortschritte im Verständnis der Krankheitsentstehung haben nun Möglichkeiten
für neue Therapieansätze eröffnet.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Prof. Dr. med. Albert C. Ludolph, Ulm.