Radikuläre Syndrome bezeichnen Laien häufig als „eingeklemmten Nerv“ – gemeint sind
ausstrahlende Schmerzen ins Bein, bei der ein oder mehrere Nerven betroffen sind und
die mit einem Funktionsverlust einhergehen können. Professioneller, um radikuläre
Beinsymptome zu beschreiben und voneinander abzugrenzen, ist die Unterteilung der
Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP). Sie unterscheidet dabei
die Syndrome in „Ischialgie“, „radikulärer Schmerz“ und „Radikulopathie“. Physiotherapeuten
und Ärzte sollten aufgrund dieser Einteilung die Syndrome voneinander abgrenzen. Doch
einfach ist die Einordnung trotz der Übersicht der IASP nicht. Chung-Wei Christine
Lin und ihr australisches Team zeigten in einer systematischen Übersichtsarbeit aus
dem Jahr 2014, dass die drei Begriffe nach wie vor uneinheitlich verwendet werden
[2]. Dies beruht vor allem auf den variablen Definitionen in der Vergangenheit. So mangelt
es beispielsweise in einzelnen Studien zur Radikulopathie an Selektionskriterien,
Testmethoden und einer klaren Schmerzlokalisation [3]. Und bei der Ischialgie und
dem radikulären Schmerz sind neurologische Zeichen in der Literatur häufig nicht einmal
beschrieben [1].
Die Begriffe Ischialgie, radikulärer Schmerz und Radikulopathie sind nicht eindeutig
definiert.
Neurodynamische Untersuchung häufig unauffällig
Neurodynamische Untersuchung häufig unauffällig
Aber warum gestaltet sich eine einheitliche Definition für radikuläre Syndrome aufgrund
einer Nervenwurzelkompression so schwierig? Eine Ursache könnte die neurologische
Untersuchung sein [3]. Denn laut Definition müssen bei einer Radikulopathie „sensorische
oder muskuläre Veränderungen in der neurologischen Untersuchung auffällig sein“, bei
einer Ischialgie die „Schmerzen dem Verlauf des Ischiasnervs folgen“ und beim radikulären
Schmerz „scharfe Schmerzen entlang eines schmalen Bandes nach distal ziehen“ ([TAB. 1]) [1]. Die neurologische Untersuchung – insbesondere die neurodynamischen Tests – haben
bei Ärzten und Physiotherapeuten einen hohen Stellenwert in der Diagnostik radikulärer
Syndrome. Scheinbar nicht zu Unrecht: Denn verschiedene Studien konnten zeigen, dass
Nervendehntests wie der Straight-Leg-Raise-Test (SLR, [ABB. 1]) und der Slump eine hohe Sensitivität aufweisen (SLR = 0,84–0,92; Slump = 0,78–1,00),
und SLR und Crossed SLR eine hohe Spezifität haben (SLR = 0,78; Crossed SLR = 0,90).
Das zeigen zwei systematische Reviews aus den Jahren 2010 [4] und 2017 [5]. Diese
Ergebnisse sollte man aber mit Bedacht interpretieren, wie van der Windt und sein
Team in einer Cochrane-Veröffentlichung schreiben [4]. Sie weisen darauf hin, dass
die in den Studien eingeschlossene Population zu 75 % einen Bandscheibenvorfall hatte,
chirurgisch behandelt werden musste und somit ein besonders schweres Spektrum der
Erkrankung vertritt [4]. Stattdessen zeigten nämlich Pradeep Suri und Kollegen 2015,
dass in einer Population, die keines chirurgischen Eingriffs bedurfte, der Straight-Leg-Raise-Test
in bis zu 63 % der Fälle trotz Schmerzen und anderer neurologischer Symptome negativ
war [6]. Und für die Upper-Limb-Neurodynamic-Tests (ULNT, [ABB. 2]) – den meistgenutzten Nervendehntest im Bereich der Halswirbelsäule – fanden Martina
Apelby-Albrecht und ihr Team, dass dieser sogar in 33–63 % negativ sein kann [7].
TAB. 1
Radikuläre Symptome lassen sich in die drei Syndrome Ischialgie, radikulärer Schmerz
und Radikulopathie unterteilen [1].
|
Ischialgie
|
Radikulärer Schmerz
|
Radikulopathie
|
Zusammenhang mit Symptomen
|
Schmerz, der dem Verlauf des Ischiasnervs folgt
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scharfer Schmerz, der entlang eines schmalen Bandes nach distal zieht
|
Subjektives Gefühl von Taubheit, Schwäche und Parästhesien kann vorhanden sein.
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Neurologische Zeichen
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nicht beschrieben
|
nicht beschrieben
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Sensorische oder muskuläre Veränderungen müssen durch neurologische oder elektro-
diagnostische Untersuchung bestätigt sein.
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Pathologie
|
Nervenwurzel- kompression
|
Läsionen, die direkt das dorsale Wurzelganglion oder indirekt den Spinalnerven einengen
und so zu einer Ischämie oder Entzündung führen
|
Läsionen, die zu einer Blockierung der Axone des Spinalnervs oder der Nervenwurzel
durch eine mechanische Einengung (Reduktion der Blutzufuhr und der Nährstoffversorgung)
führen.
|
ABB. 1 UND 2 Der Straight-Leg-Raise-Test und der Upper-Limb-Neurodynamic-Test sind bei Patienten
mit einem radikulären Syndrom der LWS bzw. HWS zu einem hohen Prozentsatz negativ.
Abb.: C. Garlich
Abb.: C. Garlich
Myotom-, Reflex- und Dermatomtests testen nicht die dünnen Nervenfasern
Myotom-, Reflex- und Dermatomtests testen nicht die dünnen Nervenfasern
Weitere gängige Untersuchungen sind Myotom-, Reflex- und Dermatomtests. In einer 2018
erschienenen Studie baten Furman und Johnson 71 Patienten mit lumbosakralen radikulären
Schmerzen, während der Injektion mit Kontrastmittel und Lidocain ihre Beinsymptome
auf einem anatomischen Diagramm einzuzeichnen ([ABB. 3], S. 39) [8]. Die häufigsten schmerzhaften Areale waren das Gesäß, der posteriore
Oberschenkel und die posteriore Wade. Dabei war allerdings egal, ob die Nervenwurzel
L3, L4, L5 oder S1 betroffen war [8]. Die Untersuchung zeigt im klinischen Erscheinungsbild
eine große Überlappung der verschiedenen Dermatome und veranschaulicht, dass die Symptomlokalisation
nicht ausreicht, um zu entscheiden, welches Segment betroffen ist [8]. Diese Überlappung
verschiedener Segment gilt auch für die Myotome. Der Grund ist bekanntermaßen, dass
sich Dermatome und Mytome überschneiden und von mehr als einem Nerv innerviert werden
können [9]. Dies kann zu einer Fehldiagnose führen. Entsprechend zeigen die Ergebnisse
zur Diagnosegenauigkeit bei Kennmuskel- und Reflextests eine geringe Sensitivität
(Kennmuskeln 0,22 für die Dermatome und 0,40 für die Myotome, Reflextests 0,29 und
0,25) und eine moderate Spezifität (Kennmuskel 0,79 und 0,62, Reflextests 0,78 und
0,75) [10]. Trotzdem muss man sich die Frage stellen, warum so viele der gängigen
neurologischen Tests unauffällig sind, obwohl ein radikuläres Syndrom vorliegt. Ein
Erklärungsmodell bietet Annina B. Schmid von der Oxford-Universität, die im Bereich
neuropathischer Kompressionssyndrome wie dem Karpaltunnelsyndrom forscht. Sie konnte
nachweisen, dass die uns bekannten Nervendehn-, Kennmuskel- und Sensibilitätstests
nur die großen, dicken Nervenfasern (dick myelinisiert) testen, die zuständig für
Motorik und Berührung sind [11]. Die kleinen, dünnen Nervenfasern (dünn myelinisiert
und nicht myelinisiert), die Kälte, Wärme und Nozizeption wahrnehmen, werden von diesen
Tests nicht tangiert [11, 12]. Diese nervalen Fasern machen 80 % des Nervs aus und
werden häufiger geschädigt, als man annimmt [13]. Larissa Baselgia und ihr Forscherteam
untersuchten 53 Patienten mit einem Karpaltunnelsyndrom und fanden heraus, dass der
ULNT in 54 % der Fälle negativ war. Bei dieser Gruppe zeigte sich eine größere Schädigung
der kleinen Nervenfasern als bei denjenigen, die einen positiven ULNT vorwiesen [14].
Ob diese Resultate auf das lumbale und zervikale radikuläre Syndrom übertragen werden
können, ist noch unklar. Eine kürzlich erschienene Studie von Brigitte Tampin, Jan
Vollert und Annina B. Schmid weist auf Parallelen im Funktionsverlust der kleinen
Nervenfasern hin [15].
ABB. 3 A UND B Die Abbildung zeigt die schmerzhaften Areale bei Patienten mit einem lumbosakralen
radikulären Syndrom der Nervenwurzeln L 3, L 4, L 5 und S 1 (A). Weder ein Abgleich
mit den Dermatomen (B) noch mit den Myotomen ist möglich.
Abb. 3A: Thieme Gruppe nach Angaben aus Furman MB, Johnson SC. Induced lumbosacral
radicular symptom referral patterns: a descriptive study. Spine J 2019; 19: 163–170;
Abb. 3B: nach Schünke M, Schulte E, Schumacher U et al. Prometheus LernAtlas der Anatomie.
Kopf, Hals und Neuroanatomie. Stuttgart: Thieme; 2015. Grafik: Karl Wesker
Die Symptomlokalisation reicht nicht aus, um zu wissen, welches Segment betroffen
ist.
Ergebnisse aus Anamnese, klinischer Untersuchung und neurologischen Tests kombinieren
Ergebnisse aus Anamnese, klinischer Untersuchung und neurologischen Tests kombinieren
Da also die Diagnosegenauigkeit einzelner neurologischer Tests ungenügend ist, empfehlen
Autoren verschiedener systematischer Übersichtsarbeiten, die Ergebnisse aus Anamnese,
klinischer Untersuchung und neurologischer Testbatterien zu kombinieren, um ein radikuläres
Syndrom ein- oder auszuschließen [4, 10, 16]. Tabelle 2 fasst die Ergebnisse aus verschiedenen
Studien und der klinischen Praxis zusammen ([TAB. 2]).
TAB. 2
Physiotherapeutische Diagnostik bei radikulären Syndromen
Anamnese
|
Klinische Untersuchung
|
Neurologische Untersuchung
|
Schmerzlokalisation
Extremität > Wirbelsäule, radikulärer Schmerzverlauf [24]
Dauer
akut, subakut, chronisch
Schmerz
konstant > intermittierend
verschlechternde Faktoren
fast alle Aktivitäten, Bewegungen und Haltungen
verbessernde Faktoren
Ruhe, Entlastung (Stufenlagerung)
Husten, Niesen, Pressen
hohe diagnostische Signifikanz, wenn die Aktivitäten die typischen Extremitätensymptome
auslösen [32]
Bildgebung
Sind im MRT Nervenwurzelkompressionen und/oder ein Bandscheibenvorfall sichtbar?
Nachtschmerz
häufig vorhanden
|
Shift (möglich)
ipsilateral > kontralateral
Bewegungsverlust
Keine bis große Bewegungseinschränkungen sind möglich.
|
Neurologische Tests HWS
Radikuläres Syndrom ist wahrscheinlich, wenn folgende drei Tests positiv sind [16]:
-
Spurling-Test
-
HWS-Distraktionstest
-
Arm-Squeeze-Test
Radikuläres Syndrom ist unwahrscheinlich, wenn die kombinierten ULNTs und der Arm-Squeeze-Test
negativ sind [16].
Neurologische Tests LWS
Radikuläres Syndrom ist wahrscheinlich, wenn zwei oder mehr der folgenden Tests positiv
sind [24, 33]:
|
MRT = Magnetresonanztomographie, ULNT = Upper-Limb-Neurodynamic-Test, SLR = Straight-Leg-Raise-Test;
Quelle: zusammengestellt aus [16, 24, 32, 33]
Etablierte Therapieverfahren weisen wenig Evidenz auf
Etablierte Therapieverfahren weisen wenig Evidenz auf
In der Behandlung radikulärer Syndrome gibt es viele verschiedene Behandlungsmöglichkeiten.
Die drei großen Säulen sind die medikamentöse, die nicht medikamentöse und die chirurgische
Therapie [17–20]. Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) sind die weltweit am häufigsten
verschriebenen Medikamente bei einem radikulären Syndrom [21]. Ihre Wirkung auf die
Schmerzen ist laut einer systematischen Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2017 von Eva
Rasmussen-Barr und Kollegen aber genauso gut wie die von Placebo. Und auch Antikonvulsiva
und Opiate sind nicht effektiver als Placebos [20, 23]. Als nicht medikamentöse Therapien
werden häufig bei radikulären Symptomen Akupunktur, Elektrotherapie und Ultraschall
angewendet. Die Evidenz zu diesen Therapieverfahren ist allerdings ebenfalls schwach
[17, 18].
Nervenmobilisationen, Traktion und wiederholte Bewegungen
Nervenmobilisationen, Traktion und wiederholte Bewegungen
Physiotherapeutische Maßnahmen, die häufig in der Behandlung von radikulären Syndromen
eingesetzt werden, sind Traktion und Nervenmobilisationen [27, 28] sowie das Vorgehen
nach den Prinzipien der Mechanischen Diagnose und Therapie [24]. Eine gründliche Untersuchung
mit wiederholten Bewegungen oder gehaltenen Positionen ist bei einem radikulären Syndrom
auch bei positivem MRT sinnvoll, da hieraus die Behandlungsstrategie abgeleitet werden
kann.
Annalie Basson und Kollegen zeigten in einer systematischen Übersichtsarbeit, dass
Nervenmobilisationen effektiv im Management von nervenbezogenen Ursachen an HWS und
LWS sind [28]. In ihrem Fazit schlagen die Wissenschaftler die SLR- und die Slump-Mobilisationen
für das lumbale radikuläre Syndrom vor und für das radikuläre zervikale Syndrom eine
zervikale laterale Gleitmobilisation (Cervical-Lateral-Glide-Mobilisation) [28].
Für die Traktion ist die Evidenz nicht so eindeutig. Zwei systematische Übersichtsarbeiten
aus den Jahren 2008 und 2013 zeigten, dass es keine Unterschiede in Funktion, Schmerz
oder Lebensqualität im Vergleich zu einer Placebo-Traktion gab [29, 30]. Eine Forschergruppe
um Julie Fritz fand hingegen heraus, dass Physiotherapie komplementiert mit Traktion
signifikant bessere Resultate zeigte als alleinige Physiotherapie [31]. Die Traktionen
applizierten die Forscher allerdings nicht klassisch manualtherapeutisch, sondern
über eine Traktionsbank oder ein Heimübungsset [31].
Eine kürzlich erschienene systematische Übersichtsarbeit eines Forscherteams der Universität
Bologna um Antonio Romeo kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Wissenschaftler zeigten,
dass eine mechanische Traktion durch ein Gerät effektiver ist, als wenn diese manuell
durchgeführt wird [27]. Sie schlussfolgern, dass aufgrund der momentanen Evidenz Traktion
als Add-on zur Physiotherapie bei zervikalen radikulären Syndromen eine Rolle spielt,
die kurz- bis mittelfristig Schmerzen und Einschränkungen verbessern kann [27].
Grundsätzlich ist und bleibt aber das Wichtigste, dass die Patienten aktiv am Behandlungsprozess
beteiligt und über die Entstehung und den Verlauf ihrer Symptome bestmöglich informiert
sind. Die Patienteninformation auf den folgenden Seiten fasst daher die wichtigsten
Informationen zusammen und zeigt zwei wichtige Eigenübungen in patientengerechter
Sprache.