Schlüsselwörter
Diagnose - Psychosomatik - Psychotherapie - pharmakologische Behandlung - psychologische
Komorbidität
Key words
Diagnosis - psychosomatics - psychotherapy - pharmacological treatment - psychological
comorbidity
Die Psychokardiologie hat in den letzten Jahrzehnten zur Bedeutung psychosozialer
Faktoren für Entstehung, Verlauf und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhebliche
Erkenntnisfortschritte erbracht, die sich in aktuellen Leitlinien und Positionspapieren
abbilden. Der Beitrag fasst den heutigen Wissensstand zusammen und will dafür sensibilisieren,
seine vielfach noch defizitäre Umsetzung in die Versorgungspraxis zu verbessern.
Teil 1
Herr M. ist ein 45-jähriger, getrennt lebender Produktionsarbeiter. Die Ehefrau war
vor 4 Jahren mit den beiden Kindern (damals 8 und 12 Jahre alt) in den benachbarten
Landkreis gezogen. Seither gibt es regelmäßig Konflikte um den Unterhalt und den Umgang
mit den Kindern, die Herr M. selten zu sehen bekommt und die sich zunehmend von ihm
abwenden. Die finanzielle Situation ist wegen der Unterhaltszahlungen angespannt.
In der seit 2 Jahren bestehenden neuen Beziehung fühlt er sich nicht wirklich wohl,
da die Partnerin (− 2 J.) erheblich durch ihren Beruf als Reinigungskraft und die
pubertäre Tochter eingespannt ist. So finden Treffen meist nur an Wochenenden statt
und stehen in Konkurrenz zu gelegentlichen Besuchen der Kinder.
Herr M. ist seit dem 15. Lebensjahr Raucher (aktuell ca. 30 Zigaretten pro Tag; 40
Pack Years). Er ernährt sich von Kantinenessen, Fast Food und Brot mit deftigem Aufschnitt;
Obst und Gemüse isst er nur selten. Bei einer Größe von 1,79 m wiegt er 92 kg. Seit
einigen Jahren ist ein erhöhter Blutdruck bekannt (Werte zunächst um 150/90 mmHg,
seit einer Verschlechterung des Arbeitsklimas mit vermehrtem Konkurrenzdruck bei instabiler
wirtschaftlicher Lage des Unternehmens und drohenden Entlassungen teilweise Werte
bis 200/110 mmHg). Blutdruckmedikamente nimmt er nur „bei Bedarf“. Herr M. hat früher
Fußball gespielt, musste dies aber mit 32 Jahren nach einem Bänderriss aufgeben. Bis
auf gelegentliche Unternehmungen mit den Kindern ist er sportlich nicht mehr aktiv.
Es bestehen einige Sozialkontakte in der Freiwilligen Feuerwehr, keine engen Freundschaften.
Haupt-Gesprächspartnerin ist die neue Partnerin, die durch ihre eigene Belastung aber
stark eingespannt ist. Herr M. tut sich ohnehin schwer, über emotionale Themen zu
sprechen. Eine mutmaßlich depressive Phase nach Auszug der Ehefrau hatte er durch
vermehrtes Arbeiten zu überwinden versucht. In den gegenwärtigen Konflikten am Arbeitsplatz
fühlt er sich einsam („da kann mir sowieso niemand helfen“).
Als er eines Tages bei der Arbeit einen drückenden Schmerz hinter dem Brustbein bekommt
und einen Schwächeanfall erleidet, schickt ihn der Vorarbeiter zum Arzt. Dort sind
die Beschwerden wieder abgeklungen. Im EKG und Labor (Troponin) findet sich kein Hinweis
auf einen akuten Herzinfarkt. Der Arzt empfiehlt aber eine weitere kardiologische
Abklärung und eine Einstellung der koronaren Risikofaktoren. Dieser Empfehlung folgt
Herr M. nicht, da die Beschwerden ja wieder gebessert seien. Insgeheim hat er Sorge,
durch Untersuchungen oder Behandlungen länger bei der Arbeit zu fehlen und seinen
Arbeitsplatz zu verlieren. Er möchte sich vor den Kollegen in der momentanen Situation
auch keine Blöße geben. Zudem ängstigt ihn die Vorstellung eines möglichen operativen
Eingriffs. Den Gedanken, dass eine ernsthafte Herzkrankheit vorliegen könnte, schiebt
er beiseite. In der Folgezeit wiederholt auftretende Thoraxschmerzen unter Belastung
führt er auf Trainingsmangel und das Rauchen zurück, das er aber weiterhin als Stresspuffer
benötigt und daher nicht aufgeben kann.
Einleitung
Zusammenhänge zwischen psychischem Befinden und Herzfunktionen bzw. ‑krankheiten sind
seit der Antike bekannt. So erwähnt bereits der Papyrus Ebers aus dem 16. vorchristlichen
Jahrhundert, dass Trübnis das Herz einenge, durch Zorn Finsternis in den Leib eindringe
und das Herz „fresse“ [1]. Das Herz als gefühlter Sitz der Seele bzw. interpersoneller Verbundenheit findet
sich vielfach in literarischen Metaphern und der Umgangssprache. Heute sind die Wechselbeziehungen
psychosozialer und somatischer Vorgänge im Kontext von Herzbeschwerden und ‑erkrankungen
gut belegt. Psychokardiologische Inhalte haben Eingang in Leitlinien und Positionspapiere
zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zunehmend auch in die Aus-, Fort-
und Weiterbildung von Ärzten und Psychotherapeuten gefunden. Sie stellen die Grundlage
für eine verstärkte Beachtung psychosozialer Aspekte in kardiologischen Präventions-,
Behandlungs- und Rehabilitationsangeboten sowie für die Entwicklung spezifischer psychokardiologischer
Behandlungsangebote dar.
Trotz des Vorhandenseins von Leitlinieninhalten zur Psychokardiologie sind Behandlungsangebote
zu dieser Thematik vielfach erst ungenügend in der Praxis angekommen.
Der vorliegende Beitrag versucht in 2 Strängen, einerseits einen Überblick über den
heutigen Wissensstand der Psychokardiologie zu geben und andererseits einen Patientenfall
mit den trotz des fortgeschrittenen Wissens typischen Problemen zu skizzieren. Beide
Stränge sollen abschließend zusammengeführt und verbunden werden.
Psychosomatische Effekte auf das Herz-Kreislauf-System
Psychosomatische Effekte auf das Herz-Kreislauf-System
Einflussfaktoren auf Entstehung und Verlauf ausgewählter kardiovaskulärer Erkrankungen
Die europäische Leitlinie zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen [2] benennt folgende psychosoziale Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen:
-
niedrigen sozioökonomischen Status
-
mangelhafte soziale Unterstützung
-
Stress im Beruf und Familienleben
-
Feindseligkeit
-
Depression
-
Angst
-
andere psychische Störungen
Insbesondere die Depression gilt als weitgehend gesicherter prognostischer Risikofaktor
bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit [3]
[4]
[5], Herzinsuffizienz [5]
[6] und implantierten Defibrillatoren [7].
Epidemiologische Befunde belegen die Bedeutung psychischer und sozialer Faktoren für
Entstehung und Verlauf von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Im aktuellen Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie zu psychosozialen
Faktoren in der Kardiologie [5] nennen die Autoren darüber hinaus speziell für die koronare Herzkrankheit (KHK)
weitere psychosoziale Risikofaktoren:
-
Schicht-, Nacht- und exzessive Mehrarbeit
-
vitale Erschöpfung
-
Angsterkrankungen, insbesondere phobische Angst und Panikstörungen
-
posttraumatische Belastungsstörungen
-
Schizophrenie
Zudem sind ausgeprägte akute Stresssituationen (z. B. Angst, Ärger, Trauer) häufige
Auslöser von Myokardinfarkten.
Als psychosoziale Schutzfaktoren gegen Entstehung und ungünstige Verläufe einer KHK
gelten gute soziale Unterstützung und das Zusammenleben in Ehe und Familie [5].
Demgegenüber sind bei der chronischen Herzinsuffizienz neben der Depression bzw. Depressivität
weitere psychosoziale Risiko- oder Prognosefaktoren bislang nicht hinreichend gesichert.
Allerdings findet sich eine akute Herzinsuffizienz im Rahmen von Tako-Tsubo- (oder
Stress-) Kardiomyopathien (auch als „Broken-Heart“-Syndrom bezeichnet) deutlich gehäuft
in akuten psychosozialen Belastungssituationen sowie bei Personen mit vorbekannten
psychischen Störungen, insbesondere affektiven und Angststörungen [5]
[8].
Psychosoziale Faktoren wie Depressivität, Angst und Typ-D-Persönlichkeit (also die
habituelle Neigung, unter negativen Affekten zu leiden bei gleichzeitiger sozialer
Inhibition) erhöhen bei Herzpatienten das Risiko für ventrikuläre und/oder supraventrikuläre
Herzrhythmusstörungen. Zudem kann ausgeprägter, akuter Stress ventrikuläre Tachykardien
auslösen [5].
Unklar ist derzeit noch die Bedeutung psychosozialer Kausalfaktoren bei der Entstehung
der arteriellen Hypertonie. Vielfach finden sich keine konsistenten linearen Zusammenhänge
zwischen den untersuchten psychosozialen Faktoren und der Entstehung einer Hypertonie.
Dies liegt vermutlich daran, dass der Blutdruck durch ein komplexes Feedbacksystem
geregelt wird (siehe Kapitel „Psychophysiologische Effekte“).
Grundlegende Mechanismen
Für die beschriebenen psychosomatischen Zusammenhänge im Kontext von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
wurde mittlerweile eine Reihe von beteiligten Mechanismen identifiziert. Diese lassen
sich grob einteilen in psychosoziale Effekte auf das Gesundheitsverhalten sowie „direkte“
psychophysiologische Effekte, die sich auf das Herz-Kreislauf-System auswirken. Beide
Wege interagieren zudem miteinander und entwickeln sich entlang der individuellen
Lebenslinie.
Gesundheitsverhalten
Psychosoziale Risikofaktoren unterminieren die Motivation, sich an Behandlungsempfehlungen
zu halten. Disstresserleben, Depressivität oder Ängste vor z. B. Medikamentennebenwirkungen
oder Überforderung des Herzens durch Sport führen so selbst bei Einsicht in die Notwendigkeit
eines empfohlenen Verhaltens zu Nonadhärenz gegenüber prognostisch günstigen Medikamenten
und Verhaltensweisen. Einige Risikoverhaltensweisen, wie z. B. Frustessen oder Rauchen,
dienen zudem kurzfristig der Emotionsregulation und können aus diesem Grund nicht
ohne Weiteres aufgegeben werden [9]. Fehlernährung oder Rauchen haben ihrerseits physiologische Konsequenzen (z. B.
Entwicklung eines metabolischen Syndroms, Vasokonstriktion), die mit psychophysiologischen
Prozessen in der Krankheitsentstehung interagieren.
Psychosoziale Risikofaktoren wirken als Barrieren gegen gesundheitsbewusstes Verhalten
[2].
Psychophysiologische Effekte
Stress und psychische Störungen beeinflussen die Funktion der neurohumoralen Stressachsen.
Eine Störung der autonomen Balance bewirkt Funktionsänderungen an Herz und Gefäßen
mit verstärkter kardialer Arbeit, Vasokonstriktion und Blutdruckerhöhung, was langfristig
zu Gefäßschäden und einer Druckbelastung des Herzens führt. Die Herzfrequenzvariabilität
nimmt ab, was die Anfälligkeit für Herzrhythmusstörungen erhöht. Zusätzlich führt
die sympathische Aktivierung zu vermehrter Gerinnungsneigung und zur Aktivierung von
Entzündungsprozessen, die u. a. in den Herzkranzgefäßen zur Entstehung von Plaques
beitragen.
Bei vielen kardiovaskulär schädlichen psychophysiologischen Prozessen handelt es sich
um Störungen selbstregulierter Feedbacksysteme. So führt etwa die stressbedingte Blutdruckerhöhung
zunächst in aller Regel zu einer Barorezeptor-vermittelten Gegenregulation mit Aktivierung
des Vagus und Absinken der Herzfrequenz, wodurch sich der Blutdruck wieder auf ein
Normalmaß einpendelt. Allerdings hat die Barorezeptor-Aktivierung einen über die Blutdruckregulation
hinausgehenden beruhigenden und schmerzlindernden Effekt auf das Zentralnervensystem,
sodass die Blutdrucksteigerung als Mittel der Selbstberuhigung „gelernt“ werden und
dadurch chronifizieren kann [10]. Auch beim Versagen der Gegenregulationsprozesse, etwa nach schwerer Traumatisierung
bzw. bei posttraumatischer Belastungsstörung (z. B. [11]) oder bei chronischer Unterdrückung negativer Emotionen [12], scheint es zum gehäuften Auftreten einer Hypertonie zu kommen.
Gestörte Feedbackmechanismen sind häufig ursächlich an psychophysiologischen Prozessen
beteiligt.
Wie die Blutdruckerhöhung kann auch die Entzündungsaktivierung auf das ZNS zurückwirken
und das sogenannte „Sickness Behavior“ [13] auslösen, also einen depressionsähnlichen Zustand von Erschöpfung, Rückzug und Schmerzempfindlichkeit,
der in einen Teufelskreis aus Stress und Inflammation münden kann.
Teil 2
Zwei Jahre nach dem o. a. Ereignis wacht Herr M. nachts gegen 4 Uhr mit starken retrosternalen
Schmerzen auf, die in Rücken und Unterkiefer ausstrahlen. Herr M. ist kaltschweißig
und stark verängstigt. Er beruhigt sich zunächst etwas mit der Erklärung, dass er
sich vermutlich nur den Magen verdorben habe und trinkt dagegen ein Glas Milch. Das
hilft ihm wenig, was die Angst wieder größer werden lässt. Sollte es doch etwas mit
dem Herzen sein? Ist es vielleicht wirklich so gefährlich, wie es sich anfühlt? Ob
er einen Krankenwagen rufen soll? Aber es wäre doch peinlich, wenn am Ende nichts
Ernstes vorliegt. Als Simulant möchte Herr M. nicht dastehen. Vielleicht wird es doch
von selbst wieder besser. Bislang war ja auch nie etwas Schlimmes passiert.
Die Schmerzen setzen Herrn M. zu, aber er beißt die Zähne zusammen. Er läuft durch
die Wohnung, versucht sich abzulenken. Dann steckt er sich eine Zigarette an, wie
so oft in Stresssituationen.
Aber die Schmerzen werden nicht besser. Er sollte wohl doch gleich morgens zum Hausarzt
gehen. Als die Schmerzen auch um 7:30 Uhr noch nicht nachgelassen haben, macht er
sich auf den Weg zum Hausarzt. Dort kollabiert er in der Wartezone. Das EKG zeigt
einen akuten ST-Hebungs-Hinterwandinfarkt und einen intermittierenden AV-Block 3.
Grades. Der Hausarzt veranlasst einen Notarzteinsatz mit Transport in die Klinik.
Dort erfolgt umgehend eine Herzkatheteruntersuchung, in deren Rahmen ein großes verschlossenes
Herzkranzgefäß wiedereröffnet und mit einem Stent versorgt wird. Herr M. wird nach
der erfolgreichen Intervention auf die Überwachungsstation verlegt.
Das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die zugrunde liegenden physiologischen
Störungen und Verhaltensweisen werden durch belastende Erfahrungen bzw. Traumatisierungen
in Kindheit und Jugend mitbestimmt. Diese führen über z. T. epigenetische Prozesse
zu einer Umprogrammierung des Organismus und hieraus erhöhter Stress- und Krankheitsanfälligkeit
[14]
[15]. Dies und die Erkenntnis, dass die Entwicklung kardiovaskulärer Erkrankungen häufig
bereits im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter einsetzt, unterstreichen die Bedeutung
biografischer Faktoren in der Krankheitsentstehung, in der biologische, psychische
und soziale Prozesse entlang der Lebenslinie miteinander interagieren [16].
Somatopsychische Effekte kardiovaskulärer Erkrankungen auf das psychische Befinden
Somatopsychische Effekte kardiovaskulärer Erkrankungen auf das psychische Befinden
Grundlegende Mechanismen
Psychologische Effekte von Herzkrankheiten und ihrer Behandlung
Durch eine Herzerkrankung werden die Patienten nahezu notwendigerweise mit Themen
von Kontrollverlust und Todesdrohung konfrontiert. Hinzu kommen konkrete, oft beeinträchtigende
Symptome wie Angina pectoris oder Luftnot und allgemein reduzierte Leistungsfähigkeit.
Zusätzlich sehen sich Patienten vielfach mit der – für die Sekundärprävention wesentlichen,
aber oft unpräzise formulierten – Forderung nach Veränderung des Lebensstils konfrontiert.
Hinsichtlich deren Umsetzbarkeit besteht oft große Ungewissheit, z. B. wenn Patienten
nicht wissen, wie intensiv sie sich bewegen dürfen oder gar sollen, ohne ihr Herz
dabei zu überfordern. Meist ist eine regelmäßige Einnahme mehrerer Herzmedikamente
notwendig, deren befürchtete oder real eintretende Nebenwirkungen die Lebensqualität
beeinträchtigen können. Zudem erinnert die regelmäßige Medikamenteneinnahme täglich
an die kardiale Vulnerabilität.
Die Rückwirkungen der Herzkrankheit auf das subjektive Befinden können sowohl durch
psychologische als auch durch biologische Mechanismen erklärt werden.
Notwendige, teilweise invasive Behandlungen mit begleitenden Ängsten und Schmerzen
erfordern umfangreiche psychische Anpassungsleistungen. Dies gilt besonders für größere
operative Eingriffe bis hin zur Herztransplantation sowie für die längerfristige Versorgung
mit Kunstherzsystemen oder implantierten Defibrillatoren, insbesondere wenn Letztere
wiederholt Stromstöße zur Beendigung von Herzrhythmusstörungen abgeben müssen.
Vielen Patienten gelingen diese Anpassungsprozesse, insbesondere bei gutem sozialen
Rückhalt und ärztlicher Begleitung, mittelfristig gut. Bei einer relevanten Minderheit
kommt es aber zu psychischen Störungen mit Krankheitswert, v. a. Anpassungs- und Belastungsstörungen,
depressiven Episoden oder sekundären Herzangststörungen mit Somatisierungsneigung
(siehe Kapitel „Psychische Komorbiditäten“). Umgekehrt findet sich nicht selten eine
ausgeprägte Verleugnung und Delegation der Verantwortung für die Erkrankung an die
behandelnden Ärzte oder gar die fatale Verkennung, dass nach der technischen „Reparatur“
einer Herzerkrankung wieder alles in Ordnung sei.
Physiologische Rückwirkungen auf das Befinden
Die morphologische Schwere einer Herzerkrankung korreliert allenfalls schwach mit
der subjektiv wahrgenommenen Beeinträchtigung. Mehr als einzelne kardiale Messwerte
spielen hierfür die Reaktion des gesamten Organismus auf die Herzerkrankung und bereits
vorbestehende Regulationsstörungen die entscheidende Rolle.
Bei der Reaktion des gesamten Organismus spielen Entzündungsprozesse und ihre Wechselwirkung
mit psychischen Faktoren (s.Kapitel „Grundlegende Mechanismen“) und eventuell auch
Veränderungen im Darmmikrobiom eine wichtige Rolle.
Andererseits verfügt der Organismus über zahlreiche neurohumorale Gegenregulationsmechanismen,
mit denen bei gestörter Herzfunktion die Homöostase im Organismus aufrechterhalten
wird. Diese Mechanismen sind teilweise langfristig ungünstig und dienen daher als
Ansatzpunkt medikamentöser Therapien mit z. B. Betablockern und ACE-Hemmern. Teilweise
scheinen sie aber auch günstige Effekte zu haben, sodass ihre pharmakologische Verstärkung
angestrebt wird. Hier ist insbesondere das kürzlich in die Herzinsuffizienztherapie
eingeführte Sacubitril zu nennen, das den Abbau natriuretischer Peptide im Organismus
hemmt. Aktuelle Daten sprechen dafür, dass die natriuretischen Peptide nicht nur günstige
kardiale Effekte haben, sondern auch zur Stabilisierung des psychischen Befindens
beitragen [17]
[18].
Teil 3
Nach dem Herzkatheter ist Herr M. erleichtert, dass die Schmerzen abgeklungen sind.
Der behandelnde Arzt informiert ihn, dass er leider einen ausgedehnteren Herzinfarkt
erlitten habe. Man habe das Schlimmste verhindern können, aber wahrscheinlich würde
eine Störung der Pumpleistung des Herzens zurückbleiben. Außerdem bestünden noch weitere
„mittelgradige“ Engstellen, die evtl. in Zukunft behandelt werden müssten.Wichtig
sei, dass Herr M. in Zukunft regelmäßig mehrere Medikamente einnehme und seine Risikofaktoren
in den Griff bekomme. Er müsse sofort mit dem Rauchen aufhören, sich gesund ernähren,
regelmäßig Sport treiben und Stress vermeiden.
In dem 5-minütigen Gespräch ist weder für Nachfragen Zeit, noch besteht eine Gelegenheit,
über die mit dem Infarktereignis verbundenen Gefühle zu sprechen, da der Arzt schon
wieder in den Katheterraum muss. Anschließend kreisen die Gedanken in Herrn M.s Kopf.
Was muss er jetzt alles machen? Welche Medikamente muss er jetzt nehmen? Warum sind
die nötig? Haben sie eventuell schädliche Nebenwirkungen? Hoffentlich kann er sie
schnell wieder absetzen. Und wie soll das mit der Ernährung, dem Sport und der Vermeidung
von Stress alles funktionieren? Immerhin hat er verstanden, dass er jetzt wirklich
mit dem Rauchen aufhören muss. Die Behandlung auf der Überwachungsstation ist dafür
eine gute Gelegenheit und unter dem Schrecken des Infarkts beschließt Herr M., keine
Zigarette mehr anzufassen. In den folgenden, jeweils sehr knappen Visiten findet Herr
M. leider auch keine Gelegenheit, seine Verunsicherung und offenen Fragen anzusprechen.
Er stimmt aber zu, im Anschluss an die Behandlung in eine Rehaklinik verlegt zu werden.
Im Abschlussgespräch wird ihm mitgeteilt, dass er Glück gehabt habe, den Infarkt überstanden
zu haben. Leider betrage die Pumpleistung seines Herzens aber nur noch 40% und er
müsse einige Medikamente lebenslang einnehmen. Das irritiert Herrn M., da er doch
seit der Katheterintervention keine Beschwerden mehr hatte.
Psychische Komorbiditäten und ihre Bedeutung für den Krankheitsverlauf
Am besten gesichert ist der ungünstige prognostische Effekt einer Depression nach
akutem Koronarsyndrom [3] sowie bei chronischer KH und Herzinsuffizienz. Vermutlich können depressive Symptome
auch Rezidive von ventrikulären Tachykardien und Vorhofflimmern begünstigen.
Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen sind nach akutem Infarkt ebenfalls
mit beeinträchtigter Prognose assoziiert. Dagegen kann eine moderate Angstsymptomatik
bei stabiler KHK evtl. prognostisch günstige Effekte zu haben, indem sie bspw. zu
verbessertem Gesundheitsverhalten und vermehrter Inanspruchnahme ärztlicher Kontakte
motiviert. Mutmaßlich gibt es bei Angststörungen sowohl ungünstige autonome als auch
teilweise prognostisch günstige Verhaltenseffekte, sodass es von der Schwere und Aktivität
der kardialen Erkrankung und der konkreten Angstsymptomatik abhängt, ob die Prognose
positiv oder negativ beeinflusst wird.
Psychische Belastungen und Komorbiditäten wirken sich bei bestehender Herzerkrankung
ungünstig auf Lebensqualität und somatischen Krankheitsverlauf aus.
Neben Morbidität und Mortalität stellt die gesundheitsbezogene Lebensqualität ein
weiteres zentrales Therapieziel bei Patienten mit KHK und anderen Herzerkrankungen
dar [4]. Sie hängt bei Herzpatienten deutlich stärker vom Ausmaß der psychosozialen Belastung
bzw. dem Vorhandensein einer psychischen Komorbidität als von gängigen objektiven
Maßen der kardialen Krankheitsschwere ab. Lediglich der klinische Schweregrad der
Herzerkrankung, etwa die NYHA-Klasse der Herzinsuffizienz, hängt ähnlich eng mit der
Lebensqualität zusammen wie Angst oder Depressivität. Zur Verbesserung der Lebensqualität
müssen daher primär die klinischen Manifestationen der Herzerkrankung (Luftnot, Angina
pectoris usw.) sowie das psychische Befinden gebessert werden, während von Maßnahmen,
die lediglich auf kardiale Surrogatparameter oder Labor-Biomarker abzielen, allenfalls
sehr geringe Effekte auf die Lebensqualität zu erwarten sind.
Teil 4
In der Rehaklinik bemerkt Herr M., dass er noch deutlich geschwächt ist. Beim Ergometertraining
bleibt seine Leistung hinter derjenigen einiger deutlich älterer Mitpatienten zurück,
was ihn beschämt. „Da fühle ich mich doch wie ein alter Mann“. Wie soll er so im Beruf
weiter seinen Mann stehen? Zum Glück hat er ja seinen Arbeitsplatz noch nicht verloren,
aber wahrscheinlich nur, weil er sich immer als besonders zuverlässig und leistungswillig
gezeigt hat. Wenn er jetzt wochenlang ausfällt und hinterher nicht mehr so kann wie
bisher, könnte es doch noch Probleme mit dem Job geben.
Die medizinischen Informationsgespräche mit einem nur gebrochen Deutsch sprechenden
Arzt kann Herr M. nur ansatzweise für sich nutzen. Vieles versteht er einfach noch
nicht. Was bedeuten 40% Pumpleistung für seinen Alltag? Das scheint ziemlich wenig
zu sein. Und wofür genau die einzelnen Medikamente nötig sind, kann er sich nicht
merken. Zudem erfährt er von den Mitpatienten, dass die Medikamente Muskelschmerzen,
Potenzprobleme und andere unangenehme Nebenwirkungen auslösen können. Ob die auch
bei ihm auftreten werden? Wie kann er zukünftig wohl beim Sex noch seinen Mann stehen?
Schon vor dem Infarkt war die Erektion schwächer geworden.Was sagt die Partnerin dazu,
wenn es gar nicht mehr „klappt“? Sie hatte ihn im Krankenhaus besucht und ihm Mut
gemacht – „das stehen wir gemeinsam durch“. Aber ob sie ihn als „Schlappschwanz“ noch
haben will?
Zum Glück gibt es in der Rehaklinik 2 Psychologinnen. Ob man sich da melden darf?
Und ob es nicht peinlich ist, als Mann im besten Alter über Ängste und Potenzprobleme
mit einer jungen Frau zu reden? In den Patientenschulungen und im Stressbewältigungskurs
machen die Psychologinnen einen netten Eindruck, aber bei so vielen Patienten haben
sie sicher nicht für jeden Einzelnen Zeit.
Herr M. ist überrascht, aber auch etwas nervös, als er 3 Tage vor der Entlassung erfährt,
dass die Psychologin Frau B. ihn gern am nächsten Tag zum Gespräch sehen möchte. Was
soll er nur mit ihr besprechen? Er würde gern einige seiner offenen Fragen stellen,
möchte aber nicht als Versager oder gar als verrückt dastehen.
Als die Psychologin das Gespräch mit den Worten „Wie geht es Ihnen?“ eröffnet, bricht
Herr M. in Tränen aus. Das ist ihm seit der Zeit kurz nach Trennung von seiner Frau
nicht mehr passiert. Wann hat ihn zuletzt jemand gefragt, wie es ihm geht? Und wie
geht es ihm eigentlich? Irgendwie tut es gut, dass für die Tränen plötzlich ein Platz
da ist. Der Psychologin ist sein Weinen offenbar nicht unangenehm. „Sie haben sicher
in letzter Zeit einiges mitgemacht“, sagt sie.Herr M. nickt. „Es tut mir leid, dass
ich mir bisher noch keine Zeit für Sie nehmen konnte. Mir war aufgefallen, dass Sie
in den Gruppenterminen immer sehr zurückhaltend waren. Und der Fragebogen, den Sie
bei der Aufnahme ausgefüllt hatten, zeigt, dass Sie offenbar seelisch sehr belastet
sind“. Herr M. nickt wieder.
Im Gespräch gelingt es ihm dann, einige seine Ängste und Selbstzweifel anzusprechen.
Auch das tut gut. Aber leider ist das Gespräch nach 20 Min vorbei. Als die Psychologin
bedauert, dass sie leider bis zu seiner Entlassung keinen weiteren Termin frei habe,
ist Herr M. enttäuscht. Es würde wohl guttun, mit ihr noch mehr Gespräche zu führen.
So bleibt nur ihre Empfehlung, sich mit Unterstützung durch den Hausarzt um einen
Platz für ambulante psychotherapeutische Gespräche zu bemühen.
Aus der Reha wird Herr M. entlassen als vollschichtig arbeitsfähig für leichtere bis
mittelschwere Tätigkeiten und mit der Empfehlung, an einem Reha-Nachsorgeprogramm
teilzunehmen.
Diagnostik psychosozialer Belastungen und Komorbiditäten bei Herzpatienten
Diagnostik psychosozialer Belastungen und Komorbiditäten bei Herzpatienten
Allgemeine Vorgehensweise
Grundsätzlich wird die Diagnose einer psychischen Komorbidität bei Herzpatienten ebenso
gestellt wie bei jedem anderen Patienten, d. h. in der Regel auf der Basis eines klinischen
Interviews. Hierbei ist aber auf die Überlappung von möglichen Symptomen psychischer
und kardialer Erkrankungen zu achten, die gegebenenfalls zu Fehleinschätzungen führen
kann.
Auf Überlappungen psychischer und kardialer Symptome ist zu achten: So werden gelegentlich
supraventrikuläre Tachykardien mit begleitender Angstsymptomatik irrtümlich als primäre
Panikstörung gedeutet, wie auch Sinustachykardien im Rahmen von Panikattacken gelegentlich
mit Herzrhythmusstörungen verwechselt werden. Eine genaue Exploration ist auch bei
Brustschmerzen, allgemeiner Leistungsminderung, Schlaf- oder Appetitstörungen erforderlich,
die Symptome sowohl der kardialen als auch einer psychischen oder funktionellen Erkrankung
sein können. Zudem kann z. B. psychischer Stress sowohl zu unspezifischen Thoraxschmerzen
als auch zur Auslösung „echter“ Angina pectoris führen.
Oft übersehen wird die Diagnose F54 nach ICD-10 („psychische und Verhaltensfaktoren
bei andernorts klassifizierten Erkrankungen“). Sie ist in den häufigen Fällen zu codieren,
in denen Entstehung und Verlauf einer Herzerkrankung sowie resultierende Beschwerden
oder Entgleisungen von Risikofaktoren wie Hypertonie oder Diabetes offensichtlich
auf psychische und Verhaltensfaktoren zurückgeführt geführt werden können.
Wichtig ist es, auch auf krankheitsreaktive psychische Störungen wie Anpassungsstörungen,
sekundäre Somatisierung und posttraumatische Symptome bis hin zu posttraumatischen
Belastungsstörungen zu achten.
Neben der Störungsdiagnostik wird die Exploration des subjektiven Krankheitserlebens
und ein routinemäßiges Screening auf psychosoziale Risikofaktoren schon im kardiologischen
Setting empfohlen [5]. Hierfür eignen sich Screeningfragen in der Anamnese und validierte Selbstbeurteilungsfragebögen
für z. B. Depressivität oder Angst, zu denen in den Leitlinien konkrete Empfehlungen
gegeben werden [2]
[4].
Umgekehrt sollte auch im Rahmen einer psychotherapeutischen Eingangsdiagnostik die
reale Ebene der kardialen Erkrankung sowie das Vorhandensein von Risikofaktoren, die
psychoökonomische Funktion von Risikoverhaltensweisen und die Bereitschaft zur Lebensstiländerung
exploriert und bei der Generierung von psychodynamischen Hypothesen oder Verhaltensanalysen
angemessen berücksichtigt werden.
Bei der Diagnostik sind sowohl die krankheitsreaktiven Auswirkungen auf die Psyche,
als auch die psychischen Einflussfaktoren auf die somatische Ebene zu berücksichtigen.
Zum Nachweis eines Zusammenhangs zwischen psychischen Belastungen und Herz-Kreislauf-Regulationsstörungen
ist es z. B. hilfreich, Patienten während der Registrierung einer 24-Stunden-EKG-
oder Blutdruckmessung ein genaues Protokoll führen zu lassen, in dem neben körperlichen
Aktivitäten auch interpersonelle Ereignisse und emotionale Auslenkungen notiert werden.
Unter Laborbedingungen sind darüber hinaus psychophysiologische Untersuchungen mit
standardisierten Stresstests oder Entspannungsübungen und gleichzeitiger Registrierung
unterschiedlicher Herz-Kreislauf-Parameter verfügbar.
Teil 5
Der Hausarzt ist nach der dramatischen Infarktsituation erleichtert, Herrn M. am Tag
nach der Entlassung aus der Reha in äußerlich guter Verfassung wiederzusehen. Allerdings
ist das Wartezimmer sehr voll und neben der Rezeptausstellung bleibt nur wenig Zeit
für ein Gespräch. Insbesondere beschäftigt Herrn M., wie er denn in der kommenden
Woche wieder arbeiten gehen soll. Das kann er sich noch überhaupt nicht vorstellen.
Er fühlt sich noch immer geschwächt und befürchtet, durch den Stress bei der Arbeit
und die anstrengende Tätigkeit erneut einen Herzinfarkt zu bekommen. Der Hausarzt
stellt ihm daher eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für 2 Wochen aus und vereinbart
einen Termin zur weiteren Besprechung für die kommende Woche.
Im nächsten Termin geht es zunächst noch einmal darum, warum Herr M. welche Medikamente
nehmen muss. So kann Herr M. ihren Nutzen etwas besser verstehen, aber er äußert auch
Sorgen vor den Nebenwirkungen, auf die der Hausarzt ausgiebig eingeht. Da bislang
keine wesentlichen Nebenwirkungen aufgetreten sind, stimmt Herr M. zu, sie vorerst
weiter zu nehmen und sich bei eventuellen Nebenwirkungen zu melden.
Dann geht es um das Gesundheitsverhalten. Herr M. ist stolz darauf, dass er bislang
noch nicht wieder mit dem Rauchen angefangen hat, sorgt sich aber, ob es mit dem Nichtrauchen
auch klappt, wenn er wieder täglich den Stress bei der Arbeit ertragen muss. Noch
schwerer fällt es ihm, sich vorzustellen, wie er seine Ernährung umstellen kann. Zeit,
sich etwas Gesundes zu kochen, hat er neben der Arbeit nicht – und er hat es auch
nie gelernt. Was kann er sich beim Sport zutrauen? Leider wird vor Ort keine intensivierte
Rehanachsorge angeboten. In der Reha durfte er sich zuletzt mit 100 W belasten – aber
was bedeutet das im Alltag? Und ist es nicht gefährlich, wenn kein Arzt in der Nähe
ist? Da waren doch noch mehr Engstellen an den Kranzgefäßen.
Das Gespräch über die Psychotherapie findet hinter all diesen drängenden Themen keinen
Platz. Dazu kommt es erst 3 Wochen später, als Herr M. die AU-Bescheinigung zum 2.Mal
verlängert bekommen möchte und der Hausarzt nachfragt, warum Herr M. sich denn immer
noch nicht zutraue, zur Arbeit zu gehen. Die Krankenkasse hat sich bei ihm gemeldet,
dass sie aufgrund des Rehaberichts eine weitere Krankschreibung nicht akzeptiere.
Auf genaues Nachfragen berichtet Herr M. dem Hausarzt, er habe gar keine Energie,
schlafe nachts schlecht, grübele und komme morgens schlecht aus dem Bett. Die Stimmung
sei gedrückt, er könne sich zu vielem, etwa zu körperlichen Aktivitäten, nicht aufraffen,
hänge die Tage über vor dem Fernseher oder PC, gehe kaum aus dem Haus und habe sich
auch noch nicht wieder getraut, mit seiner Partnerin zu schlafen – aus Angst zu „versagen“
oder seinem Herzen zu schaden. Das Herz stolpere manchmal und das erschrecke ihn jedes
Mal. Die Psychologin in der Reha habe zu einer Psychotherapie geraten. Der Hausarzt
begrüßt diesen Vorschlag und nennt Herrn M. einige Namen von Therapeuten, bei denen
er sich wegen eines Therapieplatzes melden solle. Zur Überbrückung verordnet er Sertralin,
da Herr M. vermutlich eine Depression habe.
Behandlung und Prävention
Behandlung und Prävention
Psychosomatische Ansätze
Die meisten Herzpatienten werden zunächst von Hausärzten, Kardiologen oder Rehamedizinern
behandelt. In diesem Rahmen spielt sowohl die psychosomatische Grundversorgung als
auch eine Mitbehandlung durch ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten im Rahmen
von Konsiliar-und Liaisonmodellen eine große Rolle [5].
Wichtig ist bei jedem Fall eine möglichst widerspruchsfreie abgestimmte Kommunikation
der unterschiedlichen Behandler mit dem Patienten.
Sofern keine regelmäßige Präsenz eines psychotherapeutischen Teammitglieds gewährleistet
werden kann, ist entscheidend, dass die somatisch behandelnden Ärzte eine psychosoziale
Problematik oder psychische Komorbidität orientierend erfassen, im Verlauf im Blick
behalten und gegebenenfalls eine zusätzliche psychosomatischpsychotherapeutische Mitbehandlung
veranlassen.
Mit patientenzentrierter Kommunikation und psychosomatischer Grundversorgung können
viele Patienten mit unspezifischen psychosozialen Risikofaktoren oder leichteren psychischen
Störungen auf der Basis einer tragfähigen Arzt-Patient-Beziehung auch innerhalb der
allgemeinmedizinischen oder kardiologischen Routine erfolgreich behandelt werden.
Beziehungskonstanz mit den Behandlern ist wesentlich – sowohl zur oft schwierigen
Umsetzung von Verhaltensänderungen im Alltag als auch bei der Bewältigung chronischer
Herzerkrankungen.
Für die konstante Arzt-Patient-Beziehung sind quartalsweise Arztkontakte mit begrenzter
Gesprächsdauer oft ungenügend. Bei Bestehen einer psychischen Komorbidität oder einer
ausgeprägten psychischen und Verhaltenskomponente der Herzkrankheit ist daher häufig
eine zusätzliche ambulante Psychotherapie indiziert.
Psychosoziale Interventionen einschließlich spezifischer psychotherapeutischer Behandlungen
erreichen allerdings in Studien an Herzpatienten deutlich geringere Effektstärken
als in Psychotherapiestudien an Herzgesunden. Ob sie in der Lage sind, auch den Verlauf
der Herzerkrankung günstig zu beeinflussen, ist ungeklärt.
Im Rahmen der kardiologischen Rehabilitation werden an psychologischen Interventionen
u. a. Stressbewältigungstrainings, Patientenschulungen zur Risikofaktorkontrolle und
psychologische Einzelgespräche angeboten. Ältere Metaanalysen legen nahe, dass diese
Interventionen sich nicht nur auf das Befinden, sondern möglicherweise auch auf den
Krankheitsverlauf günstig auswirken. Allerdings sind die eingesetzten Interventionen
sehr heterogen. Inwieweit sie auch neben unspezifischen Rehaeffekten und körperlichem
Training zusätzliche Effekte haben, wird gegenwärtig untersucht.
Aktuelle Studienlage
Spezifische Psychotherapien
Hinsichtlich spezifischer Psychotherapien in der Depressionsbehandlung bei KHK-Patienten
erbrachte in der CREATE-Studie eine 3-monatige interpersonelle Psychotherapie im Vergleich
zu einer unspezifischen wöchentlichen Gesprächsintervention (vergleichbar einer psychosomatischen
Grundversorgung) keinen Vorteil [19]. Eine kognitive Verhaltenstherapie gegen Depression oder niedrige soziale Unterstützung
zeigte in der ENRICHD-Studie nur einen sehr kleinen Therapieeffekt auf depressive
Symptome [20]. Auch für eine gestufte kombiniert psychodynamisch-kognitiv-verhaltenstherapeutische
Intervention konnte an depressiven KHK-Patienten in der SPIRR‑CAD-Studie kein eindeutiger
Effekt und nur in der Untergruppe mit Typ-D-Persönlichkeit ein positiver Trend gefunden
werden [21]. Kleine positive Effekte bei depressiven Patienten mit Herzinsuffizienz werden in
einer aktuellen Metaanalyse [22] für kognitive Verhaltenstherapie beschrieben, die auch in der ESC-Herzinsuffizienz-Leitlinie
[6] empfohlen wird. Die aktuelle deutsche Depressionsleitlinie empfiehlt auch für depressive
KHK-Patienten eine Psychotherapie [23]. Die Datenbasis ist aber bis heute unbefriedigend.
Antidepressive Pharmakotherapie
Auch für antidepressive medikamentöse Behandlungen bei Herzpatienten sind die Befunde
uneindeutig: Während es für Koronarpatienten mit wenigstens mittelgradiger, insbesondere
rezidivierender Depression Hinweise auf eine antidepressive Wirksamkeit von Sertralin
(SADHART; [24]), Citalopram (CREATE; [19]) und Escitalopram (EsDEPACS; [25]) gibt, zeigten sich sowohl Sertralin (SADHART‑CHF; [26]) als auch Escitalopram (MOOD‑HF; [27]) bei Patienten mit Herzinsuffizienz einer Placebomedikation weder hinsichtlich des
Depressionsverlaufs noch hinsichtlich der medizinischen Krankheitsendpunkte überlegen.
Eine aktuelle Langzeit-Follow-up-Untersuchung der monozentrischen koreanischen EsDEPACS-Studie
[28] zeigt als erster RCT an Koronarpatienten einen möglichen prognostischen Nutzen einer
antidepressiven Medikation mit Escitalopram und keine ungünstigen kardialen Nebenwirkungen.
Höhere Dosierungen von Citalopram sollten bei Herzpatienten aufgrund der Gefahr von
QTc-Verlängerungen im EKG und damit verbundenem erhöhten Arrhythmierisiko allenfalls
unter sorgfältiger Kontrolle eingesetzt werden.
Teil 6
Die Therapieplatzsuche gestaltet sich schwierig. Oft spricht Herr M. vergeblich auf
Anrufbeantworter, was ihn zunehmend entmutigt. Nach mehreren Wochen bekommt er einen
Erstgesprächstermin bei einem psychologischen Psychotherapeuten. Der Therapeut ist
freundlich und bestätigt Herrn M., dass er an einer Depression leide. Er vermittelt
ihm Verständnis für seine schwierige Lage, wirkt aber bezüglich der ernsten Herzerkrankung
unsicher und kann einige Fragen zu medizinischen Themen nicht beantworten. Das irritiert
Herrn M. und so nimmt er den vereinbarten 2. Termin nicht wahr. Auch das Sertralin
hat er zwischenzeitlich wegen Magen-Darm-Beschwerden wieder abgesetzt.
Auf das Drängen des Hausarztes hatte er seine Arbeit 8 Wochen nach dem Infarkt wieder
aufgenommen. Er macht sich erneut auf die Suche nach einem Psychotherapieplatz. Im
Erstgespräch mit einem psychosomatischen Facharzt fühlt er sich auch mit seiner Herzkrankheit
gut aufgehoben. Leider stellt ihm der Therapeut eine reguläre Therapie erst für in
5 Monaten in Aussicht. Einige Wochen später erleidet er auf dem Weg zur Arbeit eine
Attacke mit Herzklopfen, Schmerzen in der Herzgegend, Schweißausbruch und Kurzatmigkeit
sowie starkem Angstgefühl, weshalb er diesmal umgehend die Notaufnahme aufsucht. Dort
wird ein erneuter Herzinfarkt ausgeschlossen und Herr M. ohne Befund und mit der Empfehlung
entlassen, sich ambulant beim Kardiologen vorzustellen.
Ein Termin dort nach einigen Wochen zeigt weiterhin eine mäßig eingeschränkte Pumpfunktion,
aber keinen klaren Hinweis auf Durchblutungsstörungen. Der Kardiologe rät Herrn M.
dazu, die von der Klinik verordnete Medikation fortzuführen, bei noch nicht optimal
eingestelltem Blutdruck lediglich die Dosierung anzupassen und sich einer ambulanten
Herzsportgruppe anzuschließen. Eine erneute Katheteruntersuchung hält er nicht für
erforderlich. Als Herr M. seine Ängste wegen der verbliebenen Engstellen an den Kranzgefäßen
anspricht, erfährt er nur, das sei im Grunde kein Problem, aber völlige Sicherheit
gebe es natürlich nie.
In den folgenden Wochen treten noch mehrmals Anfälle mit „Herzbeschwerden“ auf, wobei
sich jeweils kein Infarkt nachweisen lässt. Herr M. ist mittlerweile schon wieder
seit mehreren Wochen arbeitsunfähig. Bei der 4. Vorstellung auf der Notaufnahme wird
dann „sicherheitshalber“ doch noch einmal ein Herzkatheter durchgeführt und ein Stent
in eine der verbliebenen Engstellen eingebracht.
Dennoch kommt es weiterhin zu ähnlichen, teilweise weniger stark ausgeprägten Attacken
mit herzbezogenen Beschwerden (insbesondere in öffentlichen Situationen) und zunehmendem
Vermeidungsverhalten. Beim 5. Besuch auf der Notaufnahme wird der psychosomatische
Konsiliararzt hinzugezogen, der die Übernahme auf die internistisch-psychosomatische
Station veranlasst. Der Infarkt ist mittlerweile 8 Monate her.
Unter selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern muss bei Patienten mit Einnahme von
Thrombozyten-Aggregationshemmern oder Antikoagulanzien generell mit einem erhöhten,
vorwiegend gastrointestinalen Blutungsrisiko sowie mit Adhärenzproblemen aufgrund
unerwünschter Nebenwirkungen wie Magen-Darm-Beschwerden, sexuellen Funktionsstörungen
usw. gerechnet werden.
Vom Einsatz trizyklischer Antidepressiva bei Herzpatienten wird wegen des ungünstigen
Nebenwirkungsprofils in aller Regel abgeraten [4]
[5].
Psychokardiale Behandlungsverfahren
Für Patienten mit ausgeprägter Interaktion psychosozialer Risikofaktoren mit der kardialen
Erkrankung oder gravierenden psychischen oder sozialen Folgeproblemen haben sich in
einigen Akut- und Rehabilitationskliniken multimodale psychokardiologische Behandlungsangebote
entwickelt. Dort können Patienten zugleich eine kardiologische Behandlung, Psychotherapie,
Sozialberatung und weitere komplementäre Behandlungsverfahren angeboten werden – Angebote,
die deutlich über das Ausmaß an psychologischer Unterstützung im Rahmen konventioneller
kardiologischer Rehabilitation hinausgehen und eine deutlich höhere und vielfältigere
Therapiedosis pro Zeiteinheit anbieten können als eine Richtlinien-Psychotherapie.
Erste unkontrollierte Studien deuten auf gute Wirksamkeit dieser Angebote hin. Eigene
Erfahrungen zeigen, dass insbesondere das abgestimmte Miteinander kardiologischer
und psychotherapeutischer Behandlung sowie körpertherapeutische Elemente, die den
Patienten wieder ein Vertrauen in den kranken Körper vermitteln können, von den Patienten
als sehr hilfreich erlebt werden [29]. Auch eine antidepressive Medikation kann ggf. unter engmaschiger Überwachung eindosiert
werden.
In der Phase der chronischen KHK ist eine längerfristige und regelmäßige Begleitung
im Umgang mit verhaltensabhängigen Risikofaktoren – und ggf. eine ambulante Psychotherapie
– erforderlich. Hier ist es wichtig, in guter sein Statin aus Angst vor Nebenwirkungen
„nur gelegentlich“ einzunehmen. In der 24-Stunden-Blutdruckmessung zeigen sich insbesondere
in emotional belastenden Situationen noch erhöhte Werte bis 170/95 mmHg. Die 24-Stunden-Mittelwerte
sind dagegen mit 138/85 mmHg nur leicht erhöht, die Nachtabsenkung regelrecht mit
einigen erhöhten Werten während Wachphasen mit intensivem Grübeln.
Teil 7
Auf der Station wirkt Herr M. antriebsgemindert, depressiv herabgestimmt und zeigt
ein deutliches Sicherheits- und Vermeidungsverhalten. Im Kontakt schwankt er zwischen
Klagsamkeit und übertriebener Selbstdarstellung in der Patientengruppe mit angepasstem
Verhalten gegenüber dem Einzeltherapeuten und latent feindseliger, teilweise abwertender
Haltung gegenüber dem Pflegeteam und der Kunsttherapeutin.
Es wird eine mutmaßlich rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige
Episode (ICD-10 F33.1) sowie eine sekundäre Herzangststörung (hier nach ICD-10 eine
Agoraphobie mit Panikstörung F40.01) sowie psychische und Verhaltensfaktoren (F54)
bei arterieller Hypertonie und koronarer Herzkrankheit diagnostiziert.
In der biografischen Anamnese fällt der frühe Tod der als weich und liebevoll geschilderten
Mutter an einer Brustkrebserkrankung im 11. Lebensjahr des Patienten und ein Herzinfarkt
des als leistungsorientiert und teilweise cholerisch geschilderten Vaters im Alter
von 50 Jahren auf. Der Vater habe sich aber nicht unterkriegen lassen und weiter gearbeitet,
bis er mit Ende 50 an einem 2. Infarkt verstarb. Nach dem Tod des Vaters habe es mit
dem 3 Jahre jüngeren Bruder eine heftige Auseinandersetzung um das Erbe gegeben, woraufhin
Herr M. den Kontakt abbrach. Nach Hauptschulabschluss hatte Herr M. eine Bäckerlehre
absolviert, den Beruf jedoch bald wegen einer Allergie nicht mehr ausüben können.
Daher habe er mit 25 Jahren in der Fabrik angefangen, in der er noch immer beschäftigt
sei, viele Jahre davon auch im Schichtdienst sowie seit Jahren in ständiger Sorge
um den Arbeitsplatz und mit starker Konkurrenz unter den Kollegen.
Mit 26 Jahren lernte er seine erste Frau, eine attraktive Friseurin, kennen. Er selbst
sei damals auch sportlich und auf gutes Aussehen bedacht gewesen. Mit der Frau bekam
er 2 Kinder. Er habe gar nicht bemerkt, dass es in der Ehe Probleme gegeben habe und
sei von der Trennung der Frau vor 6½ Jahren völlig überrascht gewesen. Er habe eine
ganze Weile gebraucht, um über die Trennung hinwegzukommen. Mittlerweile sei nach
langen Auseinandersetzungen die Scheidung erfolgt. Kurz vor dem Infarkt habe noch
einmal eine Gerichtsverhandlung stattgefunden, die ihn sehr aufgewühlt habe. Jetzt
sei alles einigermaßen geregelt und den 18-jährigen Sohn begleite er gelegentlich
zum Fußball, aber er leide nach wie vor daran, mit der 15-jährigen Tochter nur wenig
Kontakt zu haben.
Weiterhin unterhalten er und die neue Partnerin getrennte Wohnungen, auch wenn sie
nach dem Infarkt überlegt haben, evtl. zusammenzuziehen, zumal die 16-jährige Tochter
der Partnerin demnächst zu einer Ausbildung in ein auswärtiges Wohnheim ziehen wird.
Die Beziehung hat sich seit dem Infarkt vertieft, aber Herr M. sorgt sich, der Partnerin
zur Last zu fallen. Zudem habe er sich seit dem Infarkt noch immer nicht getraut,
wieder mit der Partnerin sexuell intim zu werden.
Somatisch findet sich im Labor ein noch zu hoher LDL-Cholesterin-Spiegel. Auf die
Medikation angesprochen räumt Herr M. ein,
Das angebotene Antidepressivum lehnt Herr M. zunächst aufgrund seiner negativen Vorerfahrungen
pauschal ab. Im Verlauf stimmt er einer niedrig dosierten Mirtazapin-Medikation zur
Verbesserung des Nachtschlafs zu und kann hiervon subjektiv profitieren. Die indizierten
Labor- und EKG-Kontrollen tragen zu seiner Beruhigung bezüglich des Medikaments bei.
Unter Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Körper- und Trainingstherapie, Kunsttherapie,
psychoedukativen Gruppen sowie regelmäßigen Entspannungsübungen und Anpassung der
Blutdruckmedikation gelingt es Herrn M. allmählich, sich auf das therapeutische Angebot
einzulassen. Er unternimmt zunächst in Begleitung, dann zunehmend allein Spaziergänge,
geht wieder einkaufen und fühlt sich unter der Trainingstherapie allmählich wieder
etwas leistungsfähiger. Der Schlaf bessert sich ebenso wie Stimmung und Antrieb. In
einem Paargespräch wird das Thema der bisher vermiedenen Sexualität und die Frage
einer eventuellen gemeinsamen Wohnung thematisiert. Dabei wird deutlich, dass beide
Partner sehr vorsichtig miteinander umgehen. Sie werden ermutigt, Pläne für gemeinsame,
z. B. sportliche, Aktivitäten zu entwickeln.
In einem Gespräch mit der Sozialarbeiterin werden erste Lösungsideen für die berufliche
Situation entwickelt. Herr M. will nach Entlassung eine Wiedereingliederung nutzen,
ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten führen und ihn um Versetzung in einen körperlich
weniger belastenden Bereich der Firma bitten, nachdem ihm bedeutet wurde, dass aktuell
wegen der guten Auftragslage keine Entlassungen geplant würden.
Panikattacken treten auf der Station und auch während der Expositionsübungen nicht
auf, leichtere Angstzustände kann er mit Unterstützung des Pflegeteams zunehmend besser
bewältigen.
Bei Entlassung hat sich die psychische Symptomatik deutlich gebessert. Herr M. hat
nach mehreren ausführlichen ärztlichen Gesprächen über die Herzkrankheit besser verstanden,
dass ein Großteil der Verantwortung für den weiteren Krankheitsverlauf bei ihm liegt
und er kann diese Verantwortung immer besser annehmen. Er hat sich nach den positiven
Erfahrungen in der Körper- und Trainingstherapie für eine Herzsportgruppe angemeldet
und den niedergelassenen Psychosomatiker um einen möglichst frühen Termin für den
Therapiebeginn gebeten. Seine Medikamente nimmt er nun regelmäßig, was sich bereits
im LDL-Cholesterin-Spiegel zeigt. Zudem ist es ihm weiterhin gelungen, nicht zu rauchen.
Trotz dieses guten therapeutischen Ergebnisses bleibt offen, ob es ihm gelingt, seine
Vorsätze im Alltag langfristig umzusetzen.
Abstimmung zwischen Hausarzt, Kardiologen und ggf. Psychotherapeut die Patienten in
ihrer Eigenverantwortung zu stärken und wo nötig zu unterstützen.
Im langfristigen Verlauf kann eine abgestimmte Behandlung dazu beitragen, den oft
unvermeidlichen Progress der Erkrankung mit hohem Risiko für die Zunahme der Veränderungen
an den Herzkranzgefäßen, Ausbildung einer ausgeprägteren Herzinsuffizienz oder Auftreten
behandlungsbedürftiger Herzrhythmusstörungen frühzeitig zu erkennen und mit dem Patienten
adäquat darauf zu reagieren. Auch wenn im Einzelfall ein prognostischer Nutzen dieser
Maßnahmen nicht eindeutig feststeht, kann eine koordinierte Behandlung maßgeblich
zum Erhalt der Lebensqualität beitragen.
Die empfehlenswerte engmaschige Begleitung zwischen Hausarzt, Kardiologen und ggf.
Psychotherapeut scheitert leider oft an Kapazitätsproblemen im Gesundheitssystem.
Relativ gute Belege gibt es für das in den USA ursprünglich für Patienten mit psychischen
Störungen entwickelte und teilweise bereits etablierte alternative Modell der „Collaborative
Care“ [30]. Hierbei werden Pflegekräfte als Behandlungsassistentinnen eingesetzt, die einen
regelmäßigen Kontakt mit den Patienten pflegen und mit ihnen Behandlungsziele und
konkrete Schritte vereinbaren wie die Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen, kurze
psychotherapeutische Interventionen oder die Anpassung und regelmäßige Einnahme antidepressiver
Medikamente. Die Behandlungsassistentin steht unter regelmäßiger Supervision durch
ein medizinisch-psychotherapeutisches Expertenteam, dessen Empfehlungen sie den Patienten
und ihren behandelnden Ärzten übermittelt.
Mehrere US-Studien konnten zeigen, dass damit auch bei Herzpatienten eine relevante
Besserung depressiver Symptome zu erreichen ist, wobei vermutlich mehr die persönliche
Betreuung als die Veränderung der antidepressiven Medikation eine Rolle spielt [31]. Eine der USStudien [32] erweiterte das Modell der Collaborative Care zu einer gleichzeitigen Behandlung
sowohl der Depression als auch des kardiovaskulären Risikoprofils und konnte zeigen,
dass auch einige verhaltensabhängige Risikofaktoren durch eine solche „Blended Collaborative
Care“ bzw. „Team-Care“-Intervention günstig zu beeinflussen waren. In einer großen
Praxis-Implementierungsstudie (COMPASS; [33]) ließen sich diese Ergebnisse unter Routinebedingungen weitgehend reproduzieren.
Aus Deutschland legt eine erste Pilotstudie nahe, dass sich ein solches therapeutisches
Konzept auch hierzulande erfolgreich umsetzen lässt [34]. In der Praxis ist es allerdings bislang leider nicht verfügbar.
Das in den USA etablierte Modell der Blended Collaborative Care scheint auch in Deutschland
umsetzbar zu sein.
Wissenschaftliche Evidenz und klinische Praxis – zwei Welten?
Wissenschaftliche Evidenz und klinische Praxis – zwei Welten?
Das geschilderte Fallbeispiel zeigt einen Ausschnitt aus einem typischen Krankheits-
und Behandlungsverlauf eines Koronarpatienten.
Herr M. weist mit niedrigem sozioökonomischem Status, Stress im Beruf und Familienleben,
Schichtarbeit sowie mangelhafter sozialer Unterstützung und einer mutmaßlichen Depressionsanamnese
mehrere gesicherte psychosoziale Risikofaktoren aus, die zudem einhergehen mit gesundheitsschädlichen
Verhaltensweisen (Rauchen zur Stressregulation, Fehlernährung, Bewegungsmangel) und
physiologischen Folgen (Übergewicht, durch Stress mitbedingte und angesichts mangelnder
Adhärenz insuffizient eingestellte Hypertonie). Die Mischung aus Angst und Verleugnung
führte zu mangelhafter Inanspruchnahme ärztlicher Behandlungen im Vorfeld des Infarkts
wie auch zu verzögertem Hilfesuchverhalten mit beinahe tödlichen Folgen in der Infarktsituation.
Aufgrund der Verzögerung konnte auch ein teilweiser Funktionsverlust des Herzmuskels
nicht mehr verhindert werden. Möglicherweise hätte ein frühzeitigeres proaktives Vorgehen
mit Etablierung eines stabilen Arzt-Patient-Verhältnisses und Begleitung bei den indizierten
Untersuchungen und Verhaltensänderungen bereits im Vorfeld präventiv wirksam werden
können. Retrospektiv lässt sich der Infarkt in Übereinstimmung mit der Literatur zeitlich
mit der emotional belastenden Scheidungsverhandlung in Verbindung bringen.
In der Behandlung nach dem Infarkt offenbaren sich viele typische Bruchstellen, an
denen Best-Practice-Empfehlungen der Leitlinien und Positionspapiere aus verschiedenen
Gründen nicht umgesetzt wurden: In der kardiologischen Akutklinik fand nach adäquater
Akutversorgung unter dem herrschenden Zeitdruck nur eine sehr oberflächliche und wenig
patientenzentrierte Aufklärung statt. Emotionale Themen und Fragen der Alltagskonsequenz
wurden implizit an die Rehaklinik delegiert. Immerhin konnte Herr M. durch den klaren
ärztlichen Ratschlag zur Rauchabstinenz motiviert werden.
Zeitmangel und eine insgesamt wenig patientenzentrierte Aufklärung über Sorgen und
Ängste der Patienten bestimmen häufig den Behandlungsalltag und verzögern eine adäquate
psychosomatisch orientierte Behandlung.
Trotz positiven Fragebogenscreenings erfolgte in der Reha erst kurz vor Entlassung
ein einmaliges kurzes psychologisches Einzelgespräch, sodass die „narzisstische Krise“
(vgl. [35]) mit Verlust der körperlichen Integrität, Schwächeerleben und zunehmendem Zusammenbruch
der Verleugnung nicht mehr ausführlich thematisiert werden konnte. Bei einem Schlüssel
von laut Vorgaben der DRV nur 1,25 Psychologenstellen auf 100 kardiologische Rehabilitanden
erhält die Mehrzahl der Patienten in der 3-wöchigen Reha gar kein Einzelgespräch.
Zum Entlassungszeitpunkt lag bei Herrn M. vermutlich mindestens eine ängstlich-depressive
Anpassungsstörung vor. Hierzu kann evtl. auf biologischer Ebene auch die inflammatorische
Aktivierung der Postinfarktphase und auf psychologischer Ebene neben den vorbestehenden
Belastungen die Erinnerung an die Herzkrankheit und den frühen Herztod des Vaters
mit beigetragen haben.
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Psychische, soziale und Verhaltensfaktoren tragen zur Entstehung von Herz-Kreislauf-Krankheiten
bei und sollten möglichst frühzeitig identifiziert und gemeinsam mit den Betroffenen
angegangen werden.
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An der Auslösung akuter kardialer Ereignisse und der oft verspäteten Inanspruchnahme
ärztlicher Hilfe sind psychische und interpersonelle Faktoren ebenfalls häufig beteiligt.
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Die Herzkrankheit selbst stellt über psychosoziale und biologische Mechanismen einen
erheblichen Stressor dar und führt häufig zu psychischen Folgestörungen, die ihrerseits
Lebensqualität und Prognose verschlechtern.
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Wichtig ist in allen Phasen der Behandlung eine klare, widerspruchsfreie, empathische
und kontinuierliche Kommunikation mit dem Patienten und zwischen den Behandlern sowie
die rechtzeitige Erkennung und Behandlung psychischer Störungen oder maladaptiver
Verhaltensweisen (z. B. Nonadhärenz).
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Sowohl für psychotherapeutische Behandlungen als auch für eine antidepressive Medikation
liegen bei Herzpatienten mit psychischer Komorbidität im Vergleich zu anderen psychisch
kranken Patientengruppen erst wenige und uneindeutige Studienergebnisse vor.
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Bei unzureichender Wirksamkeit einer psychosomatischen Grundversorgung – oft sinnvollerweise
ergänzt durch körperliches Training – basiert die Indikationsstellung spezifischer
Behandlungen auf den Patientenpräferenzen, der Verfügbarkeit konkreter psychotherapeutischer
Angebote und der Nutzen-Risiko- Abwägung antidepressiver Medikamente.
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In schweren Fällen kann eine spezialisierte internistisch-psychosomatische oder psychokardiologische
Reha- oder Krankenhausbehandlung erforderlich werden. Hieran sollten sich weitere
Angebote zur Verstetigung von Behandlungserfolg und Lebensstiländerung anschließen.
Die in der Reha angeregte Psychotherapie verzögerte sich aus diversen, leider alltäglichen
Gründen: Primat der somatischen Behandlung und beruflichen Klärung bei geringen Zeitressourcen
in der Hausarztpraxis, Probleme der ambulanten Psychotherapieplatzsuche (z. B. fehlende
Rückrufe auf Nachrichten auf dem Anrufbeantworter), mangelnde somatische Kenntnisse
des zuerst aufgesuchten Psychotherapeuten, lange Wartezeiten auf einen regulären Psychotherapieplatz,
Antidepressiva-Nebenwirkungen bei insgesamt problematischer Adhärenz. Während der
mehrmonatigen Wartezeit kam es dann zu einer Zunahme der Depression und der herzphobisch
ausgestalteten Angstsymptomatik mit agoraphobischem Auslösungsmuster und ausgeprägter
Somatisierung inkl. wiederholten Vorstellungen auf der Notaufnahme. Der mehrfache
Infarktausschluss und der einmalige Kontakt mit dem niedergelassenen Kardiologen führte
weder zur ausreichenden Angstreduktion noch zur Umsetzung der empfohlenen Verhaltensänderungen.
Im Zuge einer Depression kann der Patient die empfohlenen Lebensstiländerungen nicht
ausreichend umsetzen und hält sich ggf. auch nicht an seine Medikamentenverordnungen
vom Kardiologen.
Erst nach dem 5. Aufenthalt auf der Notaufnahme konnte mit der Einschaltung des psychosomatischen
Konsiliarius und der stationären internistisch-psychosomatischen Behandlung (die leider
nur an ausgewählten Kliniken möglich und auch dort nicht immer so kurzfristig verfügbar
ist) eine Wende eingeleitet werden. Der relativ günstige Behandlungsverlauf konnte
sicher auf die vorangegangenen, insgesamt positiv erlebten Psychologen- bzw. Psychotherapeutenkontakte
aufbauen. Zugleich stellte er aber, wie oft bei Patienten in ähnlicher Situation,
hohe Anforderungen an die interaktionelle Kompetenz des gesamten Stationsteams und
eine enge interdisziplinäre und interprofessionelle Kooperation. Auch mit der erreichten
Verbesserung bleibt zur Festigung und Weiterentwicklung des psychotherapeutischen
Erfolgs, für den Wiedereinstieg in das Berufsleben, die Neugestaltung der partnerschaftlichen
Situation und die Verstetigung sekundärpräventiver Verhaltensweisen ein längerfristiger,
koordinierter Behandlungsbedarf bestehen. Hierfür ist eine regelmäßige Kommunikation
aller Behandler bzw. – bei gegebenen Rahmenbedingungen – ggf. eine „Blended Collaborative
Care“ mit Beachtung sowohl der psychischen als auch der verhaltensabhängigen somatischen
Krankheitsanteile sinnvoll.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Prof. Dr. med. Christoph Herrmann-Lingen, Göttingen.
Erstveröffentlichung
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in: PSYCH up2date 2019; 13: 59–74.